Gottvater. Deckengemälde von Fidelis Schabet in der Stiftskirche in Hechingen (D), um 1846/48.

Kommentar

Die­ses «höhere Wesen, das wir ver­eh­ren». Gott wird dank Inklu­sion und Viel­falt zuneh­mend zum Phantom.

Ein Kom­men­tar von Mar­tin Gricht­ing in der Neuen Zür­cher Zeitung.

Heinrich Böll hat im Jahr 1958 die Satire «Doktor Murkes gesammeltes Schweigen» veröffentlicht. Darin nahm er den Opportunismus derer aufs Korn, die bereits wieder daran waren, die Positionen zu räumen, die sie wohl oder übel im Zuge der Entnazifizierung hatten einnehmen müssen. Sosehr Bölls Werk in diesem Sinn zeitgebunden ist: Es lässt sich auf Anpassung, Feigheit sowie moralisch flexible Charaktere anwenden, wie sie auch heute anzutreffen sind.

Worum geht’s? Doktor Murke erhält vom Intendanten des Rundfunkhauses den Auftrag, einen zwei Mal halbstündigen Vortrag von Bur-Malottke, einem angesagten Literaten, zu überarbeiten. Dieser hat über Kultur doziert und dabei siebenundzwanzig Mal den Begriff «Gott» verwendet.

Mühsame Operation
Im gesellschaftlichen Klima, das sich in den fünfziger Jahren bereits wieder ändert, ist Bur-Malottke seine Diktion bald nach der Aufnahme nicht mehr geheuer. Er möchte, dass Gott durch die Formulierung «jenes höhere Wesen, das wir verehren» ersetzt wird. Aber das ist nicht ganz so einfach, wie es scheint. Denn während der Begriff «Gott» nur im Genitiv anders lautet («Gottes»), muss «jenes höhere Wesen, das wir verehren» in jedem Kasus von Bur-Malottke im Studio neu gesprochen werden: «jenes höheren Wesens, das wir verehren», bis hin zum Vokativ: «Oh, höheres Wesen, das wir verehren!»

Doktor Murke muss diese Wortklauberei zusammen mit einem Tontechniker umsetzen. Die mühsame Operation gelingt. Aber damit ist der Verwicklungen nicht genug: Die Aufzeichnung wird durch das Einsetzen der Wortschnipsel um über eine Minute länger. Der Intendant genehmigt es. Das motiviert wiederum Bur-Malottke zur Forderung, alle seine Beiträge für die Rundfunkanstalt, die rund 120 Stunden Sendezeit umfassen, müssten ebenfalls dem neuen Geist der Zeit entsprechend überarbeitet werden.

Bölls Satire hört sich im heutigen Kontext an wie eine Persiflage auf die Verunstaltungen, mit denen die Gendersprache den Leser malträtiert. «Doktor Murkes gesammeltes Schweigen» ist aber auch eine Persiflage auf die Kirchensprache. Und wohlgemerkt: Auch hier geht es nur vordergründig um Wörter, die herausgeschnitten und durch andere ersetzt werden. Hinter dem zeitgenössischen Auftrag an Doktor Murke verbirgt sich eine Anpassung des Inhalts, zu dem man sich unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr eindeutig bekennen möchte.

Aus der klaren und verständlichen Sprache der Bibel – «Euer Ja sei ein Ja, euer Nein sei ein Nein» (Matthäus 5,37) – und des kirchlichen Lehramts ist bei bischöflichen und professoralen Rabulisten nicht selten ein esoterisch angehauchter spiritueller Edelschrott geworden. Der Zeitgenosse versteht ihn oft kaum noch, und manchmal hat man den Verdacht, er solle ihn auch gar nicht verstehen. Statt sich zu unserem Herrn Jesus Christus zu bekennen, schwadroniert man vom «Bruder Jesus» und von seiner Praxis. Statt dem Wort Jesu nachzuleben, «Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern» (Matthäus 28,19), wird von «Inklusion» und «Vielfalt» salbadert. Anstelle der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit wird die «gleichberechtigte, glaubwürdige und solidarische» Kirche postuliert. Und der maskuline dreifaltige Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist – wird politisch korrekt zu einem sächlichen «höheren Wesen, das wir verehren». Je mehr verbalen Raum dieses Wesen einnimmt, umso mehr wird es zum Phantom.

Dröhnendes Schweigen
Selbstverständlich endet Bölls Geschichte mit einer Pointe. In einer Zigarettenschachtel liegen immer noch die siebenundzwanzig Schnipsel herum, die den auf Zelluloid gebannten Gott enthalten. Was tun damit?

Ein findiger Hilfsregisseur hat eine Idee. Er muss für eine Religionssendung einen Beitrag einspielen. Im Manuskript fragt der Atheist: «Wer denkt noch an mich, wenn ich der Würmer Raub geworden bin?» Es folgt dröhnendes Schweigen. Er fährt fort: «Wer wartet auf mich, wenn ich wieder zu Staub geworden bin?» Neuerliches Schweigen. «Und wer denkt noch an mich, wenn ich wieder zu Laub geworden bin?» Wiederum Schweigen.

Zwölf solche Fragen sind es, die mit bleiernem Schweigen beantwortet werden. Ein bisschen viel Schweigen, finden der Tontechniker und der Hilfsregisseur. Deshalb schneiden sie das Schweigen heraus und schenken es, zusammengeklebt, Doktor Murke. Der hört sich das gesammelte Schweigen seiner Interviewpartner gerne an, weil er so das Wortgeklingel, dem er tagtäglich wehrlos ausgesetzt ist, besser ertragen kann. Sodann montieren der Hilfsregisseur und sein Techniker zwölf der siebenundzwanzig «Gott»-Schnipsel anstelle des Schweigens ins Tonband der Religionssendung.

Man darf gespannt sein, wann auch die Kirche ihr dröhnendes Schweigen wieder mit klarer Sprache durchbrechen wird. Die Argumente der Atheisten sind da. Sie waren stets da und werden es immer sein. Die Frage ist nur, ob die Kirche mit ihnen schweigen will oder ob sie den Mut hat zu sprechen: von dem Gott, der zu uns gesprochen hat durch seinen Sohn Jesus Christus, den wir verehren.

 

Dieser Artikel erschien am 15. Dezember 2022 im Feuilleton der Neue Zürcher Zeitung

 


Neue Zürcher Zeitung


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    Robert Droux 23.12.2022 um 19:27
    Wenn wir über den Glauben diskutieren, wenn wir über Gott und die Evangelien sprechen, verwende ich immer die direkten, nach meiner Ansicht möglischst authentische Begiffe, eine klare Sprache, möglichst original. So wie es der Galube der katholischen Kirche (aber auch anderer christlicher Konfessionen) im Allgemeinen auch vorgibt. Erstaunlicherweise sind dann meine oft "heterogenen" Diskussionspartner überrascht, oft auch beeindruckt. Denn: dank meinem Glauben bin ich immunisiert gegen falsche Götter, Proleten und vermeindlich atheistische Anschauungen. Über mir ist nur Gott. Das macht mich frei, unabhängig und gesellschaftskritisch. Natürlich verstehe ich auch die Argumente derjenigen die nicht glauben, der Suchenden, ich habe nicht die Idee sie zu bekehren. Alle sind frei, so wie Gott uns geschaffen hat. Glaube, Hoffnung und Liebe. Das wichtigste ist die Liebe.
  • user
    Stefan Fleischer 21.12.2022 um 19:31
    Wenn ich es mir so überlege
    dann dürfte es einen Weg aus diesem Schlamassel geben. Wir müssen wieder die Sprache unseres Glaubens benutzen (und wo nötig neu erlernen). In ihr gibt es viele Begriffe, die klar definiert sind, und die eigentlich jedem Gläubigen bekannt sein sollten. Wenn wir im Dialog jeweils zuerst Stunden damit verbraten, herauszufinden, was die andere Seite konkret unter den verwendeten oder neu geschaffenen Begriffen versteht, um dann feststellen zu müssen, dass dies für die Sprechenden selbst nicht klar ist und/oder dass die Definitionen jederzeit nach Bedarf geändert werden, ist eine vernünftige Diskussion von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und wenn der einfache Gläubige ständig mit neuen Begriffen und/oder Definitionen bombardiert wird, wird er sich früher oder später aus diesem Debattierclub verabschieden.
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    stadler karl 21.12.2022 um 14:11
    Diese verschiedene Benennung scheint allerdings kein neues Phänomen zu sein. Bereits in früheren Jahrzehnten wusste man als Laie eigentlich nicht, von was gesprochen wurde, wenn die Theologenschaft von "Gott" sprach. Und nicht selten lag der Verdacht nahe, dass die Theologenschaft es selber auch nicht so genau wusste. Die Benennung bot bereits früher keine Handhabe, nachvollziehbar einem adäquate Vorstellungen nahe zu bringen. Darum wurde mit diesem "Begriff" so auf verschiedene Weise operiert, manchmal auch nicht zum Guten!
  • user
    Stefan Fleischer 21.12.2022 um 08:36
    De ist nichts beizufügen, obwohl es noch Beispiele dazu gibt.
    Herzlichen Dank, Herrn Gricht­ing, der NZZ und auch swiss-cath für die Veröffentlichung!