Neuerscheinungen Interview

Edith Stein: Das Kreuz als Schule des Lebens

Die Per­son Edith Stein, Sr. Tere­sia Bene­dicta a Cruce, fas­zi­niert durch ihr Werk, aber auch durch ihr per­sön­li­ches Leben. In sei­nem Buch «Der Weg Edith Stein» zeigt Daniel M. Bühl­mann einen Zugang zu ihr auf, der Lese­rin­nen und Lesern hel­fen kann, «mehr» Mensch zu werden.

Ihr Buch heisst nicht «Der Weg Edith Steins», sondern «Der Weg Edith Stein». Sie setzen also die heilige Ordensfrau und Märtyrerin mit einem Weg gleich. Wie fanden Sie zu diesem Zugang zu Edith Stein?
Sie haben korrekt angemerkt, dass der Titel des Buches «Der Weg Edith Stein» lautet. Was so ein ‘s’ alles ausmachen kann. Die Wahl dieses Titels erfolgte bewusst, da er den persönlichen Lebensweg Edith Steins widerspiegelt. Es ist selbstverständlich, dass jeder Mensch – einschliesslich mir und Ihnen – seinen eigenen, individuellen Weg einschlägt. Es handelt sich hierbei um einen Weg, der durch vielfältige Begegnungen geprägt ist. Diese Begegnungen tragen dazu bei, zu reflektieren, Entwicklungen zu unterstützen und zu festigen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Lebens dieser suchenden Frau. Sie ist eine zeitgenössische Heilige, und vielleicht ist es dies, was mich an ihr so fasziniert. Ich darf auch sagen, ich bekam aufgrund meiner Studien in Lugano, an der Theologischen Fakultät, einen sehr schönen und offenen Zugang nicht nur zu ihrem Leben, sondern auch zu ihrem Denken und wie sie all die Herausforderungen annahm. Dies alles hat mich zutiefst berührt, ermutigt, alle meine ganz persönlichen Herausforderungen offen anzugehen und dabei selbst nicht zu verzagen, da ER uns alle ja an der Hand hält und führt. Es ist unglaublich, aber das Menschsein und immer mehr Mensch werden ist ein gewaltiges Abenteuer, das es Wert ist, zu leben. Schlussendlich, wenn man offen ist und bleibt, wird man reichlich beschenkt.

Edith Stein kam in ihrer Forschung zur Erkenntnis, dass das Ich wesenhaft an das konkrete Sein gebunden ist und dass Person-Sein In-Beziehung-Sein bedeutet. Könnten Sie dies für unsere Leser in den Alltag übersetzen?
Ich werde es versuchen. Der Mensch sehnt sich danach, sein Wesen, das seinen Ursprung in Gott hat, voll zur Entfaltung zu bringen. Er fällt nicht aus dem Nichts ins Nichts. So schafft es Edith Stein, ein eher statisches Substanzdenken und ein Prozessdenken in der Person miteinander zu verbinden. Der Mensch ist in seinem Kern von Gott geliebt und kann so das im Kern grundgelegte Bild seiner selbst zur Entfaltung bringen. Sein ‹Sein› legt ihn nicht in der Art fest, dass in der Deskription eines Menschen der Mensch als solcher umfassend beschrieben ist. Jeder Mensch – also z. B. ich oder wer gerade dieses Interview liest – ist in seiner Einmaligkeit und Individualität gewollt und kann nur in Prozessen, unter anderem in der Gemeinschaft, sein Menschsein entfalten. Um es deutlich festzuhalten: Jeder einzelne Mensch ist immer mehr als ein gattungstypisches Exemplar. Mit der klaren Benennung von Ursprung und Ziel des endlichen Menschen und der kontingenten Dinge hat Edith Stein bewusst Glaubenswissen und -erfahrung an der Stelle eingebracht, wo der «philosophische» Verstand schlussendlich an seine Grenzen stösst. Das Ich ist ausgespannt zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit und kann als endliches Wesen die Unendlichkeit niemals fassen. Das kontingente Ich bedarf des Ewigen Seins. Es zielt auf die Ewigkeit, nach der es sich sehnt. Edith Stein versucht nun das menschliche Person-sein tiefer zu fassen, indem sie den Ursprung menschlichen Seins bedenkt. Der Mensch, der für seine Entfaltung ein Ziel haben muss, entdeckt dieses Zielbild, wenn er sich auf die Beziehung zu Gott einlässt. Der Mensch kann – denn er ist wesenhaft frei – entscheiden, ob er das Angebot Gottes für sich wahrnehmen möchte. Er kann in dieser liebenden und damit freimachenden Beziehung in sich das gesuchte Bild entdecken. Er erfährt sich als bedingungslos geliebt und kann so sein Leben gestalten und wahrhaft Mensch werden. Diese tiefste und intimste, mit Worten nicht wirklich zu fassende Beziehung, ermöglicht Selbstannahme. Und diese Selbstliebe führt zum Nächsten, zur Welt. Hier hat Edith Stein die ontologische Dimension von Endlichem und Ewigem Sein personal existenziell aufgebrochen. Es stellt sich die Frage: Wie werde ich mehr Mensch? Der Mensch wird also Mensch, wenn er sich entscheidet, dem Angebot Gottes zu trauen. Der Mensch wird Mensch, wenn er sich lieben lässt und so selbst lieben kann.

Der Tod ihres väterlichen Freundes Adolf Reinach mit erst 34 Jahren traf Edith Stein tief. Doch noch prägender war ihre Begegnung mit dessen Witwe Anne.
Begegnungen wie jene von Edith Stein mit der Witwe Anne haben nachweislich einen tiefgehenden Einfluss auf ihr Leben ausgeübt.

Im Mittelpunkt steht mit Edith Stein eine Frau, die sich vom jüdischen Glauben abgewandt hat, da sie darin keine tragfähige existenzielle Grundlage erkennen konnte. Sie empfand innere Leere und fehlende Stabilität. Der Tod eines Nahestehenden traf sie mit aller Wucht schwer und liess sie den Sinn des Lebens infrage stellen. In der Folge kam es zur Begegnung mit der Witwe Anne. Aus einer rationalen Perspektive stellt sich die Frage, welche Gedanken Edith Stein dabei bewegten, als sie Anne gegenüberstand. Da sie selbst nicht wusste, wie Trost gespendet wird, fiel es ihr schwer, angemessen auf Annes Verlust zu reagieren. Und doch prägte dieses Erlebnis sie nachhaltig und ermöglichte ihr, Vertrauen zu lernen, und trotz des schmerzlichen Verlusts Hoffnung zu schöpfen. Darüber hinaus machte sie durch den Glauben eine positive und zugleich existentielle Erfahrung der inneren Stärke, die sie zuvor vermisst hatte, und erkannte, dass Anne aus ihrem Glauben Halt finden, und damit weiterleben konnte. Darin sehen wir, dass Edith Stein begonnen hat, Schritt für Schritt, auf Gott zu vertrauen.
 


Edith Stein sieht den Menschen als Beziehungswesen. Zu welchem Zeitpunkt nimmt sie Gott in dieses Beziehungsnetz hinein?
Wie bereits dargelegt, machte Edith Stein verschiedene nicht-intellektuelle Erfahrungen. Erwähnenswert ist unter anderem die Beobachtung einer Frau, die ihren Einkauf auf dem Markt für ein kurzes Gebet im Dom unterbrach. Der entscheidende Wendepunkt dürfte jedoch das Jahr 1921 in Bergzabern gewesen sein: Nach der Lektüre der Vita der Teresa von Avila fand Edith Steins intensives Suchen und Ringen nach der Glaubenswahrheit sein Ende. Was ist da passiert? Aufgrund des Zeugnisses von Teresa findet Edith Stein das Vertrauen, ihrer eigenen Sehnsucht nachzugehen; dies ermöglicht es ihr, den Schritt zum Glauben zu wagen, was einen bedeutenden Wendepunkt darstellt. Dabei spricht sie von der Gnade, von der «Hand Gottes», in welcher sie sich getragen weiss. Es ist wie ein Wechselspiel: In ihrer tiefsten Verzweiflung eröffnet sich der Weg, dass sie doch an die Existenz Gottes glauben darf, so wie Gott sich dem Mose offenbart hat, als der, der ist. Dieses Erlebnis wird für sie zu einer realen, persönlichen und intimen spirituellen Erfahrung. Sie findet Gott und Gott findet sie. Und dieses «reale Geschehen» ermöglicht dann, dass sie am Neujahrstag 1922 durch die Taufe in die Katholische Kirche aufgenommen wird. Durch diesen Akt folgen dann die weiteren Schritte, die wir kennen. Sie sind nichts anderes als deren logischen Konsequenzen. Durch die Gottbegegnung fand sie zurück ins Leben; er, der Grund jeder wahren Geborgenheit, und der das Leben lebens- und liebenswert macht. Doch eines muss hier doch noch erwähnt werden, welches nicht weggelassen werden darf: Es geht um eine entscheidende Frage, die unter anderem auch ihre jüdische Mutter gestellt hat. Warum sich dieser Mensch [Jesus] zu Gott gemacht hat? Und es ist bekanntlich dieser Punkt, woran sich die christliche und jüdische Religion trennen. Durch die neue Gottbegegnung erfährt Edith Stein, dass dieser Jesus Christus nicht einfach nur ein Mensch gewesen ist, oder sich so nebenbei zu Gott gemacht hat, denn ansonsten wäre er ja wirklich selbst von Sinnen, so was zu machen. Edith Stein kam zu der Überzeugung, dass Jesus als wahrer Gott in Raum und Zeit Mensch geworden ist. Aus ihrer Sicht liess sich diese Annahme logisch begründen; alternative Erklärungen erschienen ihr nicht schlüssig.

Eine wichtige Erkenntnis von Edith Stein ist: Der Mensch ist werdend Person. Sie sieht dabei die kirchliche Gemeinschaft im Dienst der Menschwerdung.
Sie haben Recht. Stein erlebt die Gottbegegnung als ein zutiefst personales und intimes Geschehen, und doch gehören dazu auch die Begegnungen mit überzeugten Gläubigen. Als drittes Element spielt die Gemeinschaft, das eingebettet sein in einer pfarreilichen Struktur, die zum Gebet, zum Lobpreis, sprich zur Feier der Eucharistie zusammenkommt, ebenso eine wichtige Rolle. Es ist dieser Ort, wo Begegnung von Neuem stattfindet. Man hört das Wort Gottes, welches zu uns spricht. Es will helfen, den Alltag zu meistern usw. In Bezug auf die Gemeinschaft gibt es eine weitere Ebene. Welche Kirchenerfahrung jede und jeder von uns macht, wird in Zukunft matchentscheidend werden. Edith Stein stellte die Frage, ob Gemeinschaften Orte der Auseinandersetzung mit Glaubensfragen sowie der Vertiefung des Glaubens und der persönlichen Weiterentwicklung sein können. Diese Fragestellung ist von erheblicher Relevanz und Gegenstand aktueller Diskussionen. Im Kontext von Synodalität und Reformen konfrontiert uns diese bedeutsame Frage mit der Notwendigkeit einer grundlegenden Entscheidung über die zukünftige Ausrichtung. Ich glaube, wir haben diesbezüglich noch sehr viel Arbeit vor uns, und müssen uns, selbst im Inneren unserer Kirche, angesichts des Relativismus und der «Derealisierung des Realen» entscheiden, welchen Weg wir beschreiten wollen.

Als Edith Stein, resp. Sr. Teresia Benedicta a Cruce zusammen mit ihrer Schwester Rosa deportiert wurde, war sie mitten in der Arbeit zu «Kreuzeswissenschaft», eine Beschäftigung mit der Theologie Johannes vom Kreuz. Welche Bedeutung hatte das Kreuz für ihr Leben und in ihrem Leben?
Das Kreuz spielt im Leben Edith Steins eine zentrale, existenzielle und spirituelle Rolle – sowohl biographisch als auch theologisch. Wir können sagen: Das Kreuz war für sie der Schlüssel zum Verstehen von Wahrheit, Berufung und persönlichem Schicksal. Es kann in fünf Punkten zusammengefasst werden: (1) Das Kreuz als Zugang zur Wahrheit – Gott offenbart sich im gekreuzigten Christus. Erinnern wir uns dabei an die Aussage: «Wer die Wahrheit sucht, der sucht Gott, ob es ihm klar ist oder nicht.» (2) Nachfolge leben – Opferbereitschaft ohne Ausweichen. (3) Solidarität tragen – besonders mit ihrem jüdischen Volk. In einem Brief an die Priorin vom Kloster in Echt hatte Stein geschrieben, «dass ich für das jüdische Volk hingeopfert werden muss». (4) Mystisch verstehen – als Wissenschaft der Liebe und Quelle von Freude. Für Edith Stein wird das Kreuz nicht nur zu einer wissenschaftlichen Reflexion, sondern selbst zur inneren Schule, in der sie die Liebe Gottes lernt. (5) Martyrium annehmen – als persönliche Vollendung im Tod für Christus und ihr Volk.

Das Buch ist keine Biografie von Edith Stein, sondern setzt sich mit ihrem Denken und der Entwicklung in ihrem wissenschaftlichen Arbeiten auseinander bezogen auf das Menschsein. Für wen ist das Buch in erster Linie gedacht?
Das Buch richtet sich nicht nur an Edith Stein Kennerinnen und Kenner, sondern an alle, die sich bewusst auf den Weg machen wollen, um zu erkennen, was der Wille Gottes ist. Erinnern wir uns an ein Wort Benedikts XVI. der sagte, dass der christliche Glaube in erster Linie ein personales Geschehen, eine Begegnung mit Jesus Christus sei. Über jene Begegnung, die Edith Stein persönlich erfahren und als Bereicherung empfunden hat, berichtet sie in ihren Schriften. Mit diesem Buch möchte ich dazu beitragen, dass auch andere Leserinnen und Leser eine vergleichbare Erfahrung machen können. Ich lasse mich dabei überraschen, wenn es dazu dienlich sein kann.

 

Daniel M. Bühlmann (* 1970) studierte Philosophie und Theologie an der Theologischen Fakultät in Lugano und der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. In Lugano promoviert er mit seiner Dissertation zum Thema «Sein und Gestalt als dynamische Wirklichkeit bei Edith Stein und Hans Urs von Balthasar. Die Neuentdeckung eines Zentralelements ihrer inkarnatorischen Theologie». Daniel M. Bühlmann ist Gründer und Geschäftsführer der Espoir Verlag und Reisen GmbH.

 

Daniel M. Bühlmann, Der Weg Edith Stein. Ein Weg des Mutes, der meinen Weg erkennen lässt. Espoir Verlag und Reisen GmbH 2025, 159 Seiten. ISBN 978-3-033-10919-3 Link


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

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Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin.


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