Antoni Gaudí um 1878. (Bild: Pau Audouard Deglaire, Public domain via Wikimedia Commons)

Neuerscheinungen Hintergrundbericht

Antoni Gaudí – Blick hin­ter die Sterne

Antoni Gaudí (1852 – 1926) ist der Schöp­fer der epo­cha­len Kir­che Sagrada Famí­lia von Bar­ce­lona, die noch immer nicht fer­tig­ge­baut ist. Alle seine Werke geben den Blick frei auf Got­tes Schöp­fung und Lehre, die Natur­ge­setze, Got­tes Liebe zum Men­schen und zu sei­ner Hei­mat Kata­lo­nien. Der tief­gläu­bige Archi­tekt ist eine unfass­bar span­nende und inspi­rie­rende Per­sön­lich­keit und wird ver­mut­lich bald seliggesprochen.

Die Seligsprechung von Antoni Gaudí aufgrund «heroischer Tugenden» liegt auf der Zielgeraden, dessen ist sich das Erzbistum Barcelona gewiss. Papst Benedikt weihte 2010 die «Sagrada Família» ein und war bekennender Gaudí-Fan, Papst Franziskus nannte ihn richtigerweise einen grossen «Mystiker». Aber auch für Nichtkatholiken oder Atheisten ist der staunende Betrachter und Verehrer der Natur, Antoni Gaudí, eine Quelle der Inspiration.

Als Gaudí 1926 in Barcelona von einer Strassenbahn angefahren und lebensbedrohlich verletzt wurde, hielt man die ausgemergelte Gestalt für einen Bettler und verfrachtete ihn in ein Armenspital, wo er drei Tage später starb. Sein Begräbnis wurde zu einem Massenauflauf, denn der glühende Katholik und katalanische Patriot galt als Fanal des Widerstands gegen die Diktatur, die Unterdrückung der katalanischen Kultur, die Gewalt gegen die Kirche und als Freund der Arbeiterklasse. Bis heute spaltet der berühmteste Vertreter des katalanischen Jugendstils wegen seiner üppigen Architektur und seiner radikalen Geisteshaltung die Gemüter, aber niemand kann sich der überwältigenden Schönheit seines Schaffens entziehen.
 


Zauber der Kettenlinie
«Schönheit wird die Welt retten», liess Dostojewski seinen «Idioten» prophezeien. Alle von Gaudis Gebäuden sind von einer geheimnisvollen Aura umgeben, als würden seine Formen und Farben auf eine andere Welt verweisen. Als Kind musste er wegen eines Rheumaleidens oft auf das Spielen verzichten und draussen auf der Wiese in der katalanischen Provinz ausharren, wo er nichts anderes tun konnte, als die Pflanzen und Tiere zu beobachten. Er entwickelte eine lebenslange Faszination für die Natur, aus der er später seine Bau- und Gestaltungsprinzipien ableitete. Gaudí gilt als der radikalste organische Architekt überhaupt.

Ein Beispiel: Etwas ausserhalb von Barcelona liegt die ehemalige Arbeitersiedlung einer Baumwollfabrik, die Gaudís wichtigstem Förderer gehörte, dem unermesslich reichen Unternehmer Eusebi Güell (1845–1918). Er teilte mit Gaudí die Liebe zu Katalonien, zur Kirche, zum technischen Fortschritt und zur Kultur und steckte Unmengen von Geld in die Pionierwerke seines Freundes. Das Eklatanteste war die Kirche in der «Colonia Güell».
 


Dort wollte Gaudí herausfinden, wie man die Anziehungskraft der Erde nutzen konnte, um möglichst ohne künstliche Tragwerke zu bauen. Das Zauberwort hiess: Kettenlinie. Das Prinzip scheint einfach, die mathematische Übertragung auf Bauwerke ist für Laien aber unerhört kompliziert. Man nehme eine Halskette mit einem Anhänger und beobachte die Form. Sie bildet eine etwas längliche Kurve. Umgedreht entspricht das Gewicht des Anhängers dem Gewicht, das auf diesem Bogen lasten könnte, ohne ihn zu zerquetschen.

Gaudí überzeugte seinen Förderer Güell, ihm geschlagene zehn Jahre lang ein kleines Team zu bezahlen, das in einem Schuppen neben der Arbeiterkolonie an einem Mobile herumbastelte. Die Mitarbeiter hängten kleine, mit Schrot gefüllte Säcklein an Seile und dokumentierten und fotografierten die entstandene Form.

Gaudí drehte die Fotografien um und zeichnete darüber das Gebilde, das sich wie von selbst formte, allein der Erdanziehung gehorchend, und begann endlich mit dem Bau. Die «organische» Kirche kam jedoch nie über die Krypta hinaus, da Güell zehn Jahre später starb und seine Erben den Geldhahn zudrehten.
 


Spinner oder Genie
Gaudí war immer sehr stolz auf seine Herkunft aus einer Kesselschmiede-Familie und beherrschte das Handwerk auch selbst. Er wuchs in Reus auf, etwa eine Stunde südlich von Barcelona, doch die Familie Gaudí schickte ihre beiden Söhne zum Studium nach Barcelona. Sie hatte eingesehen, dass ihr Handwerk keine Zukunft mehr hatte. Der Bruder wurde Arzt, starb jedoch bald, ebenso die Mutter. Und Gaudí wurde Architekt.

«Ich weiss nicht, ob er ein Spinner oder ein Genie ist», soll der Rektor der brandneuen Hochschule für Architektur über seinen Studenten gesagt haben. Der junge Architekt mit den stahlblauen Augen war zweifellos ein Genie, und er tanzte aus der Reihe, aber immer nach streng rationalen Kriterien.

Gaudí heiratete nie, sondern lebte bis zu deren Tod mit dem Vater und einer leicht behinderten Nichte zusammen. Ausserdem hatte er einige sehr innige und treue Freunde.
 


Zu Lebzeiten Gaudís emanzipierte sich Katalonien zusehends von Spanien. Lange war die eigene Sprache verboten gewesen, nun erwachte allmählich der Nationalstolz der Katalanen, dem auch Gaudí verfallen war. Je älter er wurde, desto trotziger beharrte er auf seinen kulturellen Wurzeln und sprach mit allen, sogar mit dem spanischen König, der die Baustelle der «Sagrada Família» besichtige, nur Katalanisch.

Gaudís Schaffen ist eine faszinierende Reise durch die Geschichte der Schöpfung, der Menschheit und durch die menschliche Seele. Seine Gebäude strotzen vor winzigen oder auffälligen Symbolen. Er war ein Meister des Recyclings – zum Beispiel verkleidete er seine Bauten mit bunten Scherben – und benutzte, wenn möglich, nur Baumaterialien aus der Region.

Dank der Restaurierung durch Gaudí wurde auch die Kathedrale von Palma de Mallorca von einer düsteren Rumpelkammer zu einer strahlenden «Kathedrale des Lichts» mit einer beneidenswerten Akustik, da Gaudí nicht nur am perfekten Bild, sondern auch am perfekten Ton tüftelte. Die «Sagrada Família» mit ihren 18 Türmen sollte dereinst ganze Partituren von Glockengeläut über die Stadt ergiessen.
 


Reiche Bürger wollten sich von Gaudí möglichst exzentrische Häuser bauen lassen, weil dies damals Mode war. Man wetteiferte um die auffälligsten Fassaden, und Gaudí konnte da einiges bieten. Für die Familie Batlló baute er ein Haus, das den Drachen aus der Legende des Heiligen Georg symbolisierte, weil Georg der Nationalheilige Kataloniens war. Die leicht gewellte Fassade ist die Drachenhaut, während das typisch gaudianische vierarmige Kreuz auf dem Dach das Schwert des Heiligen darstellt, das sich in das Untier bohrt. Die totenkopfartigen Balkone sind die Opfer, die der böse Drache verschlungen hat.

«Oh Maria, gräme dich nicht, dass du klein bist, denn auch die Blumen sind es und die Sterne». Diesen zärtlichen Satz liess Gaudí auf eine Wand der Pedrera schreiben. Das Ehepaar Milà hatte ihm eine glanzvolle «Casa Milá» in Auftrag gegeben, nur um bald festzustellen, dass die Bevölkerung das steinerne Monstrum spöttisch «Steinbruch» (Pedrera) taufte.
 


Die Pedrera ist das beste Beispiel für den ewigen Kampf Gaudís mit den Behörden, weil er sich systematisch um alle Bauvorschriften scherte, aber auch für seinen Kampf mit seinem Auftraggeber, weil er das Haus zu einem Sockel für eine riesige Marienstatue machen wollte, und für sein Interesse an technischem Fortschritt, weil er vorausdachte und eine Tiefgarage für Automobile einbaute, von denen damals erst wenige durch die Strassen tuckerten. Statt der Marienstatue stehen auf dem Dach der Pedrera heute die berühmten Schornsteine, die später den amerikanischen Macher der «Star-Wars»-Filme, George Lucas, zu seinen «Stormtroopers» inspirierten.
 


Als Gaudí den deutschen Priester Sebastian Kneipp mit dessen Ratschlägen für ein natürliches Leben entdeckte, trieb er Diäten und Lebensweise sogleich auf die Spitze. Lange vor unseren 10 000-Schritte-Apps sagte er, man solle jeden Tag mindestens zehn Kilometer zu Fuss gehen. Tatsächlich war er trotz seiner Rheumaerkrankung bis zu seinem Unfalltod top fit, und er wurde nur deshalb von einem Tram überfahren, weil er wie jeden Abend von seiner Werkstatt zu Fuss die ¾-Stunden hinunter in die Altstadt ging, um dort zu beichten und zu beten, und weil er wie immer nicht auf den Verkehr achtete.

Er war keineswegs arm, lebte aber gegen Ende zunehmend wie ein Asket. Die sozialen Nöte der Bevölkerung beschäftigten ihn sehr. An der «Sagrada Família» hängen zwei politische Skulpturen. Man findet sie nach dem Eintreten bei der Geburtsfassade.
 


Die eine Skulptur zeigt einen Arbeiter, dem ein Dämon eine Handgranate hinhält. Mit solchen Orsini-Bomben führten die Anarchisten damals den terroristischen Klassenkampf für soziale Gerechtigkeit. Gaudí konnte ihre Anliegen zwar verstehen, wandte sich jedoch entschieden gegen gewaltsame Lösungen.
Eine andere Skulptur zeigt ein junges Mädchen, das von einem Dämon mit Geld zur Prostitution verleitet wird.
Beide Figuren wenden den Blick flehentlich hinauf zu einer Marienstatue. Für Gaudí konnte nur die Hinwendung zu Maria und zu Gott helfen, in Zeiten grosser Not solchen Versuchungen zu widerstehen.

Für die Arbeiter seiner «Sagrada Família» und aus der Umgebung baute Gaudí 1909 eine Schule, die ebenfalls Architekturgeschichte schrieb. Sie wurde mit einfachsten Materialien gebaut und kommt dank ihrer Wellenform ohne störende Säulen oder komplizierte Verstrebungen aus. Das Dach ist doppelt gewellt, um den Regen abzuleiten. An dieser Schule wurde mit der Montessori-Pädagogik unterrichtet.
 


Gaudí war von Gewalt umgeben. Barcelona wurde die «Bombenstadt» genannt, und zehn Jahre nach seinem Tod werden zwölf Menschen aus seiner unmittelbaren Umgebung, die alle mit der «Sagrada Família» zu tun hatten, von den Linken im Spanischen Bürgerkrieg systematisch ermordet. Fast alle Pläne, Statuen, Modelle, Schriften und Zeichnungen Gaudís wurden zerstört und verbrannt. Dank seiner modularen Bauweise und dem Gedächtnis der hinterbliebenen Mitarbeiter konnte in mühsamer Kleinstarbeit das Wichtigste wieder zusammengesetzt und weitergebaut werden.
 


Was uns heute von dem Architekten mit den stahlblauen Augen bleibt, sind sieben UNESCO-geschützte Bauwerke und einige weitere Gebäude, die fast alle in Katalonien stehen. Die «Sagrada Família» hätte bis zu seinem 100. Todesjahr 2026 fertiggebaut werden sollen, aber der Terminplan wurde durch die Coronaepidemie verzögert.

Die Sagrada Família wird auch die «Kathedrale der Armen» genannt, weil sie ohne staatliche Unterstützung gebaut wurde. An ihrer Faszination kommt niemand vorbei. Und von Gaudí können wir besonders eines lernen: demütiges Staunen.
 


Kathrin Benz ist Autorin der Biographie «Antonio Gaudi – Der Architekt Gottes», die soeben in der wbg Theiss erschienen ist.

 

Kathrin Benz, Antoni Gaudí – Der Architekt Gottes. Die Biographie. wbg Theiss 2025, 384 Seiten, ISBN: 978-3-534-61037-2. Link


Kathrin Benz


Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

Captcha Code Kann das Bild nicht gelesen werden? Klicken Sie hier, um zu aktualisieren

Captcha ist erforderlich!

Code stimmt nicht überein!

You have reached the limit for comments!

* Diese Felder sind erforderlich.

Bemerkungen :

  • user
    Roland Gröbli 12.02.2025 um 23:46
    Vielen Dank, liebe Kathrin, bin sehr gespannt auf die Lektüre Deines Buches. 👍