Ein befreundeter Priester hat kürzlich in einer Predigt die Frage aufgeworfen, was das Wichtigste im Leben sei. Und er gab gleich selbst die Antwort: «Das Wichtigste ist, zu wissen, was das Wichtigste ist.»
Diese scheinbare Tautologie bringt zum Ausdruck, dass ein Mensch, dem ein oberstes Ziel fehlt, in eine Orientierungslosigkeit verfällt, die ihm jeden Sinn und jede Motivation raubt. Lehrer beispielsweise wissen, wie schwierig es ist, Jugendliche, die keine Berufs- oder Lebensziele (diese können vom Erwerb eines schönen Autos bis hin zur Gründung einer Familie reichen) haben, zum Lernen zu bewegen. Obwohl wir selbstverständlich nicht alle obersten Ziele als gleichwertig betrachten können, so ist es tatsächlich wahr, dass die Absenz eines zu erreichenden Ideals für den Menschen den schlimmsten Zustand darstellt. Auch wenn uns von der Werbeindustrie bis hin zu esoterisch angehauchten Lebensratgebern suggeriert wird, der Mensch könne sich jeden Tag neu erfinden, so gibt die Existenz eines obersten Ziels die notwendige Stabilität, um auch unseren Alltag gelassener zu meistern. Die Verbissenheit und Schnelligkeit, mit der Menschen heutzutage oft auf banale und nebensächliche Petitessen reagieren, zeugt von einer fehlenden Prioritätensetzung, so letztere überhaupt existiert. Wenn sich ein Mensch das materielle Ziel setzt, Geld für einen Hauskauf anzusparen, eine sportliche Höchstleistung wie den Marathon zu meistern oder dem Wunsch nacheifert, möglichst viel Wissen in einem bestimmten Fachbereich zu erwerben, so wird er sich nicht so schnell über eine Zugverspätung, den lauwarmen Kaffee im Restaurant oder die Macken seiner Mitmenschen aufregen. Umso erhabener und höher das Ziel, desto grossherziger geht der oder die Zielsetzende durchs Leben.
Fehlender Mut, die richtigen Prioritäten zu setzen
Wenn wir nun den Blick auf die Institution werfen, die den Wunsch haben sollte, die Menschen zum höchsten Gut – dem ewigen Glück in der Anschauung Gottes – zu geleiten, so müssten wir erwarten, dass gerade hier Geduld, Gelassenheit und Grossherzigkeit gefordert sind. Jeder, der mit der Situation in der Deutschschweizer Kirche vertraut ist, weiss jedoch, dass es sich oft leider genau umgekehrt verhält. In den Kirchgemeinden und Pfarreien stehen meist die Befindlichkeiten und Eitelkeiten der Angestellten im Zentrum des Geschehens und nicht das Wohl der Gläubigen. Verbissen wird um Stellenprozente, um Befugnisse, Funktionsbezeichnungen und Löhne gekämpft. Dazu gesellt sich noch eine unbeschreibliche Kleinlichkeit und Kleinkariertheit in der Organisation von ganz einfachen Dingen wie Apéros, Kirchenchoreinsätzen oder anderen Pfarreianlässen. Damit sich bloss niemand übergangen fühlt, müssen unzählige Sitzungen für Abläufe organisiert werden, die eigentlich Sache des gesunden Menschenverstandes wären. Sicherlich ist dieser Hang zu überflüssigen Besprechungen und Sitzungen nicht nur eine rein kirchliche, sondern eine gesamtgesellschaftliche Dekadenzerscheinung. Es scheint jedoch, dass die hiesige Kirche am stärksten davon betroffen ist.
Die Apathie, die in den Pfarreien, Kirchgemeinden, Kantonalkirchen bis hin zu den Bistumsleitungen anzutreffen ist, erinnert unweigerlich an die «Arbeitslosen von Marienthal». Die von Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel im Jahre 1933 durchgeführte Studie in einer Arbeitersiedlung in der Nähe von Wien zeigte auf, welche Auswirkungen eine langandauernde Arbeitslosigkeit auf den Menschen hat. Ein langsameres Schritttempo, der Verlust jeglichen Zeitgefühls bis hin zu einer geringeren kulturellen Aktivität (obwohl mehr Zeit zur Verfügung stünde durch die Arbeitslosigkeit) waren die sichtbaren Symptome der fehlenden Struktur, die durch die Erwerbslosigkeit entstand. Die Situation, welche die Soziologen in den 30er-Jahren in Marienthal vorfanden, spiegelt sich fast 1 zu 1 in den meisten Deutschschweizer Pfarreien wider. Obwohl die Seelsorger und andere kirchliche Mitarbeitenden genügend Zeit hätten, das Pfarreileben durch verschiedene Angebote zu bereichern, verharren sie oft in einer wie gelähmt wirkenden Passivität. Selbstverständlich gilt dies nicht für alle kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Insbesondere gibt es viele Priester, die tagein, tagaus selbstlos und gewissenhaft ihren Dienst als Seelsorger erfüllen, nicht selten bis an den Rand der Erschöpfung. Vielfach sind es Priester, die in Treue zur kirchlichen Lehre und Überlieferung ihrer Berufung nachgehen, dabei zum Verdruss progressiver Kreise gerade bei Jugendlichen auf Anklang stossen – und genau deshalb ausgegrenzt oder gar mit dem Entzug der Missio canonica «belohnt» werden.
Warnung vor Illusionen
Allerdings gilt es, in diesem Zusammenhang auf zwei falsche Vorstellungen hinzuweisen, die sich in konservativen Kreisen hartnäckig halten: Einerseits die Meinung, dass viele Pfarreien zwar nicht lehramtstreue Anlässe durchführen, jedoch vielerlei andere nützliche Dinge. Wer jedoch die Tätigkeiten einer Pfarrei quantifiziert, kommt schnell zur Erkenntnis, dass die meisten Ortskirchen in eine regelrechte Starre geraten sind, die nur noch versucht, den Status quo zu verwalten. Als Beispiel einer solchen Verwaltung des kirchlichen Lebens sind die Pastoralräume zu nennen, die in den letzten Jahren im Bistum Basel wie Pilze aus dem Boden schossen. Sie dienen nur noch dazu, eine Scheinwirklichkeit aufrechtzuerhalten, die von der Unfähigkeit der Verantwortungsträger ablenken soll, dem Niedergang der Kirche entgegenzuwirken.
Ein zweites dominierendes Narrativ ist die religionsökonomische Auffassung, wonach der momentane Schlendrian einzig und allein durch die reichlich fliessenden Kirchensteuern entstehe. Fielen diese weg und wäre die Kirche wie in vielen anderen Ländern der Welt auf Spenden angewiesen, würden sich die Anstrengungen massiv erhöhen, die Menschen für den Glauben zu gewinnen. Auch wenn ich in der gegenwärtigen Situation ebenfalls ein Befürworter der Abschaffung des dualen Systems bin, so ist es falsch zu glauben, dass sich plötzlich alles zum Besseren verändern würde, wenn die Kirche keine Steuergelder mehr hätte. Geld bleibt immer ein extrinsischer Motivator, dessen Existenz zwar die unerfreuliche Nebenerscheinung mit sich bringt, dass viele Menschen von und nicht für die Kirche leben, dessen Wegfall jedoch nicht automatisch authentischere Laien und bessere Priester hervorbringt. Die romantisierende Vorstellung, Armut schaffe automatisch bessere Christen, verkennt, dass die Seligpreisungen Jesu für diejenigen, die arm vor Gott sind, sich nicht ausschliesslich auf das Materielle beziehen. Auch eine materiell arme Ortskirche, die Gott und seinen Geboten nicht die erste Stelle einräumt, wird diesem Aufruf Jesu nicht gerecht.
Möchte man die spirituelle Auszehrung, die unsere hiesigen Pfarreien seit Jahren heimsucht, lösen, muss man meines Erachtens wieder ein klares Ziel und einen klaren Auftrag fassen, welche die Richtung für alle anderen Handlungen der kirchlichen Akteure vorgeben. Das oberste Ziel kann dabei nur dasjenige sein, das stets die oberste Priorität in der Kirche hatte: Das ewige Heil der Seelen. Es genügt nicht, wenn heutige Seelsorger nur über weltliche Dinge reden, ohne dabei eschatologische Fragen zu berücksichtigen. Wenn ökologische und soziale Themen Hauptgegenstand von Predigten sind, ohne dabei eine Brücke zu schlagen zur Frage, was Sinn und Zweck der menschlichen Existenz ist, dann wird die kirchliche Verkündigung obsolet.
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Wütenden Widerstand erfuhr ich im übrigen von reformierten Pfarrern aus der Sozialdemokratischen Fraktion für den Antrag, im Kanton flächendeckend eine würdige zivile Abdankung zu garantieren, sie merkten, was auch Kurt Marti immerhin kritisierte, dass die kirchliche Abdankung eine der besten Garantien zum Erhalt der Systemkirche darstellte. Wie auch immer, das Verhältnis zum Tod bestimmt noch stärker als die Eucharistie, deren Geheimnisse vielfach auch von noch kirchentreuen Katholiken so wenig mehr verstanden werden wie die Mariendogmen, bestimmt theoretisch und praktisch unser Verhältnis zur Religion, überdies, und hier sind Gläubige nach wie vor kompetent, der Grundwert des Heiligen, wie von Papst Johannes Paul II. in seiner Habilitationsschrift über Max Scheler dargetan. Wer an einer heiligen Stätte eine Kerze anzündet, im Gedenken an einen lieben Menschen oder gar an seinen Feind, der weiss noch einigermassen, was Religion ist ohne weitere Erklärung. Netto kommt es, wie Tolstoi es besonders gut wusste, aber auf das Vaterunser an, dessen bisher wohl beste Übersetzung in die deutsche Sprache vom Appenzeller Professor Stefan Sonderegger geleistet wurde, die Appenzeller Version, die endlich auch die Problematik der Bitte betreffend Versuchung einer befriedigenden Lösung zugeführt hat, schon Jahrzehnte bevor Papst Franziskus als sein vielleicht grösstes Verdienst auf diese Verlegenheit der Übersetzer aufmerksam gemacht hat. Meines Erachtens helfen die Gedanken von Herrn Ric betr. die Eucharistie nicht weiter, sofern der Zusammenhang mit dem Fasten und der Beichte nicht wieder hergestellt wird. Im Schweizer Protestantismus war die Vorbereitung auf den Empfang des Abendmahls eine Bedingung für den würdigen Empfang desselben: relativ stark betonten sie die geistige Seite der Kommunion, wovon wir durchaus unsere Lehren ziehen könnten. Wer zum Beispiel nie fastet, Steuern hinterzogen hat, ohne aufrichtige Reue die Ehe gebrochen, jemanden den gerechten Lohn vorenthalten, das misslungene Attentat auf Trump bedauert, jemanden ungerecht als Nazi beschimpft, sich bei hasserfüllten Gedanken über Fremde oder politische Gegner ertappt, Pornos geschaut, die Abtreibung gutgeheissen, oder sonst sich als Sünder vorkommt, kann immer noch wie Bruder Klaus in Form einer Betrachtung sich der geistigen Kommunion annähern.