Blaise Cendrars um 1907. (Bild: August Monbaron (1852-1915), Public domain via Wikimedia Commons)

Hintergrundbericht

Blaise Cen­drars – Dich­ter, Aben­teu­rer, Gottsucher

Der Schrift­stel­ler und Wel­ten­bumm­ler Blaise Cen­drars hat in einem Leben ver­eint, was sonst tau­send Men­schen zusam­men nicht erle­ben. Es gibt kaum ein Land, das er nicht bereist, kaum eine lite­ra­ri­sche Gat­tung, die er nicht revo­lu­tio­niert und kaum eine grosse Gestalt der euro­päi­schen Kul­tur im 20. Jahr­hun­dert, mit der er nicht gezecht, dis­ku­tiert, Freund­schaft gepflegt hat. Und durch die­ses Gebirgs­mas­siv eines Künst­ler­le­bens zog sich wie eine Gold­ader – mal deut­lich, mal ver­steckt – stets auch der christ­li­che Glaube. 1959, zwei Jahre vor sei­nem Tod, kon­ver­tierte der getrie­bene Lebe­mann zur Römisch-​katholischen Kirche.

Blaise Cendrars wird 1887 als Frédéric Sauser in La Chaux-de-Fonds geboren. Sein Vater, ein begeisterungsfähiger Träumer mit äusserst bescheidenen Fähigkeiten, seine wilden Geschäftsideen mit Rentabilität zu verbinden, hält die Familie in steter Unruhe. Die Familie Sauser zieht häufig um und hat mit Geldsorgen zu kämpfen. Frédéric ist ein ängstliches, schwieriges Kind, das von einer schier grenzenlosen Fantasie heimgesucht wird. Eine der halbgaren Geschäftsideen des Vaters verschlägt die Familie schliesslich nach Neapel. In der düster verwinkelten Hafenstadt am Tyrrhenischen Meer begegnet Frédéric das erste Mal einem tief in der Lokalkultur verwurzelte Katholizismus. Er bestaunt die Heiligenbilder in den Kirchen und die Prozessionen durch die engen Gassen. Der Aufenthalt in Neapel dauert nicht lange: Das Bier, das der Vater importieren wollte, übersteht die lange Fahrt im überhitzten Zug nicht und wird ins Meer geschüttet. Aber noch Jahrzehnte später wird Cendrars über diese verzauberte Welt schreiben, in der das Heilige in den engen Gassen zwischen den schreienden Händlern und verkrüppelten Bettlern, unter der zum Trocknen aufgehängten Wäsche anzutreffen ist.

Frédéric ist auf den Geschmack der grossen weiten Welt gekommen. Unmöglich, sich wieder in den langweiligen Schweizer Schulalltag einzureihen! Da wird er kurzerhand nach Russland geschickt, um bei einem Juwelier in die Lehre zu gehen. Sein erstes grosses Abenteuer! Mit kaum siebzehn Jahren fährt Frédéric mit der Transsibirischen Eisenbahn gen Osten. Drei Jahre verbringt er in Russland und langsam reift in ihm der Ruf heran, Dichter zu werden. Kurz versucht er sich in Bern an einem Medizinstudium. In dieser Zeit lernt er seine zukünftige Frau und die Mutter seiner drei Kinder, Féla Poznanska, eine Jüdin aus Łódź, kennen. Bald wird dem ungestümen jungen Mann die Schweiz zu eng. Er lässt also die begonnenen Studien hinter sich und macht sich zusammen mit Féla auf nach Paris. In diese Zeit fällt seine Entdeckung von «Le Latin Mystique: les poètes de l’antiphonaire et la symbolique du moyen âge » von Remy de Gourmont. Das Werk, das sich mit der lateinischen Poesie des Mittelalters befasst, prägt ihn nachhaltig. In diesem Buch begegnet er zum ersten Mal den Geschichten der Heiligen, die ihn ein Leben lang nicht mehr loslassen werden.

In bitterer Armut lebt er in Paris. Langsam reift das Schreiben in ihm heran. In dieser Zeit trifft er all die grossen Künstler, die sich damals in Paris tummeln. Er freundet sich mit Marc Chagall, Picasso, Jean Cocteau und vielen anderen an. Mit Amedeo Modigliani zieht er am liebsten um die Häuser. Mehr als einmal stützt er amüsiert den volltrunkenen Modigliani, der mitten auf der Strasse Verse von Dante grölt. Ein wahres Leben der Bohème! Wild, mausarm, rastlos, gierig, zwischen Anarchisten, Kubisten und all den anderen Ismen, die sich im wilden Paris des frühen 20. Jahrhunderts tummeln. Und doch, als Frédéric, der sich nun Blaise Cendrars nennt, während eines kurzen deprimierenden Aufenthalts in New York sein erstes grosses Gedicht «Les Pâques à New-York» (Ostern in New York) schreibt, handelt es sich um eine einzige herzzerreissende Anrufung Christi. Über Dutzende von Versen hinweg ruft Cendrars immer wieder und wieder Christus an. In der Dichterbrust schlägt ein gläubiges Herz. Sein Leben lang wird das Christliche in seinen Texten auftauchen.

So geistert der heilige Christophorus mit dem Christuskind auf der Schulter durch seine Texte. Als er in einem Fischerörtchen die Netze zum Trocknen ausgelegt sieht, denkt er bewegt an die ersten Apostel. Nie wird er vergessen, dass sie Fischer waren. Die Geschichte von Lazarus beschäftigt ihn nachhaltig und bis zu seinem Tod pflegt er eine innige Verehrung für Maria Magdalena. Lange arbeitet er an einem Buch über die Sünderin, die zum Herrn gefunden hat. Und als er später den immer grösser werdenden Ruhm seiner Surrealistenfreunde zur Kenntnis nimmt, bemerkt er augenzwinkernd, dass er sich lieber an die Heiligen halte, die aus dem Schoss von Mutter Kirche hervorgegangen sind. Cendrars mag ein Abenteurer und Haudegen sein, der sich zu den Abgründen des Lebens hingezogen fühlt, immer ist er aber auch eine fromme Seele. Für Kleingeister mag das ein undenkbarer Widerspruch sein. Für Cendrars ist es gelebte Realität.

Doch vorerst bricht der Erste Weltkrieg aus. Cendrars meldet sich als Schweizer freiwillig für den Kriegsdienst in Frankreich. Er kämpft an der Front und am 29. September 1915, exakt am Todestag seines Helden Remy de Gourmont, zerfetzt eine Granate seinen rechten Arm. Was für viele das Ende bedeutet hätte, ist für Cendrars erst der Beginn. Von nun an hämmert der einarmige Dichter seine Texte halt mit seiner Linken in die Schreibmaschine. Und sein roter Alfa Romeo, den er waghalsig schnell zu fahren liebt, lässt sich auch mit einer Hand lenken.

Nach dem Krieg wird Cendrars nach und nach in weiteren Kreisen berühmt. Er schreibt unermüdlich, arbeitet im Film, bereist als Reporter unzählige Länder, darunter immer wieder Brasilien, das ihm besonders ans Herz gewachsen ist. Im Zweiten Weltkrieg arbeitet er als Korrespondent für die englische Armee, zieht sich dann jedoch nach Südfrankreich zurück. In Aix-en-Provence lernt er den im Widerstand aktiven Dominikanerpater Brückberger kennen. Tagelang unterhalten sie sich über den christlichen Glauben. Cendrars bewundert die Mönche. Das Klosterleben fasziniert ihn und zeitweise erwägt er ernsthaft, in den Trappistenorden einzutreten. Der Dichter, der in der Anbetung verstummt – die Vorstellung gefällt Cendrars. Doch dazu kommt es dann doch nicht. Eine Weile stellt er tatsächlich alle dichterische Produktion ein, doch Cendrars ist zu sehr Dichter. Als einer seiner Söhne als Pilot in die Armee eintritt, macht er sich sogleich daran, einen Schutzpatron für die Piloten zu suchen und dessen Geschichte zu verschriftlichen. Wer anders könnte das sein als der heilige Josef von Copertino, der im Gebet in die Luft zu fliegen pflegte? Das grösste Geschenk, das der besorgte Vater seinem Sohn machen kann, ist eine Dichtung über einen Heiligen.

Der Ruhm Cendrars wächst beständig. Seine Bücher werden in unzählige Sprachen übersetzt. Er ist umschwärmt von Verehrern und Bewunderern. Cendrars ist ein berühmter Mann. Eine Rolle, die ihm keineswegs nur behagt. Umso freudiger nimmt er die Rolle des Grossvaters an, als seine Enkelin Marine geboren wird. Der Name stammt, auf Wunsch des Grossvaters, aus der «Legenda Aurea» von Jacobus de Voragine.

1956 erleidet Cendrars den ersten von mehreren Schlaganfällen. Das Schreiben bereitet ihm zusehends Mühe. Langsam verstummt der Dichter nun doch. 1959 konvertiert er zum katholischen Glauben. 1961 stirbt Blaise Cendrars im Beisein seiner zweiten Frau und seiner Tochter, die in ihrer grossen Biografie ihres Vaters festhält, dass der zeitlebens getriebene Cendrars im Tod Frieden gefunden hat. Die Tochter hält seine Hand. Die Ehefrau Raymone drückt ihm sanft die Augen zu. Dann beten die beiden Frauen an seinem Bett das «Vaterunser».


Silvan Beer

Silvan Beer (Jg.1992) wuchs im Emmental auf und lebt gegenwärtig in Fribourg. Er studierte Theologie und Philosophie in Bern, Fribourg und Rom und schreibt literarische und journalistische Texte.


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    Martin Meier-Schnüriger 10.11.2024 um 07:07
    Bei aller Bewunderung für den frankophonen Schweizer Schriftsteller Blaise Cendrars wollen wir nicht vergessen, dass es gerade in diesen Tagen das Andenken an einen grossen christlichen Schriftsteller zu bewahren gilt, der vorwiegend in Schweizer Mundart, genauer gesagt in Berndeutsch, geschrieben hat. Am 18. Oktober waren es 90 Jahre her, seit Rudolf von Tavel, der Begründer der Berner Dialektliteratur, gestorben ist. Tavels historische Romane und seine Kurzerzählungen sind durchdrungen von einem tiefen Glauben. Seine Helden sind Menschen, die in ihrer Pflichterfüllung ihre Lebensaufgabe sehen, die "täglich ihr Kreuz auf sich nehmen". Anders als Cendrars konvertierte von Tavel nicht zum katholischen Glauben, doch sowohl in seinen Werken als auch in persönlichen Äusserungen verspürt man eine grosse Verehrung für die "allei sälig Machendi", wie er die katholische Kirche in seinem Roman "Ds verlorene Lied" nennt. Besonders verehrte er den hl. Bruder Klaus. Seine Verankerung im Protestantismus, bedingt in erster Linie durch seine Liebe zu seiner bernischen Heimat, liess ihn nie zum Apologeten werden; im Gegenteil kritisierte er insbesondere die allzu starke Verbandelung der reformierten Landeskirche mit dem Staat. So brach er denn innerhalb des Protestantismus immer wieder eine Lanze für die freikirchlichen Bewegungen, etwa die Täufer im 17. oder die so genannten "Erweckungen" und die Heilsarmee im 19. Jahrhundert. Mit katholischen Schriftstellerkollegen seiner Zeit korrespondierte er eifrig und bekam von ihnen in der Regel sehr wohlwollende Feedbacks für seine eigenen Werke. Die katholischen "Neuen Zürcher Nachrichten" veröffentlichten bei seinem Tod im Oktober 1934 einen Nachruf, der die grosse Wertschätzung ausdrückte, welche dieser christliche Schriftsteller auch in katholischen Kreisen genoss und immer noch zu geniessen verdient.
    • user
      Meier Pirmin 10.11.2024 um 08:11
      Dieser Artikel eines jungen Mitarbeiters lässt für die hier gepflegte Publizistik Hoffnung schöpfen; Blaise Cendrars gehört zur Generation von le Corbusier, der mit 18 Jahren seinen Eltern in La Chaux de Fonds ein heute noch äusserst sehenswertes, echt originell gebautes Einfamilienhaus konzipierte, zu einer Zeit, da der revolutionäre Architekt, der übrigens den Abbruch der Altstädte forderte, noch eine Art Jugendstil pflegte, jedoch bereits genial eigensinnig. Rudolf von Tavel in Ehren, sein Andenken ist wohl noch auf seinen runden 100. Geburtstag aufzusparen, im heutigen Bern ist er leider alles andere als aktuell; dem noch umstrittenen immerhin aus Tavels Milieu stammenden Stadtpräsidenten droht die Abwahl, er entsetzte sich neulich über Trumps Wahl, was ihm aber vielleicht sogar noch einige bürgerliche Stimmen kosten wird.
      Was Blaise Cendrars über die Verbandelung der bernischen Kirche mit dem Staat schreibt, fiel eine Generation vorher schon dem Lyriker und streitbaren evangelisch-konservativen Publizisten Uli Dürrenmatt auf, der die schikanöse Jurapolitik Berns, besonders des Kirchendirektors, scharf kritisierte. Ehrlich gesagt ist der Grossvater Friedrich Dürrenmatts, auch enger Freund des abgewählten Bundesrates Ochsenbein, heute eher aktueller als es von Tavel, den ich zur antiquarischen Historie rechne, noch sein kann; immerhin pflegt ein guter Kollege von mir, Pfarrerssohn, noch regelmässig auch dessen Andenken. Der Artikel aber von Silvan Beer ist ein Zeichen der Hoffnung, Blaise Cendrars einer der heute noch wichtigen Westschweizer Schriftsteller.