Bereits formal springen die Unterschiede ins Auge: Der Churer Verhaltenskodex umfasst 29 Seiten (ohne Glossar), jener der Diözese Sitten (wiederum ohne Glossar) 9 Seiten. Geschuldet ist der mehr als dreifache Umfang der Churer Version vornehmlich den die Lektüre unnötig störenden, zum besseren Verständnis der Missbrauchsthematik wenig bis gar nichts beitragenden Illustrationen, gespickt mit Zitaten ohne Quellenbelege.
Verfasst haben den Churer Verhaltenskodex Karin Iten und Stefan Loppacher. Letzterer war Priester im Bistum Chur, doktorierte in Rom zum Thema «Kirchliches Strafverfahren und sexueller Missbrauch Minderjähriger». In seiner Eigenschaft als Präventionsbeauftragter des Bistums Chur gab er der Zeitschrift «Der Beobachter» 2023 ein Interview, in welchem er seinen Sinneswandel vom Paulus zum Saulus wie folgt umschrieb: Gott spiele in seinem Leben keine Rolle mehr. «Für mich fühlt es sich so an, als hätte er Suizid begangen, als wäre er einfach nicht mehr da. Er fehlt mir überhaupt nicht.» Nur noch ganz selten gehe er in eine Kirche, und wenn dann eine Liturgie stattfinde, müsse er sofort wieder raus. Irgendwelche Skrupel, sich von einer Institution seinen Lebensunterhalt finanzieren zu lassen, deren Existenzberechtigung er in Abrede stellt, sind ihm fremd.
Karin Iten hatte an der ETH Umweltwissenschaften studiert. Über eine Ausbildung im Bereich Prävention sexueller Übergriffe verfügt sie nicht. Punkten kann sie hingegen mit ihrer Tätigkeit bei «Limita», einer Organisation zur Prävention sexueller Ausbeutung. In einem «Limita»-Leitartikel verstieg sie sich zur Parole: «Es gehört zur zentralen Entwicklungsaufgabe von Kindern und Jugendlichen, erste Lernerfahrungen rund um Sexualität unter Gleichaltrigen zu machen und dabei Grenzen auszuloten – und diese manchmal auch unbeabsichtigt zu überschreiten.» Dem Papst wirft sie vor, nicht zwischen legaler und illegaler Pornographie unterscheiden zu können. Als sie im August 2023 ihre Stelle als Präventionsbeauftragte des Bistums Chur kündigte, war der mediale Aufschrei gross. Die Demission dieser «hochqualifizierten Fachperson» sei eine Katastrophe, lamentierte Sibylle Ratz von der Zürcher Kantonalkirche.
Inzwischen hat auch Stefan Loppacher als Präventionsbeauftragter des Bistums Chur am 29. Mai 2024 gekündigt – allerdings nur, um gleichzeitig seinen fliegenden Wechsel zur neu geschaffenen nationalen Dienststelle «Missbrauch im kirchlichen Kontext» bekannt zu geben. Seine Kündigung hatte Loppacher mit Differenzen mit Bischof Bonnemain begründet. Grotesk: Denn Loppacher wird als zukünftiger Chef dieser nationalen Dienststelle weiterhin mit eben diesem Bischof Bonnemain kutschieren müssen, der in der Bischofskonferenz just für das Missbrauchsdossier zuständig ist.
Abgestrittener Interessenskonflikt
Nun hat sich das schillernde Duo nach kurzer Trennung wieder gefunden. Wie das Berner Pfarrblatt vermeldete, haben Stefan Loppacher und Karin Iten zusammen mit Ute Spiekermann den Verein «MachtRaum» gegründet. Gemäss Selbstbezeichnung wendet sich der Verein an Organisationen, die «aufgrund von Machtgefälle und Überhöhungen strukturell anfällig für Missbrauch sind». Absehbare Interessenskonflikte liegen auf der Hand, bleibt doch Loppacher weiterhin als Leiter der von der Bischofskonferenz und der Römisch-katholischen Zentralkonferenz geschaffenen Dienststelle «Missbrauch im kirchlichen Kontext» tätig – von der Einsicht in die Evidenz dieses offensichtlichen Interessenskonflikts bleibt Loppacher indes völlig verschont.
Ein solcherart vorbelastetes Autorenprofil musste unweigerlich auf Inhalt und Duktus des Verhaltenskodexes durchschlagen. Es beginnt im Vorwort mit seiner obsessiven Fixierung auf den Begriff «Macht». Da ist unentwegt von «Machtmissbrauch», «Machtreflexion», «Machtgefälle» und «Machtpositionen» die Rede. Paradigmatisch für diese Machtpsychose steht das Kapitel «Grundhaltungen». Es enthält neun Abschnitte. Jeder beginnt mit den Worten «Macht und …»: von «Macht und Bescheidenheit» über «Macht und Kritisierbarkeit» bis zu «Macht und Besprechbarkeit».
Penetrant-belehrend wirkt der im ganzen Text in der «Ich-Form» gehaltene Duktus, der sogar dem «Tages-Anzeiger» auf den Keks ging: «Auch in meiner Machtposition bleibe ich ein Mensch»; «Ich lege Wert auf eine hohe Bereitschaft zur aktiven Selbsthinterfragung»; «Ich weiss, dass auch ich trotz meines kirchlichen Auftrags oder klerikalen Status kein perfekter Mensch bin».
Die einschlägigen Textpassagen lesen sich über weite Strecken wie ein Beichtspiegel mit umgekehrten Vorzeichen. Man wird den Eindruck nicht los, das Duo Loppacher-Iten sässe liebend gerne selbst im Beichtstuhl, um die Einhaltung ihres Verhaltenskodexes abfragen zu können.
Wer wie das Kaninchen auf die Schlange derart gebannt-fasziniert auf das vielschichtige Phänomen «Macht» starrt, ist gehalten, sich vorgängig auf philosophisch-theologischer Ebene damit auseinanderzusetzen und sich darüber Klarheit zu verschaffen. Denn es lässt sich nicht bestreiten, dass «Macht» die unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass Gutes erst ermöglicht wird und tatsächlich auch geschieht. Doch nichts von alledem. «Macht» wird im Churer Verhaltenskodex unreflektiert als rein negativ besetzter Begriff vorausgesetzt. Zu welch grotesken Verirrungen eine solch eindimensionale Sichtweise führt, lässt sich exemplarisch im Kapitel «Grundlagen» ablesen, worin allen Ernstes vor einem «Elitedenken» gewarnt wird. Als ob gesellschaftliche, staatliche oder kirchliche Organismen ohne Eliten auf Dauer existieren könnten.
Selbstredend wird der negativ konnotierte Begriff «Macht» vorzugsweise am Feindbild «Klerus» bzw. «klerikaler Status» festgemacht – ganz schön aus der Zeit gefallen. Denn wem der Bezug zur kirchlichen Realität von heute nicht gänzlich abhandengekommen ist, kommt um die Feststellung nicht herum, dass der Begriff «Ohnmacht» den tatsächlichen Status des Priesters im kirchlichen Leben der Gegenwart weit adäquater umschreibt.
Eine derart antiklerikal aufgeladene DNA kann schnell einmal selbst übergriffig werden. So etwa, wenn apodiktisch dekretiert wird, dass halbabgedunkelte, enge Beichtstühle für Beichten nicht geeignet seien (S. 19). Gerade Beichtstühle, welche unabhängig vom Beleuchtungsfaktor mit einem festen Gitter zwischen Pönitent und Beichtvater ausgestattet sind (vgl. can. 964 § 2 des kirchlichen Gesetzbuches), stellen eine angemessene Vorsichtsmassnahme dar. Umgekehrt ist der Alternativvorschlag von Loppacher und Iten, für Beichtgespräche sollen «diskrete Möglichkeiten» geschaffen werden, geradezu ein Passepartout für potentielle Missbräuche.
Geradezu inquisitorische Qualität muss dem Kapitel 2 (Umsetzung, S. 6) attestiert werden. Eine Kontrollpsychose sondergleichen macht sich hier breit. Auch im Falle einer kirchlichen Ernennung ohne neues Anstellungsverhältnis müsse der Verhaltenskodex zum wiederholten Mal unterzeichnet werden. Die Anforderungskaskade schliesst mit einer anmassenden Drohgebärde: «Eine Verweigerung der Unterschrift zeigt massive Qualitätsdefizite in der Reflexionsfähigkeit, da die Person zu Pauschalurteilen neigt oder das Anliegen der Prävention nicht genügend mitträgt. Von einer weiteren Zusammenarbeit ist abzusehen.» Wenn das kein Paradebeispiel eines Machtmissbrauchs ist!
Der Verhaltenskodex der Diözese Sitten
Der Verhaltenskodex der Diözese Sitten liegt zur Zeit erst in französischer Sprache vor («Code de conduite»). Wie Generalvikar Pierre-Yves Maillard gegenüber «swiss-cath.ch» versicherte, wird eine inhaltlich identische deutschsprachige Übersetzung spätestens im Herbst des laufenden Jahres erfolgen.
Im Vorwort stellt Diözesanbischof Jean-Marie Lovey klar, dass sich Missbräuche welcher Art auch immer nie ganz verhindern lassen werden, aber gleichwohl alles getan werden muss, um solche in der Zukunft zu verhindern. Dieser Zielsetzung soll der vorliegende Verhaltenskodex dienen, welcher von der diözesaneigenen, unabhängig arbeitenden Präventionskommission erstellt wurde.
Die sachbezogene, knappe und doch stets die wesentlichen Elemente der Missbrauchsthematik im Auge behaltende Verhaltenskodex hebt sich wohltuend ab vom ausschweifenden, polemisch-belehrenden Gegenstück der Diözese Chur, in welchem es primär nicht um eine zukunftsgerichtete Prävention ging, sondern vielmehr um eine ressentimentdurchtränkte Abrechnung mit dem «System Kirche».
Als vordringliches Ziel wird im Sittener Verhaltenskodex die Schaffung einer tatsächlichen Kultur der Prävention genannt, welche primär dem Schutz der psychischen, physischen und spirituellen Integrität all jener Menschen dienen soll, die mit dem «Agents pastoraux» in Kontakt kommen. «Agents pastoraux»: Damit sind all jene gemeint, die – ob Priester, Diakone oder Laien – vom Bischof mit einer Missio beauftragt wurden, unabhängig von ihrer Ausbildung und ihrem Beschäftigungsgrad.
Als eigentliche, rundum gelungene Innovation darf das Kernstück des Sittener Verhaltenskodex bezeichnet werden: die auf drei Seiten klar gegliederte, in verständlicher Sprache verfasste Auflistung der einerseits vom kirchlichen Personal erwarteten und andrerseits mit einem Tabu belegten Haltungen und Verhaltensweisen («Conduites attendues et proscrites»). Sie betreffen folgende Bereiche:
- Würde
- Integrität
- Intimität und Vertraulichkeit
- Autonomie und Selbstbestimmung
So heisst es beispielsweise zum Stichwort «Autonomie und Selbstbestimmung»: Jede Person zum selbstständigen Denken ermutigen, akzeptieren, dass die eigene Meinung infrage gestellt wird; den eigenen Status als Autoritäts- oder Vertrauensperson nicht missbrauchen, um auf das Gewissen einer anderen Person Druck auszuüben.
Nota bene: Der Text des Verhaltenskodex wurde vom Bischof und vom Bischofsrat begutachtet und genehmigt. Ob analog der Churer Verhaltenskodex ebenfalls vom Bischofsrat genehmigt wurde, ist nicht belegt.
Fazit des Verhaltenskodex der Diözese Sitten: L’exemple est à suivre!
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Reflektive Supervision bleibt nur ethisch und nimmt die menschliche Beschaffenheit zum Masstab. Des Brevier führt hingegen über das Subjekt hinaus und gewährleistet die heilige Distanz. Abstinenz als psychologische Übung führt die Seele nicht zum Ziel.
Blinde führen Blinde und fallen beide in die Grube.
Mir stellen sich folgend Fragen: Wie gross ist der Verhaltenskodex in anderen Berufen, z.B. Arzt, oder Maurer, oder LKW Fahrer. Benötigen diese Berufsgruppen auch einen Kodex, oder können sie ihren Beruf einfach mit dem erlernten Anstand ausführen?
Warum ist es in diesem kleinen Land nicht möglich, dass für solche Fragestellungen eine einheitliche Version initiiert und umgesetzt wird? Für die Lösung des Problemes ist endlich eine Zusammenarbeit nötig mit einheitlichen Regelungen.
Dies gilt auch für viele andere Fragestellungen: Berufsbezeichnungen, Zulassungen zu Ausbildungen, Ausbildungswege usw.
Synergien sind eingefordert - sowohl von den Mitgliedern der Bischofskonferenzen als auch von den verschiedenen kantonalen Körperschaften.
Lassen wir Iten einmal aussen vor. Hauptverantwortung für das Pamphlet das wie eine Kapitulation des Klerus daherkommt, ist der Bischof und sein Knecht L, der offenbar seine Aggressionen abarbeiten muss. Und Bonnemain bietet dazu Hand, hier liegt der eigentliche Skandal.
Wo ist da die Liebe zum Hohenpriester Jesus Christus, nach der Jesus den Petrus dreimal gefragt hat?