Die Gemeinschaft der «Petites Sœurs Disciples de l’Agneau» (© Petites Sœurs Disciples de l’Agneau)

Pro Life

Eine unge­wöhn­li­che Gemeinschaft

Véro­ni­que spürte die Beru­fung zum Ordens­le­ben. Die junge Frau klopfte an die Türen meh­re­rer Gemein­schaf­ten, aber immer wurde sie abge­wie­sen. Der Grund: Véro­ni­que hat Tri­so­mie 21, auch bekannt als «Down Syndrom».

Im Jahr 1985 änderte eine Begegnung alles: Véronique traf Line Rondelot. Die junge Frau war auf der Suche nach ihrer Berufung, die sie im Dienst an den Kleinsten leben wollte, nachdem sie 18 Jahre lang als Katechetin gearbeitet hatte. Aufgrund ihrer Erfahrungen wusste sie, dass religiöse Gemeinschaften keine Strukturen hatten, die für Frauen mit Trisomie 21 geeignet waren. Zudem sahen das kanonische Recht und die Klosterregeln die Aufnahme von Menschen mit geistiger Behinderung nicht vor. Line erkannte in Véronique aber eine echte Berufung. Die beiden fassten einen Entschluss und begannen in einer kleinen Sozialwohnung ein Gemeinschaftsleben; später schloss sich eine weitere junge Frau mit Trisomie 21 an. 1990 baten sie den damaligen Erzbischof von Tours und späteren Kardinal Jean Honoré (1920–2013), sie zunächst als öffentliche Vereinigung von gläubigen Laien anzuerkennen. Er setzte sich in Rom für die kleine Gemeinschaft ein und so erhielt diese eine erste Anerkennung.

Die wachsende Gemeinschaft zog 1995 in ein einfaches Haus in Le Blanc im Département Indre. Die Schwestern bauten das Haus und die Kapelle, die mitten in einem grossen Park liegen, nach und nach aus. Sie leben nur zehn Minuten von der Benediktinerabtei Fontgombault entfernt, die ihnen eine grosse spirituelle Unterstützung bietet.

Im Jahr 1999 wurde die Gemeinschaft von Mgr. Plateau, dem Erzbischof von Bourges, als weibliches Institut des geweihten Lebens errichtet und 2011 erhielt die Gemeinschaft «Les petites soeurs disciples de l’agneau» – rund 20 Jahre nach ihrer ersten Anfrage – dank Erzbischof Armand Maillard, der von 2007 bis 2018 Erzbischof von Bourges war, die endgültige Anerkennung ihrer Konstitutionen
 

«Grosse Taten sind uns verboten»
Die Schwestern leben ein einfaches Leben nach der Regel Benedikts, das sie mit dem verborgenen Leben von Jesus, Maria und Josef in Nazareth vergleichen. Gleichzeitig ist ihr Leben von der heiligen Thérèse von Lisieux, d. h. durch ihre Kleinheit und Demut beeinflusst. Die Schwestern sagen: «Wir folgen dem Weg der Kleinen Thérèse: Grosse Taten sind uns verboten, wir werden nie grosse Theologinnen sein.»

Das Ordensgewand der Schwestern besteht aus einer weissen Tunika, die der Tunika der Gefährten Jesu ähnelt, und einem braunen Skapulier der Karmelitinnen, um daran zu erinnern, dass sie jede ihrer Handlungen mit Liebe und Demut ausführen sollen.

Der Tagesablauf ist wie in anderen Gemeinschaften klar geregelt. Da Menschen mit Trisomie 21 Mühe mit Veränderungen haben, hilft diese Struktur den Schwestern, den Alltag autonom zu gestalten.

08.00 Uhr Laudes
08.30 Uhr Tätigkeit im Haus und Pflege des Gartens
11.00 Uhr Messe (wenn ein Priester anwesend ist)
12.00 Uhr Mittagessen
13.30 Uhr Persönliches Gebet
15.00 Uhr Rosenkranz
15.30 Uhr Handwerkliche Tätigkeit
18.00 Uhr Vesper
20.00 Uhr Komplet

Die Schwestern üben eine Vielzahl handwerklicher Tätigkeiten aus, die auf die Fähigkeiten der einzelnen Schwestern abgestimmt sind. Sie weben, töpfern, spinnen, arbeiten im Garten, stellen Tee her (von der Ernte bis zur Abfüllung) und besitzen sechs Bienenstöcke.
 

Eine tiefe spirituelle Kraft
Die Gemeinschaft hat sich vom Heiligen Geist geleitet Jahr für Jahr mehr an das religiöse Leben mit einer Behinderung angepasst. Dieses Gemeinschaftsleben ist nur möglich, weil die Schwestern mit einer Beeinträchtigung von nicht behinderten Schwestern unterstützt werden. Aktuell leben neun Schwestern, davon zwei ohne Beeinträchtigung, im Alter von 33 bis 47 Jahren in der Gemeinschaft. Sie hoffen, bald weitere «gesunde» Schwestern aufnehmen zu können, da die Schwestern mit Trisomie 21 Begleitung im Alltag benötigen.

Mutter Line würde sich freuen, junge Frauen aus den USA zu empfangen, die eine Berufung spüren, sich den «petites soeurs trisomiques» anzuschliessen. Warum aus den USA? Mutter Line meint, dass Menschen mit Trisomie dort in den Gemeinden und Familien besser aufgenommen werden als in Europa. Junge amerikanische Frauen, die berufen sind, sollen zuerst in Frankreich ausgebildet werden, bevor sie in den USA eine Gemeinschaft gründen, wenn das der Wille Gottes ist. Gott beruft und beruft auch in Europa. Mutter Line erinnert an Papst Franziskus, der die Menschen aufruft, sich den Kleinsten und Ärmsten zu weihen

Diese Berufung sei eine lebenslange Verpflichtung, biete aber eine einzigartige Gelegenheit, von den Schwestern mit Trisomie 21 zu lernen. «Sie sind sehr gut im Verzeihen, und das ist eine schwierige Aufgabe», sagt die Priorin. «Sie lehren uns, wie wir auf dem Weg zu Gott sein können.» Mutter Line erkennt in ihren Mitschwestern eine erstaunliche spirituelle Kraft. «Sie kennen die Bibel auswendig, das Leben der Heiligen, sie haben ein fabelhaftes Gedächtnis. Ihre Seelen sind nicht behindert! Im Gegenteil, sie sind dem Herrn näher, sie kommunizieren leichter mit ihm.»1
 

Die Gemeinschaft wurde durch den frühen Tod von Schwester Rose-Claire im Alter von nur 26 Jahren geprägt. Sie war eine grosse Verehrerin der heiligen Thérèse von Lisieux und gemäss ihrer Mitschwestern von einer Aura der Heiligkeit umgeben. Mutter Line befürchtete aufgrund der emotionalen Sensibilität ihrer Mitschwestern heftige Reaktionen, doch diese blieben aus. «Als ich am nächsten Morgen in ihre Zellen ging, um es ihnen mitzuteilen, sagte die erste zu mir: ‘Das ist der Wunsch des Himmels’. Die zweite meinte: ‘Wir müssen durchhalten. Wir haben den Glauben’.»2

Schwester Marie-Ange erklärte damals voll Freude: «Auch ich haben den Wunsch, in den Himmel zu gehen.» Dieser Wunsch wurde ihr am 14. August 2020, am Vorabend von der Aufnahme Mariens in den Himmel, erfüllt. In der Predigt bei ihrer Beerdigung sagte Pater Dom Jean Pateau: «Die Kleinsten, die Schwächsten, diejenigen, die von der Welt nicht beachtet werden, laufen schneller als wir in der Nachfolge Jesu. Vielleicht ist das der Grund, warum unsere so zerstreute Welt sie nicht mehr sieht ... sie sind zu weit weg ... sie laufen zu schnell.»3

Das Klosterleben kennt Höhen und Tiefen. Die Schwester in ihrer einfachen Art nehmen auch die Schwierigkeiten an und durchleben sie mit einem Lächeln. Sie haben ein unendliches grossen Vertrauen in Jesus Christus, der sie gerufen hat und dem sie folgen.

«Es ist nun 34 Jahre her, dass ich den Ruf Jesu gehört habe. Ich habe versucht, Jesus kennenzulernen, indem ich die Bibel und das Evangelium gelesen habe», erzählt Schwester Véronique. «Ich bin glücklich, ich liebe das Leben. Es ist meine grösste Freude, die Braut Jesu zu sein.»4
 

Der Orden kennt wie andere Gemeinschaften eine Zeit des Noviziats sowie einfache und ewige Gelübde. Interessierte Frauen haben die Möglichkeit, in der Gemeinschaft mitzuleben, um diese besondere Spiritualität kennenzulernen. Weitere Informationen auf der Webseite der Gemeinschaft.

 

1,2,4 https://www.vaticannews.va/fr/eglise/news/2019-07/histoires-partagees-soeurs-trisomiques-disciples-agneau.html (Abgerufen am 7. Dezember 2022)
3 https://www.les-petites-soeurs-disciples-de-lagneau.com/depart-de-notre-petite-soeur-marie-ange-au-ciel-le-14-aout-2020/ (Abgerufen am 7. Dezember 2022)


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

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Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitete für die Schweizerische Kirchenzeitung SKZ.


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