«Ich erhebe meine Augen zu den Bergen» (Ps 121,1) – Vor der Weite der Landschaft verweist das Kreuz auf eine Gegenwart, die das Sichtbare durchdringt: ein Zeichen des Himmels mitten in der Welt. (Bild: Mick Kirchman/Unsplash)

Neuevangelisierung

Die sakrale Uhr tickt anders

Im Som­mer ver­än­dert sich unser Zeit­emp­fin­den – alles erscheint wei­ter, lang­sa­mer, licht­durch­flu­te­ter. In die­ser Weite wird der Mensch emp­fäng­li­cher für tie­fere Schich­ten der Wirk­lich­keit: für jenes «Mehr», das über das imma­nent Mess­bare hin­aus­geht. Der Glaube kennt viele sol­cher Momente – im küh­len, stil­len Kir­chen­raum, im betrach­ten­den Ver­wei­len vor lit­ur­gi­schen Bil­dern wie einer Ikone oder einer Sta­tue Christi und beson­ders in der gefei­er­ten Lit­ur­gie. Hier geschieht eine greif­bare Ver­schrän­kung von Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft.

Die Sommerzeit, in der die Natur in voller Blüte steht, das Licht strahlt und die Welt in Fülle erscheint, kann zu einem gnadenvollen Träger göttlicher Nähe werden. Was wir äusserlich wahrnehmen – das Leuchten, die Weite, das Leben –, öffnet unser Inneres für eine tiefere Wirklichkeit. In dieser Zeit werden wir empfänglicher für das Heilige, denn Christus ist unserer Welt gegenwärtig geblieben (vgl. Mt 28,20). Im Glauben drücken wir dies in zahlreichen Zeichen und Bildern aus. Doch in den heiligen Zeichen und liturgischen Bildern wird Zeit nicht nur dargestellt, sondern verwandelt. Sie öffnen sich zur Gegenwart des Göttlichen und lassen im vergänglichen Blick etwas von der Ewigkeit aufscheinen – ein Jetzt, das bleibt und uns berührt.

Ein christliches Kunstverständnis: Bilder als Zeitbehälter
Das christliche Kunstverständnis lässt sich treffend mit dem Bild der «Zeitbehälter» beschreiben: Sakrale Bilder bewahren nicht einfach eine vergangene Epoche – wie eine Fotografie oder ein Museumsexponat –, sondern sie transzendieren die Zeit. Sie verbinden das Damals mit dem Jetzt, das Irdische mit dem Himmlischen. Ihre Stille spricht lauter als jedes moderne Medium.
Das eigentliche Geschehen entfaltet sich im Blick des Betrachters, der bei jedem neuen Schauen aufs Neue in diese zeitliche Tiefe eintaucht. Für den orthodoxen Theologen Paul Evdokimov (1901–1970) ist dies Ausdruck der sogenannten «ikonischen Zeit» - eine Zeit, die nicht vergeht, sondern verweilt und andauert. Die ikonische Zeit ist somit eine Wirklichkeit, in der die Zeit mit der Ewigkeit durchdrungen ist. In unseren Sakralräumen oder vor sakralen Bildern und Statuen befinden wir uns nicht einfach vor einem Bild, sondern mitten in einer liturgischen Gegenwart. Das christliche Kunstverständnis ist folglich kein blosser Rückblick, sondern ein Vorblick – ein Blick in das Reich Gottes.

Sakrale Bilder als Lehrmeister der Zeit
Die christliche Kunst in unseren Sakralräumen ist weit mehr als blosse Darstellung – sie ist Lehrmeisterin der Zeit. Gerade deshalb wirken besonders Ikonen «orthodox» – im wörtlichen wie im theologischen Sinn. Sie vermitteln nicht nur heilige Inhalte, sondern eine Haltung: die rechte Lehre, die angemessene Verehrung und die klare Ausrichtung auf Christus, das Zentrum des Kosmos und allem Sein. Ihre Zeitlosigkeit macht sie zu Trägern der göttlichen Wahrheit und nicht zu einer «Modeerscheinung». Die Ostkirche versteht die sakrale Kunst, bereits geprägt durch Johannes von Damaskus (ca. 675–749), als ein «Fenster zur Ewigkeit». Auch in der westlichen Tradition erfüllen sakrale Bilder diese liturgische Funktion. Das Gnadenbild von Guadalupe, die Marienstatue in der Grotte von Lourdes, das Turiner Grabtuch oder auch unsere Altarbilder lehren und bezeugen das fortdauernde Evangelium auf ikonische Weise. Dabei geschieht dies nicht lediglich rezeptionsgeschichtlich, sondern als eine Vergegenwärtigung heiliger Wirklichkeit und heiliger Zeit.
 


Liturgische Zeit im Bild
In der Liturgie wird Zeit auf einzigartige Weise erfahren – sie wird geheiligt. Sakrale Bilder sind ein wesentlicher Bestandteil dieser liturgischen Zeitverwandlung. Sie wirken wie sakramentale Gedächtnisstützen: nicht allein, um sich an Vergangenes zu erinnern, sondern um im Hier und Jetzt zu glauben, zu schauen und teilzunehmen. Eine Kreuzigungsdarstellung in einer Kapelle ist nicht nur eine Erinnerung an Golgotha, sondern zugleich Einladung zur Teilnahme am Paschamysterium, heute.
Es verwundert daher nicht, dass sakrale Bilder ihre geistliche Aktualität auch dann bewahren, wenn sie bereits Jahrhunderte alt sind. Ihre Formen und Farben, ja selbst ihr vermeintlich «altmodischer» Stil, verweisen auf eine andere Wirklichkeit: auf die Welt Gottes, die in der Liturgie gegenwärtig wird und durch das heilige Zeichen und das Bild sichtbar aufscheint.
Die christliche Kunst gehört zur theologischen Muttersprache der Kirche. Sie überliefert Glaubenswissen dort, wo Worte an ihre Grenzen stossen. In ihr lebt die Lehre der Kirche fort – nicht als Text, sondern als wahrhaftige Präsenz. Der triumphierende Christus in der Apsis einer romanischen Basilika ist nicht nur ein theologisches Bekenntnis, sondern ein visueller Katechismus und ein «kleines Sakrament für das Auge». Und das Bild Mariens mit dem Christuskind, das in zahllosen Varianten durch die Jahrhunderte tradiert wurde, vermittelt bis heute mehr Dogmatik als mancher Traktat in der Theologie.

Ein bildliturgisches Paradoxon
Die christlichen Bilder und Statuen in unseren Sakralräumen erfüllen eine doppelte, und gerade darin paradoxe, Funktion: Einerseits konservieren sie Zeit. Sie bewahren den Stil, das Denken und die Glaubenswelt vergangener Jahrhunderte – etwa des 12. Jahrhunderts. Andererseits durchbrechen sie diese Zeit, weil sie nicht im Damals verharren, sondern das Ewige in unsere Gegenwart hineintragen.
Gerade darin liegt ihre geistliche Sprengkraft: Sie widerstehen der Auflösung im blossen Aktuellen. Und eben dadurch bleiben sie lebendig und relevant. Die christliche Kunst lebt nicht von der ständigen Innovation, sondern von der Intuition des Göttlichen – einer Schau, die tiefer reicht als jede zeitgeistliche Anpassung.

In der gegenwärtigen Sommerzeit suchen viele Menschen Kirchen und Kapellen auf – manche, um in der Hitze einen kühlen Ort zu finden, andere, um neben der äusseren Frische auch innerlich Atem zu schöpfen und der Ewigkeit nahe zu sein. In jedem Fall werden Sakralräume nicht als Museen der Vergangenheit betrachtet, sondern sie sind «geistliche Zeitmaschinen»: Sie verbinden Himmel und Erde, Geschichte und Ewigkeit, Glauben und Schauen, unsere Gegenwart mit der himmlischen Vollendung. Wer sich auf den Anblick sakraler Bilder und Statuen einlässt, wird nicht allein zum Betrachter, sondern zum Teilnehmenden. Sie berühren mit Gold, Farbe und Form unsere Zeit und laden uns ein, dem Ewigen zu begegnen. Mitten im Sommer.


Dr. des. Mike Qerkini


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