Diese Idee mag zunächst wie ein Randgedanke erscheinen, ein theologisches Gedankenspiel ohne kirchenpolitische Tragweite. Und doch eröffnet sie eine bemerkenswerte Perspektive: Sie lädt dazu ein, über die Zukunft der Kirche von ihrem geistlichen Ursprung her zu denken.
Kardinal Pizzaballa ist eine in der Weltkirche geschätzte Persönlichkeit, auch wenn er bisher nicht im Zentrum öffentlicher Papstdebatten steht. Sein Lebensweg ist aussergewöhnlich: Als langjähriger Kustos des Heiligen Landes (2004–2016) und seit 2020 als Lateinischer Patriarch von Jerusalem verkörpert er eine selten gewordene Verbindung – eine geerdete Präsenz im Ursprungsland des Christentums, verbunden mit diplomatischer Weitsicht und geistlicher Tiefe. Geboren wurde er 1965 in Cologna al Serio in Italien. Doch seine geistliche Heimat liegt längst im Nahen Osten, wo er als Franziskaner inmitten religiöser, politischer und gesellschaftlicher Spannung lebt. Von 1995 bis 1999 studierte er an der Hebräischen Universität Jerusalem und war von 1998 bis 2004 als Professor für biblisches Hebräisch und Judaismus am Zentrum «Studium Biblicum Franciscanum» tätig. Er spricht fliessend Hebräisch, Arabisch, Englisch und Italienisch – und ebenso fliessend die Sprache der Versöhnung. Bei der Organisation des Friedensgebets im Vatikan im Jahr 2014 spielte er eine Schlüsselrolle. Am 30. September 2023 wurde er von Papst Franziskus zum Kardinal erhoben und erhielt die Titelkirche «Sant’Onofrio al Gianicolo».
Kardinal Pizzaballa begegnet Konflikten nicht mit Formelkompromissen, sondern mit hörender Geduld und glaubwürdiger Präsenz. Als Hirte und Ordensmann lebt er einen Stil, den der verstorbene Papst Franziskus oft gefordert hat: eine Kirche an den Rändern, nah bei den Menschen – nicht abstrakt, sondern konkret.
Die geistliche Mitte von Jerusalem neu vermessen
Rom ist das Herz der Kirche – das Zentrum, das für die Einheit und Leitung verantwortlich ist. Jerusalem ist ihr spiritueller Ursprungsort, der immer wieder zur inneren Erneuerung einlädt. Beide Orte, beide Dimensionen bedingen einander: Leitung braucht geistliche Tiefe, und Spiritualität braucht Form und Struktur, um sich in der Welt zu entfalten. Ein Pontifikat aus Jerusalem könnte diese Komplementarität auf neue Weise ins Bewusstsein rufen – nicht als Gegenmodell zu Rom, sondern als spirituelle Ergänzung. Ein solcher Papst wäre keine blosse Symbolfigur, sondern ein geistlicher Wegweiser. In einer Weltkirche, die vielerorts mit Vertrauensverlust, Zersplitterung und der Suche nach neuer Glaubwürdigkeit ringt, könnte ein solcher Perspektivenwechsel heilsam sein – nicht weg von der Institution, sondern hin zu ihrer Verankerung im Evangelium. Pizzaballa ist zumindest ein Hirte, der die Sprache des Evangeliums spricht – und zugleich die Sprachen der Menschen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
Vom Staub des Heiligen Landes zum Herzen der Weltkirche
Ein Papst aus Jerusalem könnte die Weltkirche an ihren geistlichen Ursprung zurückführen und sie auf mehreren Ebenen neu ausrichten:
- Erstens durch eine stärkere theologische und pastorale Rückbindung an die Wurzeln des christlichen Glaubens. Der Glaube an Jesus Christus wurde nicht in einem Konzil geboren, sondern im Staub Galiläas, im Schatten Jerusalems, im Licht der Auferstehung. Eine Kirche, die von dort her neu spricht, wäre keine rückwärtsgewandte, sondern eine erneuerte österliche Kirche.
- Zweitens durch eine glaubwürdige Förderung des interreligiösen und ökumenischen Dialogs. Für Pizzaballa ist das keine Theorie, sondern gelebter Alltag. Seine Erfahrungen mit Judentum, Orthodoxie, Islam und säkularer Gesellschaft befähigt ihn, Brücken zu bauen – nicht primär durch Programme, sondern vor allem durch persönliche Präsenz.
- Drittens durch eine neue Aufmerksamkeit für verfolgte und marginalisierte Christen. Wer die Kirche von Jerusalem aus denkt, denkt sie nicht von einer privilegierten Mitte, sondern von den leidenden Gliedern her. Pizzaballa kennt das Christsein ohne Privilegien – eine Erfahrung, die die Kirche weltweit lehren könnte, sich nicht weg von der Kirche als Institution, sondern vertieft als geistliche Gemeinschaft, deren Mitte Christus selbst ist, zu verstehen. Eine Kirche, die in der Schwachheit stark ist.
- Viertens durch seine franziskanische Prägung: Demut, Einfachheit und ein hörendes Herz. In einer Zeit, in der viele Gläubige nicht nach strategischen Visionen, sondern nach gelebtem Zeugnis suchen, verkörpert Pizzaballa jene «Kraft in der Schwachheit», von der der Apostel Paulus in 2 Kor 12,9 spricht.
Natürlich: Der Ausgang eines Konklaves ist nicht planbar, und die Wahl eines Papstes bleibt dem Wirken des Heiligen Geistes vorbehalten. Innerkirchlich mag ein Papst aus Jerusalem unwahrscheinlich erscheinen – weder Kardinalsrang noch geografische Herkunft allein bestimmen das bevorstehende Konklave. Und doch lohnt es sich, dieses Gedankenexperiment oder die vergessene Option Jerusalem ernst zu nehmen. Denn es ist mehr als Spekulation: Es ist eine Einladung, neu über den inneren Kurs der Kirche nachzudenken – über ihre geistliche Verortung und Erneuerung, ihre Sprache und ihre Zukunft. Vielleicht liegt die Mitte der Kirche nicht nur dort, wo ihr Machtzentrum steht, sondern auch dort, wo ihre Hoffnung aufleuchtet: in einem leeren Grab, in einer Stadt, die nie aufgehört hat, nach Frieden und Versöhnung zu rufen.
Einen näheren Einblick in das Wirken des Lateinischen Patriarchats von Jerusalem bietet die offizielle Website des «Lateinischen Patriarchats von Jerusalem» Link
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Zurück zu Pizzaballa: Wahr ist, dass die Orientierung nach Jerusalem vergleichsweise zur angepriesenen Globalkirche immerhin im Ansatz an das berühmte Motto von Erasmus von Rotterdam in seiner Pariser Programmschrift von 1511 erinnert: Ad fontes! Zu den Quellen. Das scheint mir, auch vom Alter des Kandidaten her, immerhin eine Perspektive zu sein. Über sein theologisches Format könnte ich nichts sagen, wie die meisten hier, weil ich im Gegensatz zu den Schriften Ratzingers und Küngs oder denjenigen von Kurt Koch, eher kein Papabile, von ihm nichts gelesen habe. Vom Alter her könnte d "Pizzabäcker", wie er genannt wird von denjenigen, die sich seinen Namen merken wollen, noch vielleicht stark genug sein für das Durchziehen von Reformen, selbst wenn vielleicht die dringendsten nicht gleich die sein müssen, die medial am meisten genannt werden. @Claudio Tessari. Wiewohl ich wie der neubekehrte amerikanische Vizepräsident noch nie eine Hostie in der Hand gehalten habe, bin ich mir nicht ganz so sicher wie Sie, was wohl der "unverkürzte katholische GlaubeE sei, auch als unbedingter Verehrer der Gottesmutter. Die jahrhundertelangen Debatten um die Befleckte oder Unbefleckte Empfängnis, hervorragend wiewohl nicht abschliessend dargestellt von Frau Kathrin Utz Tremp in ihrem 1000seitigen Standardwerk über den bedeutendsten Gerichtsprozess (Bern 1506 - 1509) zeigen auf, wie Komplex allein schon die Theologie betreffend die Gottesmutter zu verstehen ist.
Ich kenne in der Schweiz keinen aktuellen Religionslehrer oder Katechetin, welche in diese Problematik wirklich eingearbeiter wären. Einer der besten Texte dazu ist die von Zwingli damals noch als katholischem Priester gehaltene Predigt beim Einsiedler Engelweih-Fest 1516 bzw. 1522 gehaltene Predigt über die reine Magd Maria, die glücklicherweise den heftigen Streit um das Dogma nicht anspricht, aber das aus seiner Sicht welt- und heilshistorische Ereignis des Ja-Wortes der Muttergottes als wohl das bis heute für mich eindrücklichste Predigt-Zeugnis für die These der "immerwährenden Jungfräulichkeit" der Gottesmutter darstellen konnte. Um diese Predigt machten die Reformationshistoriker bis heute mit einer einzigen mir bekannten Ausnahme, Prof. Locher sen., einen riesigen Bogen. Es handelt sich um die erste Predigt des späteren Reformators, die quellenmässig wörtlich bezeugt ist, in Druck gegeben 3 Tage nach der beim Bühl zu Einsiedeln gehaltenen 2. Engel-Weih-Predigt, die in ihrer pingelig genauen Bibelauslegung und einer Dauer von über 2 Stunden die Zuhörerschaft nachweislich überforderte. So wie heute noch zum Beispiel das Dogma von der Transsubstantiation der Hostie 99% der Kommuniongänger nach meiner Erfahrung überfordert, und die Lehre von Luther und Zwingli betr. dieses Abendmahl-Mysterium, u.a. von Prof. Köhler auf ca. 1 200 Seiten dargestellt, zeigt eine viel komplexere Problematik als es herkömmlich auch noch in dem gründlichen Religonsunterricht meiner Jugend im Kollegium Sarnen dargestellt wurde. Entscheidend bleibt wohl, was der Einzelne spirituell mit dem Mysterium des Abendmahls für sein Leben anfangen kann.
Zurück zu Papst Franziskus: Seine besten Predigten, zum Beispiel die über die Tugend der temperantia, das richtige Mass, worüber u.a. Josef Pieper vorzüglich geschrieben hat, bezeugen sein wahres, vielleicht etwas dorfpfarrerhafte Format als Papst weniger als Pontifex maximus wie vielmehr als "Papa" einer vielschichtigen und natürlich oft orientierungsgefährdeten Christenheit.
Entscheidend ist nicht, wer Papst wird, sondern dass er rechtgläubig ist und den unverkürzten katholischen Glauben wieder klar verkündet. Es geht nicht um liberal oder konservativ, sondern um häretisch oder orthodox. Zitat Kardinal Müller.