Symbolbild. (Bild Carlos Muza/Unsplash)

Hintergrundbericht

Trä­nen lügen nicht — zur Zukunft der Katho­li­schen Kir­che in der Schweiz

Zah­len sind nicht alles, sind aber doch aus­sa­ge­kräf­tige Indi­ka­to­ren für die zukünf­tige Ent­wick­lung der Kir­che. Im Fol­gen­den wer­den am Bei­spiel des Jah­res­bud­gets 2024 der Kirch­ge­meinde Baden-​Ennetbaden wahr­schein­li­che Sze­na­rien aufgezeigt.

Mit seinem Lied «Tränen lügen nicht» schrieb Michael Holm in den 70er-Jahren einen Hit, der auch heute noch begeistert. Auch in der kirchlichen Landschaft von heute werden Tränen und Emotionen oft für bare Münze genommen, ohne hinterfragt zu werden. Pathetisch vorgetragene Wortmeldungen erzielen eine grosse Breitenwirkung und nehmen in den Medien viel Platz ein. Theologinnen und Theologen, welche leidenschaftlich die katholische Sexuallehre anprangern und sich selbst bemitleidende Bischöfe, die meinen, im Zölibat und der fehlenden Frauenordination gleich die doppelten Schuldigen für den Mangel an Priestern und Gläubigen ausgemacht zu haben, sind gern gesehene Akteure in den Medien. Persönlich nähere ich mich lieber der Wahrheit, indem ich auf Zahlen zurückgreife. Selbstverständlich birgt auch diese Herangehensweise ihre Tücken, doch als Basis für eine objektive Diskussion scheint sie mir sinnvoller als ein emotional aufgeladener Schlagabtausch.

Um dies an zwei Beispielen zu illustrieren: Wenn behauptet wird, das Zweite Vatikanum habe den Niedergang der Kirche befördert, kann nüchtern die Entwicklung der weltweiten Katholikenzahl ins Feld geführt werden. Seit 1970 hat sie sich von 650 Millionen auf rund 1.4 Milliarden mehr als verdoppelt. Natürlich darf jeder Kritiker des Zweiten Vatikanums weiterhin Argumente vorbringen, welche diese Verdoppelung relativieren. Hier wäre beispielsweise der insgesamte Anstieg der Weltbevölkerung anzuführen oder die Tatsache, dass viele Taufkatholiken nicht praktizierend sind. Die Befürworter des Zweiten Vatikanums würden mit Gegenargumenten kontern. Die ganze Diskussion wäre jedoch aufgrund einer zahlenbasierten Faktenlage weniger emotional und dramatisierend, als sie heute oft geführt wird. Das Ende der Katholischen Kirche lässt jedoch bei fast 1,5 Milliarden Gläubigen wohl noch einige Zeit auf sich warten, auch wenn in gewissen Weltgegenden eine deutliche Erosion zu beobachten ist.

Ein weiteres Beispiel ist die These, wonach steigender Wohlstand mit einer zunehmenden Säkularisierung einhergeht. Untermauert wird diese Behauptung meist mit einem internationalen Ländervergleich, bei dem ärmere Länder eine höhere Partizipation am religiösen Leben aufweisen als reichere. Stimmte diese These, müsste sich diese Korrelation auch innerhalb der einzelnen Länder zeigen. Die in Deutschland durchgeführten Sinus-Milieus-Studien zeigen jedoch, dass es vor allem die gutbürgerliche Schicht ist, welche noch zur Kirche hält, währenddem die Arbeiterschicht und andere Gruppen, die nicht zu den Privilegierten gehören, eher kirchenfern sind. Die Verhältnisse in der «Kirche Schweiz» sind mit jenen in Deutschland durchaus vergleichbar. Zu postulieren, höhere Einkommen führten automatisch zu einem tieferen Interesse an Religion, entbehrt jedenfalls einer wissenschaftlichen Grundlage.

Grosse Trends wie die Säkularisierung oder ein Wiedererblühen des Religiösen prognostizieren zu wollen, ist problematisch. Auch wenn man mithilfe von Fakten und Zahlen gewisse Scheinwahrheiten entlarven kann, ist es darüber hinaus höchst anspruchsvoll, Aussagen zu machen, die über gut begründete Vermutungen hinausgehen. Anders verhält es sich auf der Mikroebene des Kirchenlebens. Wenn man das kirchliche Geschehen in Pfarreien und Kirchgemeinden quantifiziert, lassen sich daraus Schlüsse von grosser Aussagekraft ziehen. In jedem Fall, ob nun im Grossen oder im Kleinen, sind auf Zahlen basierte Argumente stichhaltiger als gefühlsbeladene und einzig auf subjektiver Wahrnehmung fussende Urteile.

Kirchgemeinde Baden-Ennetbaden
Im Folgenden soll eine solche Analyse am Beispiel der Kirchgemeinde Baden-Ennetbaden vorgenommen werden. Diese Kirchgemeinde ist eine der grössten im Kanton Aargau und der frühere Wirkungsort des jetzigen Weihbischofs Josef Stübi. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass diese Kirchgemeinde nicht repräsentativ für andere Kirchgemeinden sein sollte. Die für diese Untersuchung verwendeten Daten wurden aus der Rechnung und dem Budget der Kirchgemeinde entnommen, welche online abrufbar sind[1], aus dem Datenportal des Kantons Aargau[2] und dem Pfarrblatt Horizonte[3]. Der Fokus wird auf drei Fragen gelegt. 1. Wie sehen die Prognosen für die zukünftige Entwicklung der Mitgliederzahlen aus? 2. Wie viel Steuergeld fliesst tatsächlich in die Pfarreien vor Ort? 3. Generiert die Kirchgemeinde einen gesellschaftlichen Nutzen?

Entwicklung der Mitgliederzahlen
Die Kirchgemeinde Baden-Ennetbaden besteht aus den beiden Pfarreien Baden und Ennetbaden, wobei Baden über mehrere Seelsorgestellen verfügt. In der Pfarrei Baden lebten Ende 2023 5319 Katholiken. Ende 2022 beheimatete Baden 5599 Katholiken, was einem Rückgang von 5 % entspricht. In Ennetbaden sank die katholische Bevölkerung von 964 auf 931 Katholiken: ein Rückgang von 3,5 %. Betrachtet man die letzten zehn Jahre, so sank die Mitgliederzahl in Baden von 6694 auf 5319: ein Minus von 20,5 %, währenddem in Ennetbaden der Rückgang bei 17 % lag (von 1123 auf 931). Dieser Rückgang ist weder in Baden noch in Ennetbaden auf einen Rückgang der gesamten Einwohnerzahlen zurückzuführen, da die Gesamtbevölkerung in Baden in den letzten zehn Jahren um 10,5 % stieg und in Ennetbaden um 12 %. Der Mitgliederschwund ist vielmehr auf Kirchenaustritte, Todesfälle und fehlende Taufen und Neueintritte zurückzuführen. In der reformierten Kirche ging die Mitgliederzahl in den letzten 10 Jahren in Baden um 25 % zurück (von 4051 auf 3030) und in Ennetbaden um 20,5 % (von 848 auf 674). Die Entkirchlichung betrifft beide Kirchen und stellt kein spezifisch katholisches Problem dar. Wenn wir davon ausgehen, dass der Rückgang der katholischen Bevölkerung konservativ geschätzt jährlich weiterhin 3–4 % betragen wird, hat ein im Jahre 2024 geborenes und getauftes Kind bei seiner Firmung mit 18 Jahren (in der Kirchgemeinde Baden-Ennetbaden findet die Firmung nach der obligatorischen Schulzeit statt) nur noch etwa halb so viele Glaubensgeschwister.

Finanzen
Als Grundlage für die Betrachtung der Finanzen dient das Budget 2024, das Auskunft über die erwarteten Ausgaben und Einnahmen im laufenden Jahr gibt. Die Kirchgemeinde geht von einem Defizit von rund 75 000 Franken aus. Den ordentlichen Steuerertrag prognostiziert sie bei 4 450 000 Franken. Die administrative Führung der Kirchgemeinde beansprucht 6,8 % des Steuerertrags. Zählt man noch die Kosten hinzu, welche die Kirchgemeinde den politischen Gemeinden für den Steuerbezug bezahlen muss, belaufen sich die gesamten Kosten für die Administration der Kirchgemeinde 10,3 % des ordentlichen Steuerertrags. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen dem administrativen Aufwand der Führung einer Pfarrei, die in jeder Ortskirche der Welt Zeit und Geld beansprucht, und den hier genannten spezifischen Kosten, die im Rahmen des dualen Systems, das in den meisten Kantonen der Schweiz vorherrscht, entstehen. Von zehn Franken Steuern fliesst ein Franken ausschliesslich in die reine Administration der Kirchgemeinde. Weitere 16,4 % der Steuergelder fliessen an die Kantonalkirche. Die oft wiederholte Behauptung von Kampagnen wie «Kirchensteuer-sei-dank»[4], wonach im Durchschnitt 86 % der Kirchensteuern in die lokale Pfarrei fliessen, stimmt nur dann, wenn man die Kosten für die Administration der Kirchgemeinde als lokalen Einsatz der Kirchensteuergelder zugunsten der Pfarrei vor Ort definiert. Plausibler ist die Einschätzung, dass weniger als drei Viertel der Steuergelder der eigentlichen Pfarreiarbeit zugutekommen.

Weitere 18 % der Steuergelder beansprucht der Aufwandsüberschuss der Liegenschaften des Verwaltungsvermögens. Darunter werden die Sakralgebäude und Pfarreiräumlichkeiten subsumiert, die der Pfarreiarbeit dienen. Aufwände in Höhe von mehr als einer Million Franken stehen Erträgen durch Vermietungen in Höhe von rund 220 000 Franken gegenüber, was einen Aufwandüberschuss von 800 000 Franken ausmacht. Im Gegensatz dazu generieren die Liegenschaften des Finanzvermögens, die von der Kirchgemeinde als Finanzobjekte bewirtschaftet werden dürfen, einen Ertragsüberschuss von fast 160 000 Franken. Im Verhältnis zum Wert der Liegenschaften des Finanzvermögens stellt dies eine Rendite von 2,5 % dar.

Die Löhne der Seelsorger und Katecheten betragen 1 089 850 Franken. Dies entspricht weniger als einem Viertel des Steuerertrags. Zählt man zum Personalaufwand noch die Löhne der Kirchenmusiker, der Pfarreisekretärinnen und die Sozialausgaben hinzu, so erhöht sich der Anteil an den Steuergeldern allerdings auf rund 42 %. Der Sachaufwand für die Seelsorge, unter welchen verschiedene Positionen wie die Kosten für das Pfarrblatt oder Apéros für Pfarreianlässe fallen, beträgt rund 11 % des Steuerertrags. Insgesamt fliesst daher mehr als die Hälfte der Steuergelder (53 %) in die Seelsorgearbeit. Die Aussage, dass die Kirchgemeinden als öffentlich-rechtliche Körperschaften einen gesellschaftlichen Nutzen schaffen, lässt sich anhand der Zahlen der Kirchgemeinde Baden-Ennetbaden nicht bestätigen, denn mehr als ein Viertel der Steuergelder wird für die Administration der Kirchgemeinde und die Kantonalkirche verwendet, mehr als die Hälfte für die Seelsorge und etwas weniger als ein Fünftel für die kirchenspezifischen Liegenschaften. Für kulturelle Institutionen werden nur ca. 2,5 % der Steuergelder verwendet. Die Kirchensteuern werden also fast ausschliesslich für kirchliche Zwecke verwendet, wobei an dieser Stelle die Frage offen gelassen wird, ob die in der Kirchgemeinde Baden-Ennetbaden getätigten Ausgaben tatsächlich die kirchliche Gemeinschaft und Lehre fördern.

Öffentliche Angebote der Kirchgemeinde
Es wurde bereits erwähnt, dass in jeder Pfarrei administrative Aufwände anfallen. Diese lassen sich jedoch keinen konkreten Ausgabenposten zuordnen, da keine Daten zur Verfügung stehen zur Frage, wie viel von den Pensen für Sitzungen, das Führen von Pfarreibüchern, Pfarreikassen usw. aufgebraucht wird. Ausschliesslich die Löhne für das Pfarreisekretariat als Administration abzubuchen, wäre möglich, würde jedoch der Realität nicht gerecht, da die Seelsorger ebenfalls in viele Tätigkeiten eingebunden sind, die einen rein bürokratischen Charakter haben. Um herauszufinden, wie effizient die Steuergelder in der Seelsorge eingesetzt werden, müssen die öffentlichen Angebote in eine Relation zu den Seelsorgelöhnen und dem totalen Steuergeld gesetzt werden. Im Pfarrblatt «Horizonte» wurden alle Veranstaltungen aufgelistet, die in einem Zeitraum von vier Wochen (10. Februar bis 8. März 2024) in der Kirchgemeinde Baden-Ennetbaden stattfanden. In diesem Zeitraum gab es in den Pfarreien Baden und Ennetbaden folgende öffentlichen Angebote:

Wortgottesdienste      27
Eucharistiefeiern        11
Beichtgelegenheiten   1
Andere religiöse Anlässe (Rosenkranz, Morgenlob usw.)     12
Sonstige Veranstaltungen       32
 

Bei den sonstigen Veranstaltungen wurde alles mitgezählt, was im Pfarrblatt aufgeführt wurde. Dies reicht von Seniorenturnen und Seniorenmittagstisch bis hin zur Kinderartikelbörse, der Strickstube und zum meditativen Tanzen. Bei den Messfeiern wurden nur jene mitgezählt, die von der Pfarrei angeboten wurden. Heilige Messen fremdsprachiger Missionen oder der Petrusbruderschaft wurden nicht mitgezählt, da diese sich nicht durch die Steuergelder finanzieren, die in die Pfarrei fliessen. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, was im ganzen Kanton Aargau und in vielen Kantonen des Bistums Basels vorherrscht. Eucharistiefeiern und Sakramente wie die Beichte nehmen eine untergeordnete Stellung ein. Trotz mehreren Kirchen bzw. Seelsorgestandorten fanden insgesamt nur 11 Messen in vier Wochen statt, was auf ein ganzes Jahr hochgerechnet 143 Messen entspricht. Auch in der grossen Hauptkirche in Baden finden am Wochenende oft keine Messen, sondern nur Wortgottesdienste statt. Die nach dem Weggang von Josef Stübi entstandene Pfarrvakanz als Grund für diesen Mangel an Eucharistiefeiern anzugeben, führt in die Irre, da es erstens Aushilfspriester gäbe und zweitens im übergeordneten Pastoralraum ein Kaplan zur Verfügung stünde. Drittens gilt es noch zu betonen, dass sich auch unter Josef Stübi als Pfarrer die Anzahl Messfeiern in bescheidenem Rahmen hielt. Zählen wir nun alle Gottesdienste zusammen und machen keinen Unterschied zwischen Eucharistiefeiern und Wortgottesdiensten, kommen wir auf eine Gesamtzahl von 38 Gottesdiensten. Nun wird diese Zahl auf 52 Wochen hochgerechnet (494) und anschliessend als Divisor für den Steuerertrag bzw. die Seelsorgelöhne genommen, um zu ermitteln, wie hoch der Steuerertrag bzw. die Seelsorgelöhne pro Gottesdienst sind. Das Ergebnis: In der Kirchgemeinde Baden-Ennetbaden werden etwas mehr als 9000 Franken Steuergeld pro Gottesdienst aufgewendet. Das Verhältnis Seelsorgelöhne (hier werden auch die in der Katechese beschäftigten Mitarbeiter mitgezählt) pro Gottesdienst beträgt etwas mehr als 2200 Franken. Wenn nun die Anzahl Gottesdienste um die Beichtgelegenheit und alle anderen religiösen Veranstaltungen erhöht wird (insgesamt 51 religiöse Anlässe in vier Wochen und 663 pro Jahr), so senken sich die beiden oben berechneten Quotienten auf rund 6700 Franken bzw. 1650 Franken. Werden nun alle öffentlichen Angebote (83 Angebote in vier Wochen und 1079 pro Jahr) in ein Verhältnis zum ordentlichen Steuerertrag gesetzt, erhält man ca. 4100 Franken pro Angebot als Kennzahl.[5]

Auch wenn hier der Vorbehalt zutrifft, dass die Arbeit der Seelsorger und Katecheten vor allem auch aus Religionsunterricht, Seelsorgegesprächen, Krankenbesuchen und Kasualien wie Beerdigungen und Taufen besteht, so haben die obigen Berechnungen trotzdem eine hohe Aussagekraft. Wenn die Kantonalkirchen darauf bestehen, öffentlich-rechtlich anerkannt zu sein, müssen sie nachweisen können, dass sie einen öffentlichen Charakter haben, der sich im Angebot von öffentlichen Veranstaltungen niederschlägt. Wenn es mehr als 4000 Franken Steuergeld bedarf, um irgendeine Veranstaltung anzubieten und sogar 9000 Franken, um einen Gottesdienst zu ermöglichen, sind dies – auch für die Hochpreisinsel Schweiz – horrende Werte, die sich keine Ortskirche der Welt leisten kann. Wenn die Kantonalkirchen behaupten, einen gesellschaftlichen Nutzen zu generieren, dann muss dieser, so zeigen es uns die Zahlen, sehr teuer bezahlt werden.

Blick in die Zukunft
Um noch einmal die drei Fragen zu beantworten, die im Hinblick auf diese Untersuchung aufgeworfen wurden:

1. Die katholische Bevölkerung wird sich in der Kirchgemeinde Baden-Ennetbaden aller Voraussicht nach in 20 Jahren halbieren. Dieser Trend ist nicht spezifisch katholisch, sondern gilt auch für die reformierte Kirche.

2. Nur 75 % der Kirchensteuern fliessen wirklich in die lokalen Pfarreien, der Rest geht an die Kantonalkirche und in die Administration der Kirchgemeinde.

3. Das meiste Geld der lokal eingesetzten Steuern kommt kirchlichen Zwecken zugute, wobei die Kirchgemeinde damit nur sehr wenige öffentliche Angebote generiert. Wenn überhaupt von einem gesellschaftlichen Nutzen gesprochen werden kann, dann von einem, der zu einem sehr hohen Preis erkauft wird.

Wie sieht es nun mit der Frage aus, ob die Zahlen uns einen Blick in die Zukunft ermöglichen? Die Entscheide der Verantwortungsträger lassen sich mittelfristig aller Wahrscheinlichkeit nach sehr gut prognostizieren, da ihr Handeln sehr berechenbar ist aufgrund der begrenzten Handlungsoptionen und der begrenzten Sichtweise vieler ihrer Akteure. Die lokalen Verantwortungsträger, Pfarreileiter und Kirchenpflegen, werden mit sinkenden Steuereinnahmen konfrontiert sein, die eine Antwort auf der Ausgabenseite nötig machen. Da die Liegenschaften im Verwaltungsvermögen hohe Kosten verursachen, die mit sinkender Katholikenzahl nicht kleiner werden, liegt die Versuchung nahe, diese Immobilien in Liegenschaften des Finanzvermögens zu transferieren, um eine rentable Bewirtschaftung zu ermöglichen. Mit der Umnutzung der Liegenschaften und der Notwendigkeit, Kosten zu sparen, wird die Versuchung sehr gross sein, den gleichen Weg wie die reformierte Kirche zu gehen und die Anzahl der öffentlichen Angebote weiter zu reduzieren. Bei einigen reformierten Kirchgemeinden steht selbst der Sonntagsgottesdienst zur Diskussion. Auch wenn die Katholische Kirche diesen radikalen Weg vorerst nicht gehen wird, so wird doch mit Sicherheit das Angebot an religiösen und auch sonstigen Anlässen weiter sinken.

Alternative Szenarien
Als Katholik muss man an den freien Willen des Menschen glauben. In den obigen Ausführungen wird kein Determinismus vertreten, sondern nur das wahrscheinlichste Szenario aufgezeigt, da die Entscheidungsträger begrenzte Möglichkeiten und Sichtweisen haben, auf die momentanen Entwicklungen zu reagieren. Theoretisch wären noch zwei andere Szenarien denkbar. Möglich wäre, dass sich die Schweizer Bischöfe anders als die lokalen Gremien eine langfristige Sichtweise zu eigen machen und die mittelfristige Erosion der Mitgliederzahlen als Tatsache hinnehmen, die aufgrund der kirchlichen Entfremdung vieler rein nomineller Katholiken nicht mehr beeinflussbar ist. Das grosse Gebäude der Volkskirche wird zusammenstürzen, wobei in diesen Trümmern das Fundament der zukünftigen Kirche gesucht und aufgebaut werden muss. Die Neuevangelisierung ist mit anderen Worten das Gebot der Stunde. Der Weg dazu ist keine Reduzierung der öffentlichen Angebote, speziell nicht der spezifisch religiösen Angebote wie Messfeiern und Beichtgelegenheiten, sondern ihre Mehrung. Die immer noch reichlichen Ressourcen, welche den Kirchgemeinden zur Verfügung stehen, könnten genutzt werden, um bei jenen Katholiken, die weiterhin der Kirche treu sind, den Glauben zu stärken und auch neue Menschen für das Christentum zu gewinnen. Die Kirche könnte versuchen, ihren glaubensbezogenen Öffentlichkeitsauftrag stärker zu betonen, um in der Gesellschaft vermehrt als Glaubensgemeinschaft und nicht als Steuergemeinschaft wahrgenommen zu werden. Dieses Szenario ist allerdings nur wahrscheinlich, wenn die Bischöfe das Zepter in die Hand nehmen und eine Vision entwickeln, mit der sie die Priester, Laientheologen und alle anderen Mitarbeiter begeistern können. Kardinal Koch entwarf eine solche Vision, als er vor mehr als 15 Jahren die Pastoralräume in seinem Bistum bilden wollte, wobei sein Nachfolger Bischof Felix keine Kraft und auch keinen Willen zeigte, dieser Vision zu folgen. Wer den Deutschschweizer Bischöfen momentan nicht zutraut, eine Veränderung einzuleiten, darf auf ein weiteres Szenario hoffen, das wohl realistischer ist. Der zunehmende Bedeutungsschwund der Kirchen und die empirisch nachweisbare Tatsache, dass der von den Kantonalkirchen ins Feld geführte öffentliche Charakter in Tat und Wahrheit inexistent ist, wird gesellschaftliche Kräfte auf den Plan rufen, das duale System abzuschaffen. Engagierte Katholiken, die mit der jetzigen Situation unzufrieden sind, können hier mithelfen, indem sie ganz nüchtern Argumente liefern, die aufzeigen, dass die hiesige Kirche zu einer reinen Selbsterhaltungsmaschinerie verkümmert ist. In der Vergangenheit waren lehramtstreue Katholiken stark bestrebt, den Kantonalkirchen die Legitimität abzusprechen, da sie ihnen vorwarfen, die Finanzen nicht zu nutzen, um die katholische Lehre zu fördern, sondern ihr sogar entgegenzuwirken. Dies hat alles seine Richtigkeit und wird am Beispiel der Kirchgemeinde Baden-Ennetbaden offenbar, die es nicht schafft, mehr als 150 Eucharistiefeiern im Jahr anzubieten für eine Bevölkerung von 6000 Katholiken, obwohl die Kirchgemeinde 4,5 Millionen Steuergelder einnimmt (dies entspricht 30 000 Fr. Steuergeld pro Heilige Messe!). Aber genauso wie das Drücken auf die Tränendrüse bei unseren Bischöfen falsch ist, wenn diese die Vorgaben Roms für den Niedergang der Kirche verantwortlich machen, sollten sich auch die gläubigen Katholiken davor hüten, die Diskussion zu emotional zu führen. Zahlen sind oft aufrichtiger als Tränen und überzeugen mehr. Wenn es keine politischen Initiativen gibt, das duale System geordnet abzuschaffen oder konstruktiv im Sinne der kirchlichen Glaubenslehre umzubauen, wird die Kirche zu einer Immobilienhändlerin mit nur noch wenigen Mitgliedern, von denen einige sehr gut verdienende Lohnempfänger sind. Es gilt, mit Fakten und Zahlen aufzuzeigen, dass dies weder im Sinne des Staates noch im Sinne der Gläubigen ist.

 


[1] www.pastoralraum-aargauer-limmattal.ch/baden/wp-content/uploads/sites/4/2023/11/2023_broschuere_KGV_web.pdf

[2] www.ag.ch/de/verwaltung/dfr/statistik/zahlen-und-vergleiche/datenauswahl

[3] www.horizonte-aargau.ch/gottesdienste-und-veranstaltungen/

[4] ag.kirchensteuern-sei-dank.ch

[5] Die Gesamtzahl der Angebote in eine Relation zu den Seelsorgelöhnen zu stellen macht keinen Sinn, da bei diesen Angeboten kein direkter Bezug zur Seelsorge besteht.


Daniel Ric


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Bemerkungen :

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    Hermann Müller 22.04.2024 um 14:06
    Interessante Aspekte dabei. Aber etwas gar viel Zahlen und Theorie. Auch fragt sich immer, wie einzelne Zahlen gewertet bzw. wo beigemessen werden. Jede Kirchgemeinde/Pfarrei ist ein Unikat. Die gesamtgesellschaftlichen Leistungen der Pfarreien, Kirchgemeinden und kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaften (bspw. in Form von Infrastruktur oder sozialen Angeboten) kosten etwas, aber das dürfen bzw. sollen sie auch. Kirche ist mehr als der sonntägliche Gottesdienst (der jedoch das Zentrum sein soll).
  • user
    Meier Pirmin 20.04.2024 um 08:31
    Heute interessiert mich das "Phänomen der Tränengabe in der Mystik", eine Haupteigenschaft von Bernhard von Clairvaux, Bruder Klaus und der Nonnen von Töss, stärker und substanzieller als das Verhältnis von Kirche und Staat. Über letzteres habe ich als Mitglied des Aargauer Verfassungsrates 1975 sieben Anträge eingebracht, die im Plenum bei ausnahmsweise geheimer Abstimmung bis 35 Stimmen einbrachten. Dazu habe ich sinngemäss ausgeführt, dass das alte System spätestens im 21. Jahrhundert ohnehin verschwinden werde. Ich plädierte jedoch für die Nennung Gottes in der Verfassung mit Begründungen, die z.B. beim Staatsrechtsprofessor Eichenberger, Verfassungsredaktor, angekommen sind, auch für die Garantie von Feiertagen und volkskundlich verankerter christlicher Kultur, bis hin zu Entschädigungen für AG Klosteraufhebungen bei Abschluss der vollständigen Trennung von Kirche und Staat incl. Liquidierung des Kirchensteuerprivilegs, für welche ich eine Übergangszeit von 12 bis 50 Jahren vorgeschlagen habe.

    Die Initiative für eine gesamtschweizerische Lösung , u.a. von Ludwig A. Minelli vorgeschlagen, habe ich damals nicht unterstützt, weil ich unbedingt für die Kantonalisierung von Kult- und Kirchenfragen war incl. Umgang mit der christlichen Kultur usw., die ich wie Troxler als integrierenden Bestandteil der Eidgenossenschaft gesehen habe. Siehe auch das Studium der Eidformel seit Glarus 1387.

    Heute muss ich, was ohnehin fällt, nicht mehr stossen; wobei Umstossen werthaltiger Traditionen nie mein Anliegen war. Ich habe aber meine Haltung mit 50 Jahren Boykott durch katholische Bildungsinstitutionen bezahlt, der sich noch verschärfte, als diese von Linkskatholiken übernommen wurden, für welche die Existenz Gottes und natürlich die Unbefleckte Empfängnis eher in Frage gestellt werden darf als die garantiert nicht von Jesus Christus begründete Systemkirche. Immerhin war ich noch um 1971 letztes Mal Referent bei der Paulus-Akademie.
    • user
      Michael Dahinden 20.04.2024 um 12:01
      Das trifft den Sachverhalt sehr genau.
      Nicht vergessen: Mit der Gabe der Tränen ist vor allem die Gabe der Tränen der Reue gemeint. Also: Selbstanklage als ständige, wichtigste Übung. Gilt für alle Beteiligten. : )
      • user
        Meier Pirmin 20.04.2024 um 15:52
        @Dahinden. Bedenken Sie aber, dass gemäss den 3 Bänden der Quellen zum Leben und Wirken des heiligen Bruder Klaus der Eremit auf dem Ranft nie heftiger weinte, als ihm der Brunnenmeister von Halle an der Saale auf der Rückkehr von der heiligen Höhle der Magdalena in Südfrankreich von der täglichen Entrückung der Sainte Madeleine erzählte, in einem Bericht, wo sie auf Deutsch "Apostolin" und "Bischöfin" genannt wurde, nie Sünderin, zumal sie auch keine ehemalige Prostituierte war, im Gegensatz zur ebenfalls verehrungswürdigen Maria Aegyptiaca. Das in der Geschichte der Spiritualität in der Schweiz vielleicht eindrücklichste Zeugnis von Tränen der Reue betrifft Schwester Sophie von Klingnau, Konventualin in Töss, betreffend die Zeit, da sie ihren Lebenssinn noch nicht gefunden hatte, dies genügte für heftiges Weinen, von wegen ihrer grössten Sünde: vertane Zeit!
  • user
    Michael Dahinden 20.04.2024 um 06:46
    Sehr eindrücklliche Analyse.
    Zu fragen ist nach der genaueren Bedeutung des Begriffs "Duales System". Da sind Kirchgemeinden, in denen sich wohlwollende Katholiken engagieren. Das kommt zumindest vor. Etwas weniger augenfällig ist dies auf der Ebene "Kantonalkirche"/Kirchenparlament, Grosse und Kleine Kirchenräte, und um das Offensichtliche zu nennen: RKZ.
  • user
    Stefan Fleischer 20.04.2024 um 01:05

    Kürzlich stach mir wieder einmal die Schriftstelle ins Auge:


    «Denn jeder Hohepriester wird aus den Menschen ausgewählt und für die Menschen eingesetzt zum Dienst vor Gott, um Gaben und Opfer für die Sünden darzubringen.» (Hebr 5,1)


    Ich glaube, man kann diese Aussage in einem gewissen Sinn auch auf jeden Priester anwenden. Seine primäre Aufgabe ist und bleibt das Heilige Messopfer darzubringen. Nach meinen Beobachtungen brach der Niedergang der katholischen Kirche damals so richtig los, als die Feier der heiligen Eucharistie (und das Stundengebet) aus dem Pflichtenheft des Priesters gestrichen wurde. Damit wurde der «Dienst vor Gott» dem «Dienst an den Tischen» geopfert. (vgl. Apg 6,2). Seit dann mauserte sich auch die Seelsorge von der Sorge um das ewige Heil der unsterblichen Seelen duuch die Sorge um das irdische, das materielle wie das psychologische Heil und Wohlergehen ins Abseits gedrängt.


    Es gibt ein Zitat von Kirchenvater Augustinus: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht, O Gott, in Dir.“ Unsere Kirche wird dann wieder attraktiv werden, wenn sie sich wieder auf ihre Kernaufgabe konzentriert, nämlich die Menschen aller Zeiten, insbesondere unserer hektischen Zeit heute, zur jener Ruhe zu führen, welche nur die Versöhnung mit Gott, unsere Erlösung, zu schenken vermag, schon hier und jetzt und schliesslich im ewigen Leben.

  • user
    Marquard Imfeld 19.04.2024 um 21:13
    Ausgezeichnete Analyse! Sehr aussagekräftige Fakten!
    Dank an Daniel Ric für diese Arbeit.