Ihr Buch heisst nicht «Der Weg Edith Steins», sondern «Der Weg Edith Stein». Sie setzen also die heilige Ordensfrau und Märtyrerin mit einem Weg gleich. Wie fanden Sie zu diesem Zugang zu Edith Stein?
Sie haben korrekt angemerkt, dass der Titel des Buches «Der Weg Edith Stein» lautet. Was so ein ‘s’ alles ausmachen kann. Die Wahl dieses Titels erfolgte bewusst, da er den persönlichen Lebensweg Edith Steins widerspiegelt. Es ist selbstverständlich, dass jeder Mensch – einschliesslich mir und Ihnen – seinen eigenen, individuellen Weg einschlägt. Es handelt sich hierbei um einen Weg, der durch vielfältige Begegnungen geprägt ist. Diese Begegnungen tragen dazu bei, zu reflektieren, Entwicklungen zu unterstützen und zu festigen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Lebens dieser suchenden Frau. Sie ist eine zeitgenössische Heilige, und vielleicht ist es dies, was mich an ihr so fasziniert. Ich darf auch sagen, ich bekam aufgrund meiner Studien in Lugano, an der Theologischen Fakultät, einen sehr schönen und offenen Zugang nicht nur zu ihrem Leben, sondern auch zu ihrem Denken und wie sie all die Herausforderungen annahm. Dies alles hat mich zutiefst berührt, ermutigt, alle meine ganz persönlichen Herausforderungen offen anzugehen und dabei selbst nicht zu verzagen, da ER uns alle ja an der Hand hält und führt. Es ist unglaublich, aber das Menschsein und immer mehr Mensch werden ist ein gewaltiges Abenteuer, das es Wert ist, zu leben. Schlussendlich, wenn man offen ist und bleibt, wird man reichlich beschenkt.
Edith Stein kam in ihrer Forschung zur Erkenntnis, dass das Ich wesenhaft an das konkrete Sein gebunden ist und dass Person-Sein In-Beziehung-Sein bedeutet. Könnten Sie dies für unsere Leser in den Alltag übersetzen?
Ich werde es versuchen. Der Mensch sehnt sich danach, sein Wesen, das seinen Ursprung in Gott hat, voll zur Entfaltung zu bringen. Er fällt nicht aus dem Nichts ins Nichts. So schafft es Edith Stein, ein eher statisches Substanzdenken und ein Prozessdenken in der Person miteinander zu verbinden. Der Mensch ist in seinem Kern von Gott geliebt und kann so das im Kern grundgelegte Bild seiner selbst zur Entfaltung bringen. Sein ‹Sein› legt ihn nicht in der Art fest, dass in der Deskription eines Menschen der Mensch als solcher umfassend beschrieben ist. Jeder Mensch – also z. B. ich oder wer gerade dieses Interview liest – ist in seiner Einmaligkeit und Individualität gewollt und kann nur in Prozessen, unter anderem in der Gemeinschaft, sein Menschsein entfalten. Um es deutlich festzuhalten: Jeder einzelne Mensch ist immer mehr als ein gattungstypisches Exemplar. Mit der klaren Benennung von Ursprung und Ziel des endlichen Menschen und der kontingenten Dinge hat Edith Stein bewusst Glaubenswissen und -erfahrung an der Stelle eingebracht, wo der «philosophische» Verstand schlussendlich an seine Grenzen stösst. Das Ich ist ausgespannt zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit und kann als endliches Wesen die Unendlichkeit niemals fassen. Das kontingente Ich bedarf des Ewigen Seins. Es zielt auf die Ewigkeit, nach der es sich sehnt. Edith Stein versucht nun das menschliche Person-sein tiefer zu fassen, indem sie den Ursprung menschlichen Seins bedenkt. Der Mensch, der für seine Entfaltung ein Ziel haben muss, entdeckt dieses Zielbild, wenn er sich auf die Beziehung zu Gott einlässt. Der Mensch kann – denn er ist wesenhaft frei – entscheiden, ob er das Angebot Gottes für sich wahrnehmen möchte. Er kann in dieser liebenden und damit freimachenden Beziehung in sich das gesuchte Bild entdecken. Er erfährt sich als bedingungslos geliebt und kann so sein Leben gestalten und wahrhaft Mensch werden. Diese tiefste und intimste, mit Worten nicht wirklich zu fassende Beziehung, ermöglicht Selbstannahme. Und diese Selbstliebe führt zum Nächsten, zur Welt. Hier hat Edith Stein die ontologische Dimension von Endlichem und Ewigem Sein personal existenziell aufgebrochen. Es stellt sich die Frage: Wie werde ich mehr Mensch? Der Mensch wird also Mensch, wenn er sich entscheidet, dem Angebot Gottes zu trauen. Der Mensch wird Mensch, wenn er sich lieben lässt und so selbst lieben kann.
Der Tod ihres väterlichen Freundes Adolf Reinach mit erst 34 Jahren traf Edith Stein tief. Doch noch prägender war ihre Begegnung mit dessen Witwe Anne.
Begegnungen wie jene von Edith Stein mit der Witwe Anne haben nachweislich einen tiefgehenden Einfluss auf ihr Leben ausgeübt.
Im Mittelpunkt steht mit Edith Stein eine Frau, die sich vom jüdischen Glauben abgewandt hat, da sie darin keine tragfähige existenzielle Grundlage erkennen konnte. Sie empfand innere Leere und fehlende Stabilität. Der Tod eines Nahestehenden traf sie mit aller Wucht schwer und liess sie den Sinn des Lebens infrage stellen. In der Folge kam es zur Begegnung mit der Witwe Anne. Aus einer rationalen Perspektive stellt sich die Frage, welche Gedanken Edith Stein dabei bewegten, als sie Anne gegenüberstand. Da sie selbst nicht wusste, wie Trost gespendet wird, fiel es ihr schwer, angemessen auf Annes Verlust zu reagieren. Und doch prägte dieses Erlebnis sie nachhaltig und ermöglichte ihr, Vertrauen zu lernen, und trotz des schmerzlichen Verlusts Hoffnung zu schöpfen. Darüber hinaus machte sie durch den Glauben eine positive und zugleich existentielle Erfahrung der inneren Stärke, die sie zuvor vermisst hatte, und erkannte, dass Anne aus ihrem Glauben Halt finden, und damit weiterleben konnte. Darin sehen wir, dass Edith Stein begonnen hat, Schritt für Schritt, auf Gott zu vertrauen.
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