Statuen von Heiligen von Gian Lorenzo Bernini auf dem Petersplatz. (Bild: Silvan Beer/swiss-cath.ch)

Hintergrundbericht

Eine Wolke von Zeu­gen: Ein Blick auf die Heiligenverehrung

140 Sta­tuen hei­li­ger Frauen und Män­ner zie­ren allein die Kolon­na­den des Peters­plat­zes in Rom. Die Kir­chen in Rom und der gan­zen katho­li­schen Welt sind erfüllt von die­sen Vor­bil­dern. Ganze Kir­chen und Altäre sind ihnen geweiht. Sie zie­ren Wände, Kup­peln und Post­kar­ten, wer­den als Sou­ve­nirs von den Stras­sen­händ­lern angeboten.

Im Verlauf der Jahrhunderte haben sich grossartige Künstlerinnen und Künstler ihrer Darstellung angenommen und – in Massenproduktion reproduziert – werden diese Kunstwerke über den ganzen Globus verbreitet. Einigen dieser Vorbilder begegnen wir bereits in der Bibel, andere lebten in jüngster Vergangenheit, wieder andere scheinen dem Reich der Märchen und Mythen entstiegen zu sein. Flackernde Wachträume der Christenheit, die dennoch lebendiger und näher wirken als so manch bedeutsame historische Persönlichkeit.


Herkunft und Herausforderung
Die Heiligenverehrung erregt nicht nur in einer säkularisierten Welt Anstoss. Auch innerchristlich ist sie seit Jahrhunderten Thema der Auseinandersetzungen. Selbst die Katholische Kirche rang um einen angemessenen Umgang mit diesem Aspekt der Frömmigkeit, der so vehement von den Gläubigen gefordert wurde. Denn die Heiligenverehrung ist keine Kopfgeburt der Theologie, die dem Volk auferlegt wurde – im Gegenteil! Seit frühchristlicher Zeit werden Heilige für ihr Leben, Wirken und Sterben insbesondere von den einfachen Gläubigen verehrt. Dieses Phänomen wird bis heute ambivalent wahrgenommen. Zu stark ist der Hang zu abergläubischer Verirrung. Zu naiv und schwärmerisch erscheint dieser Aspekt des Glaubens. Verlieren diese Heiligen bei näherer Betrachtung nicht oftmals ihren Glanz, wenn sich ihre Biografien als historisch unhaltbar erweisen? Der Begriff «Heiligsprechung» ist zum geflügelten Wort für verklärte Idealisierung geworden. Und doch ist sie es Wert, ernst genommen zu werden. Denn inmitten all des Kitschs und der Volkstümelei, die die Heiligenverehrung oftmals umgibt, findet darin etwas genuin Christliches seinen Ausdruck, dem wir bereits im Neuen Testament begegnen: «Darum also wollen auch wir, da wir eine so grosse Wolke von Zeugen um uns haben, jede hemmende Last und die uns so leicht umringende Sünde ablegen und mit Ausdauer laufen in dem Wettkampf, der vor uns liegt, indem wir hinblicken auf Jesus, den Urheber und Vollender des Glaubens» (Hebr 12,1–2a).

In der bunten Vielgestaltigkeit der heiligen Frauen und Männer erkennen wir eine konkrete, sichtbare Bekräftigung des Rufes in die Nachfolge Christi. Die Kolonnade des Petersplatzes lenkt den Blick zur Fassade des Domes. Dort erblicken wir die Apostel und in der Mitte steht Christus als Fluchtpunkt ihrer aller und auch unserer Existenz.
 

Eine Wolke von Zeugen
Ein Mensch des Glaubens ist niemals allein. Er lebt nicht nur in einer unauslöschlichen Beziehung zum dreieinigen Gott, sondern zugleich in lebendiger Gemeinschaft mit allen Gläubigen vor und mit ihm. Diese Gemeinschaft geht mitten durch den Tod und durch alle Zeiten und Gebiete hindurch, wie es nur im Geist Gottes geschehen kann. Durch die Taufe ist der Christ in den mystischen Leib der Kirche aufgenommen, und so vielgestaltig schon nur der menschliche Körper ist, so vielgestaltig sind die Persönlichkeiten, die diesen geistigen Leib bilden. Ohne Widerspruch findet man unter den Heiligen der Kirche so scheinbar gegensätzliche Figuren wie die heiligen Franz von Assisi und Thomas von Aquin oder Teresa von Avila und Thérèse von Lisieux. Diese grossen Heiligen widersprechen sich ebenso wenig, wie dies ein Auge und eine Hand innerhalb des menschlichen Körpers tun. Und jeder Gläubige, egal wie bescheiden oder wie bedeutsam, fügt sich in diese illustre Gesellschaft ein. Die Art und Weise der Zeugenschaft (μαρτύριον, martýrion, griechisch für Zeugnis) ist mannigfaltig. Geeint sind alle diese Heiligen aber in der Quelle und dem Ziel ihres Wirkens – Jesus Christus.

Die grosse Wertschätzung und Aufmerksamkeit, die die Christenheit ihren Heiligen beimisst, ist somit eine Form der Selbst- und damit Gotteserkenntnis, denn nur von Gott her erhält dieser mystische Leib sein Leben. Die Heiligenverehrung ist eine Form des Staunens. So wie man jeden Tag neu über den Sehsinn staunen kann, so kann die Christenheit immer neu über Beispiele des göttlichen Wirkens im Menschen staunen. Selbstredend darf dabei der kritische Blick auf die realen Gegebenheiten nicht verloren gehen. Die Kirche ist nicht nur mystischer Leib; sie ist ebenfalls sichtbares, ganz konkretes Menschenwerk und damit anfällig für den destruktiven Sog, dem wir alle ausgesetzt sind. Die Fallhöhe der Kirche ist jederzeit hoch. Die Beispiele von Gefallenen sind zahlreich. Die Kirche kann krank werden und der Krankheitserreger ist immer der Mensch selbst, der Demut, Glauben und Einfachheit verliert, wie es im 15. Jahrhundert Girolamo Savonarola der Bussprediger und scharfe Kritiker von kirchlicher Verfehlung formuliert hat. Die Kirche kann selbstverliebt, kann triumphalistisch werden. In der Heiligenverehrung kann Christus vergessen werden. Unheilige Menschen können sich als Heilige aufspielen. Die Möglichkeiten der Verdrehung sind Legion. Gefahr und Kraft liegen im Dasein oftmals nah beieinander. In welch zerstörerische Richtungen kann doch die Liebe zwischen zwei Menschen ausscheren. Wie anfällig ist das so wichtige Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Kunst kann Propaganda sein. Poesie kann Genozide anfachen. Unser aller Körper kann Waffe oder Geborgenheit für andere sein. Alles Wichtige im Leben kann gefährlich sein und die Nachfolge Christi ist vielleicht das Gefährlichste von allem. Doch bei all den Gefahren ist in diesem Ausschauhalten, Studieren und Ehren von echter Zeugenschaft – nichts anderes ist die Heiligenverehrung – etwas zutiefst Gesundes am Werk.
 


Ecce Agnus Dei
Über dem Schreibtisch des grossen reformierten Theologen Karl Barth hing eine Reproduktion des Isenheimer Altares. Den Gekreuzigten und daneben Johannes der Täufer, der auf ihn zeigt, hatte er bei der Arbeit stets vor Augen. Er wäre wohl nicht erfreut darüber gewesen, hier als Beispiel herhalten zu müssen – doch nichts anderes geschieht in der Heiligenverehrung, als dass man sich das «Ecce Agnus Dei» (lat. Siehe, das Lamm Gottes) von Johannes dem Täufer vor Augen hält. Die Zeugenschaft der Heiligen ist nichts anderes als ihr persönlicher Ausdruck dieses Verweisens auf Christus. Der Protomärtyrer Stephanus und so viele nach ihm liessen selbst den Tod zu einem solchen Zeichen werden. Immer wieder erheben Menschen den Arm zu dieser Geste des Verweisens und sprechen in ihrer je eigenen Sprache die gleichen Worte, die Johannes der Täufer sprach, als er Christus vorübergehen sah. Überall – in Stein, Erzählung, Malerei, Musik, Liturgie usw. – bekennt die Kirche, dass ein solches Leben der Zeugenschaft möglich ist. Man ist umgeben von Beispielen dieser Zeugenschaft. Im mystischen Sinne, da man in ewiger Gemeinschaft mit ihnen von Gottes Händen getragen ist, aber ebenfalls ganz praktisch als Vorbilder auf dem eigenen Weg. Die Kirche als pilgerndes Gottesvolk blättert ununterbrochen in diesem riesigen Katalog von Beispielen der Nachfolge: Teresa von Avila hat Grossartiges geschrieben. Stephanus hat seinen Mördern vergeben. Thérèse von Lisieux hat in aller Bescheidenheit ein heldenhaftes Leben gelebt. Bernadette Soubirous hat ihr Herz der Muttergottes geschenkt. Franz von Assisi hat ein Leben der Armut gewählt und die Schönheit der Schöpfung gepriesen. Maximilian Kolbe hat sein Leben im KZ für andere geopfert. Die Wolke der bekannten und unbekannten Zeuginnen und Zeugen ist unerschöpflich. Was für Weggefährten haben wir doch auf dieser Reise!
 


Knochenharte Realität der Heilsgeschichte
Und all diese Vorbilder sind – bei aller historischen Unschärfe – keine Fiktion. Das Christentum ist kein Denksystem, keine blosse Ideologie. Papst Benedikt XVI. sagte, dass das Christentum im Kern die Begegnung mit der Person Jesus von Nazareth sei. Diese Zentralität der Person prägt auch die Heiligenverehrung. Die Heiligen sind Menschen wie wir – mit allen Eigenheiten, Stärken und Schwächen, die auch unsere Leben prägen. Was sie auszeichnet, ist, dass sich in ihnen etwas vom Göttlichen in der Welt bemerkbar macht. Der Ruf Gottes, der alles durchdringt und überall gültig ist, findet in manchen Menschen zu stärker wahrnehmbarem Ausdruck. Sonst sind sie einfach Menschen – mit Haut und Haar. Und was uns immer wieder auf den Boden dieser kreatürlichen Realität von Heiligkeit bringt, ist die Begegnung mit Reliquien. Diese morbid anmutende Praxis, Knochen und andere Überbleibsel von Heiligen in Kirchen aufzubahren, erdet die Beziehung zu den Heiligen. Die Knochen der Heiligen zwingen einem dazu, sie in ihrer kreatürlichen Realität zu betrachten. So kann man in Mailand den heiligen Ambrosius besuchen, sein Skelett sehen, staunend dieses kräftige Gebiss betrachten. Unwillkürlich denkt man: Dieser Mund hat also dem Kaiser die Kommunion verwehrt! Diese Hände haben den heiligen Augustinus getauft! Und in Gegenwart dieser Überreste wird einem klar, dass es wahr ist, was die Kirche durch die Jahrtausende hindurch verkündet: Das Gerücht von Gott und seiner Heilsgeschichte, in die wir alle eingeflochten sind, ist also tatsächlich wahr! Dieser Anspruch und Zuspruch Christi, der bis heute nicht totzukriegen ist und durch alle Verzerrung, Verfehlung und Angriffe von innen und aussen hindurch immer noch ertönt, ist so real, so solide, so unumstösslich echt, wie es diese Knochen sind.
 


Silvan Beer

Silvan Beer studiert gegenwärtig Theologie und Philosophie in Freiburg i. Ü.


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Bemerkungen :

  • user
    Max Ammann 07.02.2023 um 10:54
    Die Heiligen- und Reliquienfrömmigkeit ist irgendwie schräg, aber doch liebenswert. Sie machen u.a. den Reichtum der katholischen Tradition aus und sind ein wahrhaftes Produkt der Volksfrömmigkeit. Natürlich kann man über mancherlei Auswüchse berechtiger- oder unberechtigterweise die intellektuelle Nase rümpfen, aber solche Dinge machen unseren Glauben so wunderbar spürbar, nahbar und unkompliziert - manchmal auch amüsant. Obwohl Glaube und Vernunft zwingend zusammen gehören, tut ein bisschen warme Volksfrömmigkeit der akademisch-nüchternen Kälte des theologischen Denkens gut.