Symbolbild. (Bild: Daniela Hartmann/Flickr, CC BY-NC-SA 2.0)

Kirche Schweiz

Bilanz ein Jahr nach Ver­öf­fent­li­chung der Missbrauchs-​Pilotstudie: Einer tanzt aus der Reihe

Zum «Jah­res­tag» der Ver­öf­fent­li­chung der Miss­brauchs­stu­die wurde viel geschrie­ben. Die «Schwei­ze­ri­sche Kir­chen­zei­tung» wid­mete dem Thema ihre Aus­gabe 17 (2024) und liess alle Bis­tü­mer zu Wort kom­men. Diese berich­ten sach­lich über ihre Prä­ven­ti­ons­mass­nah­men. Ein­zig Bischof Joseph Maria Bon­ne­main tanzt aus der Reihe – mit undif­fe­ren­zier­ten Pauschalurteilen.

Im Bistum Basel begann die Präventionsarbeit 2004 mit einem obligatorischen Dekanatsfortbildungskurs zum Thema «Nähe und Distanz». Seitdem wurde ein Schutzkonzept eingeführt und Präventionskurse verpflichtend eingeführt, so Generalvikar Markus Thürig. Seit August 2024 gibt es neu einen Präventionskurs für Freiwillige und bis Ende Jahr soll ein Schutz- und Interventionskonzept gegen geistlichen Missbrauch eingeführt werden. Meldungen zu mutmasslichen sexuellen Übergriffen werden seit 2017 von der unabhängigen Meldestelle Anwaltskanzlei Hess Advokatur AG entgegengenommen, die uneingeschränkt Akteneinsicht im Bischöflichen Ordinariat und in Ordensarchiven besitzt. Sie erstellt pro Meldung ein Dossier und gibt Handlungsempfehlungen an den Bischof ab. Sie kontrolliert auch die Umsetzung der empfohlenen Massnahmen.
Seit der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie gingen 120 Meldungen ein, davon befanden sich Ende Juni noch 44 Meldedossiers in Bearbeitung. Sämtliche Empfehlungen der Meldestelle wurden von Bischof Felix Gmür umgesetzt. «95 Prozent der eingegangenen Meldungen betreffen (i) bereits verstorbene beschuldigte Personen, (ii) verjährte sexuelle Übergriffe aus der Zeit von 1930 bis 2010 oder (iii) Meldungen, in welchen weder beschuldigte Person, mutmassliches Opfer noch Geschehenes bekannt oder eruierbar sind.»

Im Bistum Chur wurde 2008 das diözesane Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» eingerichtet. Darin wirken gemäss Generalvikar Luis Varandas erfahrene Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeitende und Juristen zusammen mit Ansprechpersonen. Das Prinzip, dass Betroffene selbst über eine allfällige offizielle Meldung entscheiden, hat sich bewährt. Dabei ist nicht immer klar, wann und von wem eine Meldung an die Strafverfolgungsbehörden stattfindet. Im April 2019 wurde zusammen mit den staatskirchenrechtlichen Gremien das «Schutzkonzept für die seelische, geistige und körperliche Unversehrtheit der Menschen im Bereich des Bistums Chur» eingeführt, das u. a. die Ernennung von diözesanen Präventionsbeauftragten verbindlich vorschreibt. Im April 2022 folgte der «Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht», für Luis Varandas «das Herzstück der Prävention von spirituellem und sexuellem Missbrauch im Bistum Chur». Der Verhaltenskodex sei ein wichtiger Schritt «in Richtung Ermächtigung und Kritisierbarkeit von Macht». «Damit wird eine Kultur der Besprechbarkeit und Transparenz gefördert.» Gemäss Generalvikar Varandas verdienen Karin Iten und Stefan Loppacher für ihre «wegweisende Arbeit lobende Anerkennung». Wer den Verhaltenskodex gelesen hat, kann ob dieser Fehleinschätzung nur den Kopf schütteln. Der Verhaltenskodex ist selbst Mittel für geistlichen Missbrauch, fordert er doch unter Androhung der Kündigung absoluten Gehorsam, ja selbst den Verstoss gegen die Lehre der Katholischen Kirche.

Im Bistum St. Gallen wurde 2016 ein Schutzkonzept eingeführt. Prävention ist fest verankert im Bereich der Ausbildung (ForModula Jugendarbeit und Katechese), in der Berufseinführung und in der pastoralen Einführung der Seelsorger und Religionspädagoginnen, wie Pastoralamtsleiters Franz Kreissl ausführt. Aber auch für alle anderen kirchlichen Dienste gibt es entsprechende Präventionskurse. Das Bistum verfügt über eine Ombudsstelle, Ansprechpersonen für den Missbrauch geistlicher Macht sowie bereits seit 2002 ein Fachgremium. «In Folge der Pilotstudie wird das gesamte Melde-, Beratungs- und Interventionswesen neu aufgegleist und auf dem Boden des dualen Systems organisiert und verankert.»

Seit mehreren Jahren setzt sich das Bistum Lausanne, Genf und Freiburg aktiv dafür ein, eine Kultur der systematischen Missbrauchsprävention zu etablieren. Im Mai 2022 erfolgte die Gründung des «Bischofsrat Prävention». Seine Aufgabe ist es, den Bischof bei der Umsetzung der Präventionskultur zu unterstützen. Der Rat setzt sich aus Priestern, Ordensleuten, Laien und Experten zusammen. Aktuell erarbeitet er einen diözesanen Verhaltenskodex.
Das Bistum hat in Zusammenarbeit mit dem «Institut Catholique de Paris» ein Universitätsdiplom «Abus et bientraitance. Écouter, accompagner, prévenir» eingeführt. Diese Weiterbildung, die im Oktober 2024 startet, ist für alle Verantwortlichen in der Diözese verpflichtend, auch für Bischof Morerod.
Seit der Gründung des Fachgremiums «Abus sexuels dans le contexte ecclésial» im Jahr 2016 wurden 87 Meldungen von Opfern registriert, davon 14 seit September 2023. Alle Meldungen wurden bearbeitet.

Im Anschluss an die Veröffentlichung der Missbrauchsstudie hat das Bistum Sitten der Kanzlei Vicario Consulting der Auftrag erteilt, ein Audit durchzuführen. Die Ergebnisse wurden am 11. Juni 2024 an einer Pressekonferenz bekannt gegeben. Der Bericht zeigte auf, dass sich die Missbrauchsopfer nur ungern an die Bistumsleitung wenden, da diese nicht als neutral eingeschätzt wird. Um eine grössere Unabhängigkeit zu gewährleisten, hat der Bischof Lovey Pfarrer Stefan Roth zur Verbindungsperson zwischen dem Ordinariat und dem Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» ernannt.
Alle Mitarbeitenden in der Seelsorge haben einen Weiterbildungskurs zum Thema sexueller und geistlicher Missbrauch absolviert. Neue Mitarbeiter müssen eine Charta unterzeichnen, die zwischen dem Bistum Sitten und dem Kanton Wallis ausgearbeitet worden ist. Zudem wird ein Verhaltenskodex erarbeitet.
Bischof Lovey hat zusätzlich entschieden, zwei Historikerinnen anzustellen, die das bischöfliche Archiv betreuen, so Bistumssprecher Paul Martone.

Das Bistum Lugano bietet in Zusammenarbeit mit der Stiftung «Fondazione della Svizzera italiana per l‘Aiuto, il Sostegno e la Protezione dell’Infanzia» obligatorische Präventionskurse für Priester, Diakone, Seminaristen, Schulreligionslehrer und Katecheten an. Berichte, die den Bischof oder die diözesane Expertenkommission erreichen, werden an die beiden Kontaktpersonen weitergeleitet», erklärt Nicola Zanini, Delegierter des Apostolischen Administrators des Bistums Lugano. Bei erwachsenen Personen wird vor jedem Verfahrensschritt die Zustimmung des Opfers abgewartet. War das Opfer zum Zeitpunkt der Ereignisse minderjährig, wird die Angelegenheit sofort an den Ordinarius weitergeleitet. Dieser macht eine Meldung an die staatlichen Behörden und leitet eine Voruntersuchung und weitere Verfahren oder Massnahmen ein.
Seit der Veröffentlichung der Pilotstudie gab es im Bistum Lugano zwischen 10 und 15 Meldungen. Eine genaue Zahl ist dem Bistum nicht bekannt, da der Bischof Opfer, die sich nicht direkt an die Kirche wenden wollten, eingeladen hat, sich an die externe Meldestelle zu wenden.

Den Leitartikel zu dieser Ausgabe der SKZ verfasste Bischof Joseph Maria Bonnemain. Der Text strotz nur so von pauschalen (Vor-)Urteilen.

«Seit Jahrzehnten leidet die katholische Kirche unter der Last sexuellen Missbrauchs, von Vertuschungen und klerikalem Egoismus», ist da zu lesen. Selbstverständlich schaden die Missbrauchsfälle der Kirche, doch leidet sie in erster Linie unter dem stärker werdenden Glaubensschwund. Und Egoismus ist beileibe kein Alleinstellungsmerkmal von Klerikern, sondern kennzeichnet auch und nicht zuletzt Laien, die sich in der Pfarreiseelsorge als Möchtegern-Kleriker aufspielen.

«Bereits vor dem 12. September 2023 […] noch intensiver danach, ist die katholische Kirche in der Schweiz dabei, verschiedene Massnahmen zu treffen, um eine angstfreie Kirche zu werden.  […] Lange haben wir Katholikinnen und Katholiken mehr als berechtigte Gründe dafür gehabt, uns zu fürchten. In unserer Kirche wurden Menschen nicht geliebt, sondern missbraucht, verraten, ausgenützt und zutiefst verletzt. Die Menschen hatten recht, sich vor der Kirche zu fürchten, weil sie in ihr alles andere als Liebe erfahren haben.»

Solche Pauschalurteile sind verbale Ohrfeigen für all jene, die überwiegende Mehrheit bildenden kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich mit Liebe und Herzblut für das Evangelium eingesetzt haben und sich noch immer für die Frohe Botschaft einsetzen. Es ist unbestritten: Jeder Missbrauchstäter ist einer zu viel. Aber die penetrante Dauerbewirtschaftung dieser Thematik nicht zuletzt auch in den kircheneigenen Medien vermittelt ein verzerrtes Bild der Realität. Wie ein Priester aus dem Bistum Chur zutreffend feststellte, wird u. a. durch die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen über einen Zeitraum von Jahrzehnten in der Öffentlichkeit der irreführende Eindruck erweckt, die gemeldeten Fälle (von denen längst nicht alle als bewiesen gelten können) hätten sich in den letzten Wochen und Monaten ereignet. Christoph Mörgeli rechnete in seinem Beitrag in der «Weltwoche» aus, dass aufgrund der in der Pilotstudie veröffentlichten Zahlen sieben «Fälle» pro Jahr anzunehmen sind. Sein Fazit: «Alle 250 Jahre kommt in einer römisch-katholischen Kirchgemeinde eine potenzielle (unbewiesene) Straftat vor.» Dies hindert Bischof Bonnemain nicht daran, die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pauschal negativ zu taxieren.

Weiter ist zu lesen: «Es geht dabei um eine umfassende Prävention von Machtmissbrauch und spirituellem sowie sexuellem Missbrauch. Dadurch werden wir erleben können, dass das verschüttete Leben der Kirche wieder seine ursprüngliche Vitalität erlangen kann.»

Glaubt Bischof Bonnemain wirklich, dass die Kirche wieder ihre «ursprüngliche Vitalität» erlangt, wenn es nur genügend Anlaufstellen für Opfer hat? Oder wenn jedes Bistum seinen eigenen Verhaltenskodex besitzt? Ist in seinen Augen wirklich die Missbrauchsprävention der Schlüssel zum Leben in Fülle (Joh 10,10)? Missbrauchsprävention und die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle sind unbestritten notwendig und wichtig, doch das kirchliche Leben wird nicht mit der Zahl der bearbeiteten Missbrauchsfälle zunehmen.

Das kirchliche Leben wird wieder blühen, wenn die Frohe Botschaft Jesu Christi glaubwürdig verkündet und gelebt wird. Dafür brauchen wir Hirten, die überzeugend und überzeugt das Evangelium verkünden. Hirten, die die Verlorenen suchen, die Verletzten verbinden und die Gesunden kräftigen. Bischof Bonnemain, der pauschale Aussagen von sich gibt und dabei zahllose treue kirchliche Mitarbeitende und Ehrenamtliche vor den Kopf stösst und verletzt, hat den Sinn seiner Hirtenaufgabe leider noch nicht verstanden.
 

Die Ausgabe 17/2024 der «Schweizer Kirchenzeitung» ist öffentlich geschaltet, kann also auch ohne Abo gelesen werden. www.kirchenzeitung.ch

 


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

E-Mail

Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitete für die Schweizerische Kirchenzeitung SKZ.


Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

You have reached the limit for comments!

* Diese Felder sind erforderlich.

Bemerkungen :

  • user
    Stefan Fleischer 16.09.2024 um 08:43
    Eine Frage, die sich mir stellt:
    Inwieweit ist der ganze Missbrauchsskandal (innerhalb und ausserhalb der Kirche) nicht auch eine Folge der Tabuisierung der Sünde und der Verharmlosung der Gerechtigkeit Gottes durch eine einseitige Überbetonung der Barmherzigkeit und Liebe Gottes? Wer will sich schon die Mühe machen umzukehren, wenn Gott auch ohne dies alles versteht und alles verzeiht? Mit menschlichen Massnahmen, Vorschriften und Gesetzen werden wir das Problem nicht loswerden.