Um später als Dolmetscherin zu arbeiten, studiert Marta Yaniv Deutsch und Englisch (Bild: Kirche in Not/ACN)

Interview

Die Schuld­ge­fühle einer jun­gen Ukrainerin

Marta Yaniv (20) ist eine von vie­len enga­gier­ten jun­gen Ukrai­ne­rin­nen, die im Aus­land und in der Ukraine mit­hel­fen, wo immer sie kön­nen. Sie stu­diert gegen­wär­tig Deutsch und Eng­lisch in Deutsch­land, um spä­ter als Dol­met­sche­rin zu arbei­ten. Doch dane­ben setzt sie sich uner­müd­lich für ihre Lands­leute ein. Sie orga­ni­siert Som­mer­camps für ukrai­ni­sche Kin­der, spricht an diver­sen Kon­fe­ren­zen und reiste zuletzt in die Schweiz, um in Ein­sie­deln an einer Podi­ums­dis­kus­sion von «Kir­che in Not (ACN)» teil­zu­neh­men. Swiss​-cath​.ch hat sie getrof­fen, um über ihr Leben fern von Zuhause, den Glau­ben und ihr Enga­ge­ment zu sprechen.

Swiss-cath.ch: Wie kommt es, dass Sie gegenwärtig in Deutschland sind, während Ihre Eltern und Ihre acht jüngeren Geschwister in der Westukraine leben?

Marta Yaniv: Ich habe mich noch vor dem Krieg beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) um Stipendien beworben, um einen Monat lang eine Sprachschule in Germersheim zu besuchen. Ich hatte das Ganze ein bisschen vergessen, als ich im April 2022 dann die Zusage bekam. Ich wollte zuerst überhaupt nicht hingehen, doch meine Eltern haben mich dann überzeugt, die Chance zu nutzen. Wir haben dann entschieden, dass ich noch ein wenig länger in Deutschland studiere. Zu Beginn des Krieges lebten wir alle zusammen einige Monate in der Nähe von Stuttgart, aber es war schwierig, mit so vielen Kindern im Ausland zu wohnen. Und weil es in der Westukraine einigermassen sicher ist, gingen meine Eltern mit den Geschwistern zurück.

Machen Sie Sich Sorgen um sie?

Ja, das ist sehr schwierig zu akzeptieren, dass ich in Sicherheit bin, aber meiner Familie jederzeit etwas zustossen könnte. Wissen Sie, das eigenartige ist, dass ich im Ausland manchmal fast mehr Angst habe, als wenn wir alle zusammen in der Ukraine sind. So gab es letzte Nacht Raketenbeschuss auch auf unsere Region. Die Raketen konnten abgewehrt werden, aber es waren nachts Explosionen zu hören. Und davon lese ich frühmorgens und darf nicht sogleich per SMS oder Anruf abklären, ob es allen gut geht, weil das abgehört werden könnte. Da macht man sich schreckliche Sorgen. Man sitzt einfach da und wartet, ohne zu wissen, ob der Familie etwas zugestossen ist. Erst später konnte ich meine Eltern anrufen und erfuhr, dass alles in Ordnung war.

Wie ist das, in diesen Krisenzeiten an zwei Orten, in zwei Kulturen zuhause zu sein?

Also Germersheim ist eine recht internationale Stadt, weil so viele aus dem Ausland hier Fremdsprachen studieren. Daher habe ich neue Bekannte aus aller Welt gefunden. Aber man nimmt natürlich Unterschiede wahr und es ist nicht ganz einfach, Anschluss zu finden. Aber ich glaube, das hat vor allem mit meiner Situation zu tun, dass ich das gegenwärtig gar nicht so an mich heranlassen kann. Ich bin mit den Gedanken stets in der Ukraine bei meiner Familie. Daher fühlt sich alles hier sehr temporär an. Ich denke, das wäre anders, wenn ich einfach hier zwei Auslandsemester gemacht hätte, ohne dass Krieg herrscht. Sehr frustrierend war, dass hier nur zweimal in der Woche Messe gefeiert wird. Ich bin gewohnt von zuhause, jeden Tag in die Messe zu gehen. Hier müsste ich dafür jeden Tag in eine andere Stadt fahren (lacht).

Hat sich Ihre Beziehung zum Glauben seit Kriegsausbruch verändert?

Ich komme aus einer religiösen Familie. Wir sind griechisch-katholisch. Früher ging ich einmal in der Woche in die Messe, während meine Eltern jeden Tag gingen. Ich habe den Glauben also bereits von meiner Familie mitgegeben bekommen. Aber etwa ein Jahr vor dem Krieg habe ich Gott irgendwie neu für mich gefunden. Ich glaube nicht mehr oder weniger seit dem Krieg. Aber ich setze mehr Vertrauen in ihn, weil ich verstanden habe, dass wir Menschen gar nicht so viel zu sagen haben. In der Ukraine sagen wir: «Der Mensch plant und Gottvater regiert.» Wenn man weiss, dass jeder Tag der letzte sein könnte, dass der Familie etwas geschehen kann oder man ohne Haus aufwacht, weil es zerbombt wurde, da legt man einfach sein Vertrauen in Gott, dass er das so fügen wird, wie es für uns sein soll.

Sie engagieren sich seit dem Kriegsausbruch sehr aktiv. Wie kam dieses Engagement zustande und was steht gerade an für Sie?

Ich gehöre schon lange der katholischen Organisation «Salesianer Don Bosco» an. Das ist einfach Teil meines Lebens, da ich direkt neben der Kirche aufgewachsen bin. Als der Krieg dann ausbrach, haben wir mit den Salesianern einfach mit kleinen Sachen geholfen. Wir haben zum Beispiel für etwa 20 geflüchtete Frauen mit ihren Kindern im Salesianerhaus gekocht. Wegen meinen Sprachkenntnissen habe ich dann immer mehr mit Übersetzungen ausgeholfen. Durch meinen Papa begann ich dann immer mehr juristische Dinge zu übersetzen, dass die Geflüchteten mit der ganzen Bürokratie zurande kommen. Wir sind dann nach Österreich, Lichtenstein und in die Schweiz gereist, um über das Engagement der Salesianer zu berichten. Mein Vater hat Kontakt mit dem Rotary Club in Österreich. Er organisiert da die ganzen Spenden nach Lemberg und kontrolliert, dass die ankommen, wo sie gebraucht werden. Daher war ich einige Male in der Nähe von Graz, um dort über die Situation in der Ukraine zu berichten. Zuletzt war ich nun an der Wallfahrt von «Kirche in Not» in Einsiedeln. Aber das ist nichts Besonderes, dass ich mich engagiere. Alle tun das, wo immer sie können, insbesondere die im Ausland. Das ist mit schrecklichen Schuldgefühlen verbunden, dass man in Sicherheit ist, während andere gefährdet sind. Da muss man einfach helfen, wo immer man kann.

Sie haben Schuldgefühle, dass Sie nicht in der Ukraine sind?

Es sind irrationale Gefühle, ich weiss. Aber man fühlt sich einfach schuldig, dass man in Sicherheit ist, während der Familie und den Freunden in der Ukraine jederzeit etwas geschehen kann. Das ist schwer zu akzeptieren. Deswegen sind die Ukrainerinnen und Ukrainer im Ausland auch so aktiv. Man will einfach helfen, wo man kann, wenn man schon nicht zuhause sein kann.

Wie geht es nun weiter für Sie?

Ich möchte nach diesen zwei Semestern in Deutschland zurück in die Ukraine, auch wenn der Krieg noch nicht zu Ende ist. Wir können nicht sagen, wann wieder Frieden sein wird. Ich möchte mein Wissen, das ich im Ausland erworben habe, nutzen, um die Ukraine wieder aufzubauen helfen. Ich will zuhause sein. Ich hasse das Gefühl, mir ständig Sorgen zu machen und so machtlos zu sein. Ich bin gegenwärtig auch viel unterwegs, um über die Ukraine zu berichten. Ich möchte einfach wieder zuhause sein. Man muss verstehen, dass das das neue Leben ist. Man wird an Beerdigungen von Freunden gehen müssen. Plötzlich betet man dafür, dass das eigene Haus noch steht und man nicht in eine Containersiedlung ziehen muss. Mit dieser Unsicherheit müssen wir leben. Ich bin daher auch sehr beeindruckt von den Schweizern, die freiwillig in die Ukraine fahren, um zu helfen und sich die Situation selber anzuschauen. Das sind ungemein tapfere Menschen. Denn der Krieg geht weiter. Jeden Tag sterben Menschen. Wir dürfen in der Sorge um die Geflüchteten auch nicht vergessen, wie viele Jungs, die gerade mal 18 sind, an der Front sterben.


Silvan Beer

Silvan Beer studiert gegenwärtig Theologie und Philosophie in Freiburg i. Ü.


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