Die Sommerzeit, in der die Natur in voller Blüte steht, das Licht strahlt und die Welt in Fülle erscheint, kann zu einem gnadenvollen Träger göttlicher Nähe werden. Was wir äusserlich wahrnehmen – das Leuchten, die Weite, das Leben –, öffnet unser Inneres für eine tiefere Wirklichkeit. In dieser Zeit werden wir empfänglicher für das Heilige, denn Christus ist unserer Welt gegenwärtig geblieben (vgl. Mt 28,20). Im Glauben drücken wir dies in zahlreichen Zeichen und Bildern aus. Doch in den heiligen Zeichen und liturgischen Bildern wird Zeit nicht nur dargestellt, sondern verwandelt. Sie öffnen sich zur Gegenwart des Göttlichen und lassen im vergänglichen Blick etwas von der Ewigkeit aufscheinen – ein Jetzt, das bleibt und uns berührt.
Ein christliches Kunstverständnis: Bilder als Zeitbehälter
Das christliche Kunstverständnis lässt sich treffend mit dem Bild der «Zeitbehälter» beschreiben: Sakrale Bilder bewahren nicht einfach eine vergangene Epoche – wie eine Fotografie oder ein Museumsexponat –, sondern sie transzendieren die Zeit. Sie verbinden das Damals mit dem Jetzt, das Irdische mit dem Himmlischen. Ihre Stille spricht lauter als jedes moderne Medium.
Das eigentliche Geschehen entfaltet sich im Blick des Betrachters, der bei jedem neuen Schauen aufs Neue in diese zeitliche Tiefe eintaucht. Für den orthodoxen Theologen Paul Evdokimov (1901–1970) ist dies Ausdruck der sogenannten «ikonischen Zeit» - eine Zeit, die nicht vergeht, sondern verweilt und andauert. Die ikonische Zeit ist somit eine Wirklichkeit, in der die Zeit mit der Ewigkeit durchdrungen ist. In unseren Sakralräumen oder vor sakralen Bildern und Statuen befinden wir uns nicht einfach vor einem Bild, sondern mitten in einer liturgischen Gegenwart. Das christliche Kunstverständnis ist folglich kein blosser Rückblick, sondern ein Vorblick – ein Blick in das Reich Gottes.
Sakrale Bilder als Lehrmeister der Zeit
Die christliche Kunst in unseren Sakralräumen ist weit mehr als blosse Darstellung – sie ist Lehrmeisterin der Zeit. Gerade deshalb wirken besonders Ikonen «orthodox» – im wörtlichen wie im theologischen Sinn. Sie vermitteln nicht nur heilige Inhalte, sondern eine Haltung: die rechte Lehre, die angemessene Verehrung und die klare Ausrichtung auf Christus, das Zentrum des Kosmos und allem Sein. Ihre Zeitlosigkeit macht sie zu Trägern der göttlichen Wahrheit und nicht zu einer «Modeerscheinung». Die Ostkirche versteht die sakrale Kunst, bereits geprägt durch Johannes von Damaskus (ca. 675–749), als ein «Fenster zur Ewigkeit». Auch in der westlichen Tradition erfüllen sakrale Bilder diese liturgische Funktion. Das Gnadenbild von Guadalupe, die Marienstatue in der Grotte von Lourdes, das Turiner Grabtuch oder auch unsere Altarbilder lehren und bezeugen das fortdauernde Evangelium auf ikonische Weise. Dabei geschieht dies nicht lediglich rezeptionsgeschichtlich, sondern als eine Vergegenwärtigung heiliger Wirklichkeit und heiliger Zeit.
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