Die Karlsruher Richter machten nicht nur das Verbot von Sterbehilfevereinen rückgängig. Zugleich dekretierten sie, dass jeder Mensch das verfassungsmässig geschützte Recht habe, sich selbst zu töten. Einzige Voraussetzung: Der Sterbewillige entscheidet sich aus freiem Willen dazu – egal ob jung oder alt, gesund oder krank oder einfach nur lebenssatt.
Unmittelbar nach dem Urteil veröffentlichten Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, und Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Landesvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, eine gemeinsame Erklärung. Sie warnten: «Je selbstverständlicher und zugänglicher Optionen der Hilfe zur Selbsttötung nämlich werden, desto grösser ist die Gefahr, dass sich Menschen in einer extrem belastenden Lebenssituation innerlich oder äusserlich unter Druck gesetzt sehen, von einer derartigen Option Gebrauch zu machen und ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten.» Die Würde und der Wert eines Menschen dürfen sich nicht nach seiner Leistungsfähigkeit, seinem Nutzen für andere, seiner Gesundheit oder seinem Alter bemessen.
Fünf Jahre später herrscht Verunsicherung. Rechtliche Folgerungen aus dem Urteil sind auf halber Strecke stecken geblieben. Karlsruhe hatte den Gesetzgeber aufgefordert, einen Rahmen für Suizidbeihilfe zu schaffen, um Freiwilligkeit zu garantieren und Missbrauch zu verhindern. Gerichtspräsident Andreas Vosskuhle betonte damals, der Staat könne etwa Aufklärungs- und Wartepflichten für Suizidwillige festlegen, die Zuverlässigkeit von Sterbehilfevereinen prüfen und besonders gefahrenträchtige Formen der Suizidbeihilfe verbieten. Entsprechende Gesetzentwürfe scheiterten 2023 im Bundestag.
«Gewisse Sättigung»
Unterdessen steigt die Zahl der Selbsttötungen, die mithilfe von Sterbehilfeorganisationen durchgeführt werden. Die «Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben» teilte Mitte Januar mit, dass 2024 bundesweit insgesamt 1200 Menschen mit Hilfe von Suizidbegleitern gestorben seien. Präsident Robert Rossbruch spricht allerdings von einer «gewissen Sättigung».
Experten sehen den Bereich der Suizidbeihilfe derzeit als eine Blackbox an: Die Bundesärztekammer spricht von einem «ungeregelten Zustand», der auch für Ärztinnen und Ärzte problematisch sei. Es brauche dringend eine gesetzliche Neuregelung, sagte Ärztepräsident Klaus Reinhardt. Leitend müsse der Gedanke sein, der Selbstbestimmung des Einzelnen gerecht zu werden und zugleich eine gesellschaftliche Normalisierung des Suizids zu verhindern.
Experten beklagen, dass die Praxis der Suizidbeihilfe weithin im Dunkeln liegt. Für etwas mehr Wissen sorgte kürzlich eine auf die Stadt München begrenzte Studie, für die ein Forschungsteam aus Gesundheitsamt und Rechtsmedizin alle Sterbeakten seit 2020 ausgewertet hat.
Angst vor Verlust der Würde
Demnach waren es entgegen einer landläufigen Meinung in fast allen Fällen nicht Sterbenskranke, die ein todbringendes Medikament einnahmen. Entscheidender sei der Wunsch gewesen, selbstbestimmt aus dem Leben zu gehen. «Wir haben gesehen, dass es alte Menschen sind, die Angst haben, ihre Würde zu verlieren, wenn sie pflegebedürftig werden», sagte Amtsärztin Sabine Gleich. Es drängt sich die Frage auf, ob diese Angst mit dem chronischen Pflegenotstand in den Einrichtungen des Gesundheitswesens zu tun hat
Sie stellte auch fest, dass Gutachtenerstellung, Medikamenten-Verordnung auf Privatrezept, Suizidassistenz und ärztliche Leichenschau in einem erheblichen Teil der Fälle in der Hand eines einzigen Arztes lagen – es fehle weithin an Kontrolle. Notwendig wäre ein Vier-Augen-Prinzip.
Mit den praktischen ethischen Fragen befasst sich auch ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes «Forschungsnetzwerk zur Suizidassistenz». Insbesondere Ärzte sollen künftig auf Instrumente zur Beurteilung der Selbstbestimmungsfähigkeit von Patienten bei Wünschen nach assistiertem Suizid zurückgreifen können sowie auf Qualitätskriterien für die Dokumentation und Aufklärungs- und Beratungsgespräche. Die Ergebnisse sollen im Frühjahr vorgestellt werden. Wie Suizidbeihilfe verantwortbar durchgeführt werden kann, ist auch Thema bei der «Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften» (AWMF). Sie arbeitet an einer Leitlinie zum «Umgang mit Anfragen nach Assistenz bei der Selbsttötung».
Offene Fragen bei Heimen und Krankenhäusern
Unklarheiten und Verunsicherung gibt es auch bei vielen Alters- und Pflegeheimen, Krankenhäusern, Hospizen und weiteren Einrichtungen, wie sie mit den Sterbewünschen ihrer Patientinnen und Patienten und Bewohner umgehen sollen. Katholische Träger lehnen assistierten Suizid weithin ab; evangelische Träger sind da weniger auf den Lebensschutz fokussiert. Die «Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben» hat angekündigt, die Haltung katholischer Einrichtungen vor Gericht anzufechten. «Das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben steht über dem Hausrecht katholischer Träger», unterstreicht Präsident Rossbruch.
Die Position der «Deutschen Bischofskonferenz» zur Sterbehilfe ist klar: Gott hat den Menschen als sein Abbild geschaffen und ihm eine unantastbare Würde verliehen. Aus der Überzeugung, dass das menschliche Leben von Gott geschenkt ist, folgt die Überzeugung, dass der Mensch keine volle Verfügungsgewalt über sein Leben haben kann. «Christen müssen bekennen: In Würde stirbt, wer anerkennt, dass sein Leben als solches unverfügbar ist.» Die Entscheidung gegen das eigene Leben, auch wenn es durch Schmerzen und Leid geprägt ist, widerspricht fundamental dem Wesen des Menschen. «Sterben in Würde zu ermöglichen, bedeutet aus christlicher Sicht, dass der Sterbende an der Hand eines Menschen stirbt und nicht durch sie.» Die DBK sieht den Staat in der Pflicht, flächendeckende medizinische und pflegerische Begleitung Schwerstkranker und Sterbender zu fördern, um ein würdevolles Sterben zu ermöglichen.
Assistierten Suizid unterstützen, Selbsttötung verhindern
Am 9. Februar teilten das «Nationale Suizidpräventionsprogramm» und die «Deutsche Akademie für Suizidprävention» mit, dass 2023 die Zahl der Suizide gegenüber 2022 um 1,8 Prozent auf 10304 Fälle stieg. Der Suizid ist laut Experten zunehmend ein Phänomen des höheren Lebensalters. 2023 betrug das durchschnittliche Alter eines durch Suizid Verstorbenen 61,5 Jahre. Im Jahr 2000 lag es noch bei 53,9 Jahren.
Besonders auffällig ist der starke Anstieg der Suizide durch Medikamente, die um 85 Prozent seit 2020 auf 1871 Fälle gestiegen sind. Dieser Zuwachs könnte nach Angaben der Experten mit der zunehmenden Zahl assistierter Suizide in Zusammenhang stehen, die in der offiziellen Statistik weiterhin nicht gesondert ausgewiesen werden.
Während bei der Veröffentlichung der Zahlen zu Suizid verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt wurden, wie Selbstmorde verhindert werden könnten (Gespräche, Nottelefon usw.), möchte man beim assistierten Suizid allfällige Hindernisse (katholische Einrichtungen!) aus dem Weg räumen, um die Sterbehilfe für möglichst viele Menschen zu forcieren. Hier zeigt sich einmal mehr die aktuelle gesellschaftspolitische Doppelmoral. Was zudem in den meisten Diskussionen um Sterbehilfe ausgeblendet wird, ist die Frage nach der Gewissensfreiheit der Ärzte und des Pflegepersonals sowie die Auswirkungen des assistierten Suizids auf die Angehörigen.
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :