Ein-Dollar-Note mit dem Spruch: «In God we trust».

Kommentar

Chris­ten in der Poli­tik – (K)ein Grund zur Sorge

Im Okto­ber 2022 wurde Euge­nia Roc­cella Mit­glied der ita­lie­ni­schen Regie­rung und über­nahm das Minis­te­rium für Fami­lien, Gebur­ten und Gleich­be­rech­ti­gung. Es han­delt sich nicht um ein Minis­te­rium, das nor­ma­ler­weise viel Beach­tung aus­ser­halb Ita­li­ens erhält.

Auch wird der ersten Regierungschefin Italiens, Giorgia Meloni, vieles vorgeworfen, aber nie, dass sie zu wenig Material für Journalisten liefern würde. Wenn also unter anderem die NZZ Frau Roccella einen Artikel widmete, dann ging es ihr nicht einfach darum, der Italien-Korrespondentin wieder einmal eine Plattform zu geben. Frau Roccellas Ernennung gibt zu schreiben, weil sie als «theokonservativ» gilt. Der Theokonservatismus sei «eine politische Ideologie […], welche für eine grössere Rolle von religiösem Glauben in der Tagespolitik steht […]. Die Anhänger dieser Form des gesellschaftspolitischen Konservatismus fordern, dass Gottes Gebote aus der Bibel eine grössere Rolle im öffentlichen Leben spielen sollten und vom Staat umzusetzen seien.»1

Frau Roccellas Ernennung ist nicht primär medienwirksam, weil sie konservativ und religiös ist, sondern weil sie Politik und Religion explizit nicht trennt. Damit rührt sie tief am modernen Staats- und Politikverständnis, insbesondere an dessen Gebot der Trennung von Politik und Religion sowie der weltanschaulichen Neutralität des Staates. Ein solcher Theokonservatismus widerspricht dem heutigen Verständnis des Religionsverfassungsrechts, also der Art und Weise, wie der moderne Nationalstaat seine Beziehung zu Religionsgemeinschaften normiert. Doch sind die Trennung von Politik und Religion und die weltanschauliche Neutralität des Staates nicht Garanten für den religiösen Frieden und die allgemeine Ordnung? Drohen bei Verletzung dieser Grundsätze nicht religiöse Gewalt und ein religiös-moralistischer, unfreier Staat? Das Verhältnis von Religion und Staat oder Politik wird auch in der Theologie diskutiert, unter anderem vom amerikanischen Theologen William Cavanaugh2. In seinem Buch «Theopolitical Imagination» (2003) räumt er mit Mythen um den modernen Nationalstaat und dessen Verhältnis zur Religion auf. Seine Erkenntnisse erlauben einen differenzierteren Blick auf die Situation.

Gesellschaftliche Umbruchprozesse
Es ist das verbreitete Narrativ, dass der moderne säkulare Nationalstaat die Antwort auf die Religionskriege der Neuzeit gewesen sei: Da sich die Volksgruppen aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zur Religion unablässig mit religiösem Eifer bekriegten, sei der säkulare Staat nötig gewesen, um die Religionsgemeinschaften zu bändigen und für Friede und Ordnung zu sorgen. Dies sei in erster Linie durch eine Trennung von Religion und Politik/Staatswesen geschehen. Cavanaugh bestreitet diese Darstellung, die er als den Gründungsmythos des modernen Nationalstaates bezeichnet. Dabei gibt er zu, dass die Religion bei den Kriegen des 16./17. Jahrhunderts selbstverständlich eine wichtige Rolle spielte – wie sie eine wichtige Rolle in allen Bereichen des Lebens und der Politik innehatte. Doch lehnt er das Erklärungsmuster ab, das besagt, dass eine Vermischung von Religion und Politik zu den Kriegen führte und die Trennung den Frieden wiederherstellte. Denn diese Trennung von Religion und Politik gab es vor der Erfindung durch Philosophen wie Thomas Hobbes und Gefährten nicht, weil sie schlicht nicht denkbar war. Sie war auch keine Folge der Religionskriege, da sie überhaupt erst 150 Jahre nach dem Dreissigjährigen Krieg das erste Mal umgesetzt wurde: in den Vereinigten Staaten von Amerika. Nicht die Vermischung von Religion und Politik verursachte die sogenannten Religionskriege, sondern die gesellschaftlichen Umbruchprozesse, die zum modernen Staat führten. Die Religion war dabei kein unabhängiger Faktor und darf nicht in der Rückschau von anderen Ursachen getrennt werden. Die Kriege waren, um mit Cavanaugh zu sprechen, die «Geburtswehen» des modernen Nationalstaates. Die Religionskriege waren so gesehen nicht das Problem und der säkulare Staat die passende Lösung. Vielmehr gab es die Kriege gerade wegen der Entstehung des modernen Staates. Diese Form der Organisation von Gesellschaft konnte sich gegenüber anderen durchsetzen, weil sie – aufgrund einer effizienten Bürokratie – besser darin war, Krieg zu führen. Krieg war also Ursache und Mittel für die Errichtung der modernen Nationalstaaten.

Übernahme des Heiligen in den Nationalstaat
Nach der Widerlegung des Gründungsmythos, der den Staat als Friedenstifter zwischen den kriegerischen Religionen darstellt, argumentiert Cavanaugh, dass es die Trennung von Religion und Politik auch später nie wirklich gab, weil der Staat die Religion nicht von sich trennte, sondern sie zu dominieren begann. Dies erklärt Cavanaugh mit dem Terminus «migration of the Holy». Dies ist Cavanaughs Gegenentwurf zur klassischen Säkularisierungsthese, die davon ausgeht, dass Religion in modernen Gesellschaften zunehmend verdunstet. Cavanaugh beschreibt nicht eine Loslösung vom Heiligen, sondern eine Übernahme und Integration des Heiligen in den Nationalstaat. Die Übernahme funktioniert so, dass der Staat eine säkularisierte Ekklesiologie, Liturgie und Soteriologie annimmt. Diese theopolitischen Konzepte sind nicht so verschieden von den ursprünglichen christlichen Vorbildern, wenn man beispielsweise den Begriff des «Staatskörpers» als säkularisierte Version einer Leib-Christi-Ekklesiologie versteht. Hinzukommen liturgische Elemente wie Flaggen- und Hymnenkulte, um die Zugehörigkeit der Individuen zum Staat zu bestärken. Zu guter Letzt bietet der Nationalstaat eine eigene Erlösungslehre, indem er Frieden unter den sich potenziell immer gewalttätig bekriegenden Individuen verspricht. Dahinter versteckt sich zudem die im Minimum partiell fragwürdige Anthropologie des «homo hominis lupus», also das Bild des Menschen, dem immer nur darum gelegen sei, seine Mitmenschen zu schikanieren.

Der Staat weist das Heilige nicht in die angeblich angemessenen Schranken, sondern ersetzt die christlich-theologischen Konzepte zur Gestaltung von Gemeinschaft schlicht durch säkularisierte Theologien. Angesichts dieser Feststellungen muss die Frage bezüglich der Trennung von Religion und Politik neu gestellt werden. Es kann nicht mehr darum gehen, ob sie getrennt oder vermischt werden dürfen. Der Staat ist stets theologisch oder, um es mit Cavanaugh zu sagen, theopolitisch. Die Frage müsste vielmehr lauten, ob die vom Staat angebotene Theologie besser ist als die christliche Variante. Ist die dem modernen Nationalstaat zugrunde liegende Vorstellung von Gemeinschaft (Ekklesiologie), vom Menschen (Anthropologie) und vom Heil (Soteriologie) dem christlichen Denken vorzuziehen?

Eigene «Politik» der Kirche
Cavanaugh arbeitet in seinem Gesamtwerk immer wieder die Unterschiede der säkularen Staatstheologie und der christlichen Theologie heraus und kommt zum Schluss, dass vielen säkularen Konzepten keinesfalls den Vorzug zu geben sei. Er weist auf die fragwürdige Anthropologie des vereinzelten Menschen, den totalitären Hang und die leeren Heilsversprechen des Staates hin. Solche Defizite treten in menschenverachtenden Diktaturen wie – und hier weiss Cavanaugh aus eigener Erfahrung zu berichten – Chile unter Pinochet und den Unrechtsstaaten des 20. Jahrhunderts offen zu Tage. Aber auch demokratische Staaten bauen immer wieder auf fragwürdigen Theologien auf, was sich zum Beispiel bis in die Konstruktion des Sozialstaates auswirkt, obwohl dieser in vielerlei Hinsicht als Errungenschaft zu begrüssen ist. Aber gerade dort wird eine Vereinzelung und Abhängigmachung des einzelnen Individuums vom Staat offensichtlich: Der Staat ist das alleinige Gegenüber des Individuums und das Individuum ist ganz auf ihn angewiesen. Dies stellt nicht die soziale Wohlfahrt per se infrage – das wäre Cavanaugh fern –, aber weist auf womöglich problematische theopolitische Konzepte hin.

Alternative Gemeinschaftsformen neben dem Staat – wie die Kirche – sind für solche Staaten immer potenziell subversiv und gefährlich, da sie das Individuum vom Staat unabhängiger machen könnten. Im schlimmsten Falle fordern sie den Staat sogar irgendeinmal heraus. Deswegen besteht aus Sicht des Staates der ständige Druck, solche Gemeinschaften dem säkularen Dogma, dem staatlichen Gründungsmythos, unterzuordnen. Angesichts dieser Erkenntnisse stellen sich für die Kirche heute einige weiterführende Fragen: Auf welche Weise kann und muss die Kirche ihre sakramentale Sendung als Gemeinschaft des Leibes Christi wahrnehmen? Welcher Art ist die eigene «Politik» der Kirche, damit sie nicht nur ein Bestandteil der staatlichen Selbstsakralisierung wird? Das wird eine der wichtigsten Fragen für die Zukunft der Kirche sein!

Wenn nun in Italien eine theokonservative Ministerin am Werk ist, die sich explizit theologischen Ideen verschrieben hat, dann muss dies nicht per se ein Grund zur Sorge sein. Es handelt sich um keinen zivilisatorischen Rückschritt mit dem Risiko von Mord und Totschlag im Namen der Religion. Frau Roccella bringt mit ihrer Religion nichts in die Politik, was nicht schon dort war, wenn auch verborgen und unter anderem Namen. Vielleicht bringt sie eine Theologie in die Politik, die bisherigen, unreflektierten Ideen überlegen ist. Vielleicht deckt sie nur die theopolitische Natur der Politik etwas mehr auf und scheitert ansonsten mit ihren Ideen. So oder so bewegt sie sich auf dem gemeinsamen Feld von Religion und Politik, ohne so zu tun, als wären diese zwei Dinge zu trennen.

 


1 Vgl. für alle Bezugnahmen, Sauer, Ulrike: Die Frontfrau der konservativen Wende in Italiens Familienpolitik, NZZ-Artikel (online) vom 13. November 2022, https://www.nzz.ch/international/erzkonservative-wende-in-italiens-sozialpolitik-ld.1710958, abgerufen am 15. Februar 2023.
2 William T. Cavanaugh (Jg. 1962) ist ein amerikanischer Theologe. Er lehrt an der «DePaul University» in Chicago.


Max Ammann

MLaw utr. iur. & BTheol. Max Ammann studiert gegenwärtig Theologie mit Spezialisierung in Kirchengeschichte an der Universität Freiburg i. Ü. Als Jurist setzt er sich vor allem mit Fragen des Staats- und Religionsverfassungsrechts auseinander.


Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

You have reached the limit for comments!

* Diese Felder sind erforderlich.

Sei der Erste, der kommentiert