Nach den Europawahlen vom 9. Juni 2024 konnte auch die «Neue Zürcher Zeitung» nur noch Klartext reden: Eine «krachende Niederlage» habe der französische Präsident Emmanuel Macron eingefahren. In der Tat: Nur gerade einmal 14,56 % erreichte seine Partei «Renaissance», nicht einmal die Hälfte der rechtsnationalen Partei «Rassemblement National» von Marine Le Pen, die mit 31,4 % als strahlende Siegerin aus dieser Ausmarchung hervorging.
Nach diesem geradezu historischen Debakel hätte gemäss dem modernen Demokratieverständnis eigentlich der Staatspräsident selbst zurücktreten müssen – eigentlich. Aber Frankreich ist eben keine Demokratie wie jede andere. Während in Deutschland nach den verheerenden Erfahrungen mit der präsidialen Machtfülle in der Weimarer Republik die Kompetenzen des Staatspräsidenten radikal beschnitten wurden, entspricht in Frankreich die Rolle des Präsidenten jener des «roi soleil», ja, die französische Aufklärung hat die Stellung des Monarchen noch zementiert, Napoleon den Weg zur schrankenlosen Allmacht geebnet, in dessen allzu grosse Fusstapfen seine Nachfolger noch so gerne treten.
Nun hat Präsident Macron Knall auf Fall das Parlament aufgelöst und Neuwahlen dekretiert. Bereits am 30. Juni 2024 findet die erste Runde statt, am 7. Juli wird über die definitive Zusammensetzung des Parlaments entschieden. Ist es Hybris, Strategie oder purer Irrsinn?, fragte der «Tages-Anzeiger». Wohl eher Letzteres. Fürs Erste hat sich der narzistisch-egomane Staatschef schon einmal gehörig verrechnet: Er wähnte sich im irrigen Glauben, mit seiner ultra-kurzen Frist die chronisch zersplitterte Linke überrumpeln zu können. Doch diese, sprich die Kommunisten, Grünen, Sozialisten und die linksextreme Bewegung «France insoumise», haben sich flugs zu einer Wahlallianz zusammengeschlossen. Auch dies eine alte französische Tradition: Droht Gefahr von rechts, verbünden sich reflexartig all jene Kräfte, die sich als Gralshüter der Werte der französischen Aufklärung verstehen. Paradebeispiel ist die sogenannte Volksfront in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts, die sich mit aller Macht schliesslich erfolgreich gegen ähnliche Strömungen zur Wehr setzte, die in Deutschland zur Macht gelangten.
Schicksalswahl mit Signalwirkung für ganz Europa
Das Frankreich von heute steht in den kommenden zwei Wochen vor einer Schicksalswahl mit Signalwirkung für ganz Europa, denn seine Probleme sind gewaltig. Das beginnt mit den Finanzen: Frankreichs Schulden betrugen Ende 2023 111 % des Bruttoinlandsprodukts. Damit ist Frankreich nach den USA und Japan der drittgrösste staatliche Schuldner der Welt geworden. (Zum Vergleich: Die Schweiz rechnet für das laufende Jahr mit einer Schuldenquote von 36 %.) Der Gesamtbetrag summiert sich in konkreten Zahlen ausgedrückt auf 3100 Milliarden Euro. Das Vabanque-Spiel von Präsident Macron hat die Verzinsung der Staatsschulden gegen 3 % hochgetrieben, womit Frankreich allein zur Tilgung seiner Zinslast jährlich rund 100 Milliarden Euro aufbringen müsste.
Doch trotz dieses düsteren Szenarios: Es sind nicht die finanzpolitischen, sondern die gesellschaftspolitischen Spannungen, an welcher die Grande Nation zu zerbrechen droht.
Ganz oben auf der Traktandenliste der politischen Auseinandersetzungen steht die sich zur existentiellen Bedrohung des Landes auswachsende Islamisierung des Landes. Gille Kepel brachte im Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» (18. Juni 2024) diese explosive Gemengelage auf die folgende Kurzformel: «Heute ist es einfacher, in Frankreich Islamist zu sein als in Saudiarabien.» Kepel, lange Jahre Professor an der renommierten Universität Sciences Po und einer der bekanntesten Intellektuellen Frankreichs, sieht die westlichen Gesellschaften generell in Gefahr – wegen Parallelgesellschaften, woken Ideologien, Rechtsextremismus und einer Elite, die all diese Probleme nicht sehen will. Seinerseits ist er heftigen Anfeindungen ausgesetzt, weil er die unheilige Allianz zwischen Islamisten und Linken anprangert, welch letztere den religiösen Fanatismus unter dem Vorwand des Antirassismus zum Tabu erklärt.
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