Neuerscheinungen

Aus geis­ti­ger Eis­zeit: Die Lyrik des stil­len Wider­stands gegen Hitler

Im deut­schen Geis­tes­le­ben des 20. Jahr­hun­derts, so wie wir es ken­nen, fehlt eine ganze Epo­che – das lite­ra­ri­sche Wir­ken einer gan­zen Gene­ra­tion von Lyri­kern, das der Ideo­lo­gie des Natio­nal­so­zia­lis­mus zuwi­der­lief. Durch eine neue, druck­frisch vor­lie­gende Antho­lo­gie, ein wah­res Desi­de­rat, wird die geis­tige Welt, die unter dem Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­femt war und in den Strö­men von Trä­nen und Blut der dama­li­gen Zeit­läufte mit unter­ging, in kaum je da gewe­se­ner Breite und Tiefe auf­ge­ar­bei­tet und neu strukturiert.

Was kennen wir an Texten aus dem Widerstand gegen das NS-Regime? Gewiss, Wolfgang Borchert, Werner Bergengruen und Dietrich Bonhoeffer haben es bis in die heutige deutschsprachige und allgemeine Wahrnehmung geschafft. Aber da ist ein ganzer literarischer Kosmos verborgen! Zur Zeit des Dritten Reiches wurden die Texte, die der «Lepanto-Verlag» einer staunenden Leserschaft vorlegt, keinesfalls offiziell gedruckt, ja, sie mussten teils verborgen werden, gingen von Hand zu Hand, wurden geradezu geschmuggelt, und danach, in der jungen Bundesrepublik – nun, ging es eher um Nierentische, um den ersten VW Käfer und den Humor à la Heinz Ehrhardt.

Auf 571 gedrängt vollen Seiten kommt das Gegenprogramm. Der «Lepanto-Verlag» präsentiert mit seinen «Eisblumen» die verdrängte Lyrik, anhand derer sich die Breite des geistigen Widerstands gegen den Nationalsozialismus ermessen lässt. Wichtige Gedichte, die unser aller Leben begleiten, stehen dort neben völlig unbekannten Texten, die in zuweilen ergreifender Tiefe und Intensität vom Leid unter dem Hakenkreuz künden. Diese Anthologie ist daran gemessen die vielleicht wichtigste Neuerscheinung dieses Bücherherbstes 2024. Zusammen mit einem zweiten Band, in dem die Herausgeber eine Deutung vornehmen, in dem dann auch umfangreiche Register, eine Auflistung der einzelnen Gedichte nach den ersten Worten sowie ein akribisch zusammengestelltes Register zu finden sind, ergibt sich eine bestens erschlossene und übersichtlich nutzbare Gesamtedition von nicht weniger als 838 Seiten.

Albrecht Haushofer, Gertrud Kolmar, Jochen Klepper – natürlich sind uns die Namen derer, die das Hitler-Regime nicht überlebten, einigermassen geläufig, und Bonhoeffer wurde schon genannt. Da sind aber auch die Literaten, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht als Widerstandskämpfer hervortraten, die vielleicht weitgehend unbehelligt blieben. Eine grosse Zahl dieser lyrischen Literaten ist in diesem Band mit einem Epochenwerk versammelt, das beredtes Zeugnis von stillem Widerstand, unhörbarer Weigerung, unbeugsamer Ablehnung gibt. Ihre Gedichte reihen sich nahtlos und bruchlos zwischen den Texten Schneiders und Bonhoeffers ein. Ein Beispiel ist Bergengruen: Der «entwickelte sich ab 1933 zum reimenden Polemiker, der eine Hundertschaft meist unpublizierter Schüttelreime verfasste und im Freundeskreis vortrug», wie die Herausgeber in ihrem nicht weniger als 174 Seiten starken «Leitfaden durch unbekanntes Terrain» anmerken, einer kundigen interpretatorischen Anleitung, der sie den bescheidenen Titel «Nachwort» gaben.

Die beigegebene Lesehilfe, die den zweiten Band dieser grossen Anthologie mit den umfangreichen Registern und Anmerkungen teilt, stützt nochmals die These: Erst mit der Kenntnis dieser Lyrik des Widerstandes, der stillen Schreie kann der Kosmos der Literatur unter den Nationalsozialisten vollständig erfasst werden, denn natürlich sind hier Autoren ganz unterschiedlicher Geisteshaltung versammelt. Der «Lepanto-Verlag» selbst schreibt völlig korrekt: «Diese Anthologie dokumentiert das Potential und den Facettenreichtum des nonkonformistischen Schreibens auf dem Gebiet der lyrischen Dichtkunst während der NS-Herrschaft und lädt zur Wiederbegegnung mit einer zu Unrecht vergessenen Welt ein!» Sehr wichtig ist auch der Hinweis, dass diese Lyrik «manchmal das offene Zeugnis mutigen politischen Widerstands, manchmal der erstaunliche Konterpart zu Verwerfungen in der Biographie der Verfasser» ist – denn mancher, der völlig unauffällig, quasi getarnt weiterlebte, hinterliess bewegende Widerstands-Lyrik.

Eine ganze Geisteswelt wird in dieser Anthologie aufgeblättert, es sei eigens wiederholt, wenn es um den Überblick geht, der im übrigen in einem ausführlichen Nachwort unter dem Titel eines «Leitfadens» durch die Herausgeber angeboten wird. Zunächst werden die Protagonisten in «Gesichtern aus der inneren Emigration» dargestellt, danach wird der Leser in «Mythische Welten» entführt. Exemplarisch sei noch das vierte Kapitel unter dem Rubrum «Den Feind im Visier» herausgehoben, in dem sich Bergengruens Gedicht «Auf Schicklgruber» befindet – deutlicher geht es nicht. Der Glaube war den Dichtern in ihrem inneren Exil so wichtig und so präsent, dass die Herausgeber auch diesem Aspekt ein eigenes Kapitel gewidmet haben, und in diesem Zusammenhang dürfen dann auch Namen wie Gertrud von le Fort nicht fehlen. Eindeutig zur Inneren Emigration gezählt wird in dieser Anthologie Georg Britting, der sich seinerzeit nicht als öffentlichen Widerstandskämpfer exponierte, sondern der gegen das Regime schrieb und dessen Lyrik eine breite Bühne geboten wird. Abermals ist es Bergengruen, der dem Verderben ein trotziges «Fürchtet Euch nicht» entgegenstellt. Einzig das Kapitel «Tiere und Tierkreiszeichen» kann nicht ganz überzeugen – es steht ein wenig quer zur ansonsten christlich geprägten Gesamtedition dieses Werkes, und vieles aus diesem Abschnitte hätte gut und gerne in anderen Kapiteln unterkommen können.

Gegen Ende bewegt sich die grosse Anthologie auf eine Klimax zu. Das Kapitel «Krieg und Soldatentum» behandelt nicht den Widerstand im engeren Sinne, sondern das Leid. Das eigentlich unaussprechliche Leid, das nur durch die Verdichtung in der Lyrik annähernd fassbar wird. Dieses Kapitel liefert den Grund, ja den unmittelbaren Beweis dafür, dass auch 1944 jeder Widerstand wichtig war, jedes Attentat versucht werden musste. Ein sehr hypothetisches Kriegsende nach einem erfolgreichen Stauffenberg-Attentat hätte noch Millionen von Menschenleben gerettet, hätte über die Hälfte der bis April 1945 zerstörten Altstädte vor den Bomben bewahrt. Hier liegt also der Grund, warum die letzthin von interessierter Seite betriebene Demontage der Erinnerung an den Grafen Stauffenberg keine historische Grundlage hat. Von der Geissel des Zeitgeistes, als «Dekonstruktion» bekannt, hält sich diese wichtige Arbeit völlig fern. Ein weiterer Grund dafür, dass dieser Lyriksammlung eine lang anhaltende Wirkung vorhergesagt werden kann.

«Schicksale und Gestalten» – Albrecht Goes und Werner Bergengruen markieren den Beginn dieses wichtigen Abschnittes, in dem der Glaubensbezug nochmals stärker als zuvor in den Mittelpunkt tritt. Hier wird mit jedem einzelnen Gedicht auf erschütternde, nach Autor unterschiedlich stark hervortretende Art und Weise Bezug auf den christlichen Glauben genommen. Echte und tiefe Glaubenszeugnisse, wie sie von Frontsoldaten, verfolgten Menschenfreunden, Alten, Kranken und Verzweifelten kommen, wenn die Nacht der Diktatur hereingebrochen ist. Hellsichtig und in der Rückschau höchst politisch dichtete Jochen Klepper in seinem Weihnachtslied «Die Nacht ist vorgedrungen» in der abschliessenden Strophe: «Gott will im Dunkel wohnen / und hat es doch erhellt. / Als wollte er belohnen, / so richtet er die Welt.» – Doch der Autor und seine aus jüdischem Hause stammende Ehefrau sollten die Morgenröte nach der Diktatur nicht erleben. Sie wählten mit ihrer Familie den Freitod. So ernst ist der Hintergrund dieser Anthologie, und das übrigens fast durchgängig. Das macht sie so eminent wichtig.

Ein Werk dieses geistigen Gewichts hat eine kurze Einordnung in den literarischen Gesamtkontext verdient – sie sei zumindest in kurzen Andeutungen versucht. Wie Thomas Mann ins Exil zu gehen, das war für die Schriftsteller deutscher Zunge eine Möglichkeit, die NS-Diktatur zu überstehen, der stille Protest eine andere – Erich Kästner verkörpert diese Gruppe. Welcher Weg «gerecht» oder «richtig» war – wer wollte das heute entscheiden? Unbestritten ist jedoch das Verdienst der Herausgeber dieser Anthologie, den Autoren der «inneren Emigration» nun endlich die verdiente Würdigung zu geben, denn wer liest Georg Britting, wer Elisabeth Langgässer, wer Oskar Loerke? Diese Würdigung geschieht auch, indem diese Texte gleichberechtigt neben weltweit wirksame Texte wie die Lieder aus der Feder Dietrich Bonhoeffers und Jochen Kleppers gestellt werden. Und so geht der Blick auch zu Paul Celan, der durch Nationalsozialisten in seiner Heimat Czernowitz zum Heimatlosen wurde – und es zeitlebens blieb. Sein Exiltext «Todesfuge» gehört, so wie Bonhoeffers Gedicht «Von guten Mächten still umgeben», das er 1944 aus dem Gefängnis schmuggeln liess, wohl zu den wichtigsten zehn Texten des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache. Und dieses Buch bietet den Rahmen, die Einordnung, auch Bereicherung und Ergänzung. Der Titel des Werkes ist last but not least höchst passend gewählt: Je genauer man hineinschaut, desto grossartiger erstrahlen die in kultureller Eiszeit entstandenen Geistesblüten in unendlicher Vielfalt und Schönheit.
 

Günter Scholdt und Christoph Fackelmann (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit Ruth Wahlster: Eisblumen. Nonkonformistische Lyrik im Dritten Reich. Eine Anthologie. Lepanto-Verlag, Rückersdorf über Nürnberg, 2 Bände, zus. 842 S., broschiert, ISBN: 978-3-942605-32-8, 32 Euro. Link


Sebastian Sigler


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  • user
    Michael Dahinden 17.12.2024 um 10:28
    Das sind wichtige Bausteine zum Frieden, auch und gerade für die Besiegten.