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Kommentar

kon­ter­text: Hei­lige Zeit

Fei­er­tage bewah­ren im Kalen­der den ein­dring­li­chen Wunsch nach einem ande­ren Leben. Könn­ten sie auch War­nung sein vor Überkonsum?

Dieser Kommentar von Silvia Henke erschien zuerst auf Infosperber

Weihnachten, heisst es, steht vor der Tür. Wenige Kantone der katholischen Schweiz kennen zudem den Feiertag für Maria Empfängnis am 8. Dezember. Um hier gleich etwas zu verraten: Als im Kanton Luzern Beschäftigte kann ich ihn gar nicht genug loben, diesen Feiertag, der neben Allerheiligen den einzigen Stopp einlegt im Rasen der Zeit gegen Jahresende. Ein eigentlicher Jahresabschlusswettlauf, in dem es allen Beteuerungen zum Trotz kaum Zeit für die allseits gewünschte «Besinnung» gibt.

Heilige Tage
Im protestantischen Basel, wo ich lebe, kenne ich seit Kindheit auch Allerheiligen. Und zwar als Tag, an dem wir nicht in die Stadt gehen durften. Die Stadt, so pflegte meine Mutter zu sagen, sei überschwemmt von deutschen Nachbarinnen und Nachbarn, die zu Allerheiligen in Basel auf die Messe und zur Einkaufstour kommen. Diese Inkongruenz ist mir geblieben mit der seltsamen Feststellung, dass Feiertage für spezielle Vergnügen da seien. Natürlich gibt es noch wenige Menschen, die an Allerheiligen Grabpflege machen und der Toten gedenken. Die Mehrheit aber sieht den Feiertag zum Feiern, das heisst: mehr einkaufen, mehr essen, mehr erleben. Und mit dem Einzug der Halloweenpartys sind sie durchaus bereit, noch mehr Accessoires und Alkohol zu verkraften. Die Ruhe und Leere eines Friedhofs scheint weniger verlockend. Oder vielleicht reicht die Zeit ja für beides, denken sich einige – wenn man sich nur etwas sputet? 

Weniger programmatisch ist der Feiertag des 8. Dezember mit Maria Empfängnis, ein wirklich geheimnisvoller und auch durch alle Dogmen der katholischen Kirche hindurch kompliziert begründeter Feiertag. Der Tag feiert nämlich nicht die unbefleckte Empfängnis von Jesus durch Maria, sondern deren eigene Empfängnis durch Anna, ihrerseits heilig und damit Garantin, dass Maria auserwählt werden konnte als Gottesmutter. Seit 1708 gilt der 8. Dezember gemäss Papst Clemens XI. als Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria. Während die Frage der Erbsünde immer auch theologisch umstritten war, leuchtet der Feiertag auch ausserhalb der katholischen Kirchengeschichte ein, nimmt man ihn als Erinnerung an den Wunsch nach Erlösung, der über Maria mit den Menschen verbunden wurde. Jemand musste den Erlöser gebären und diese Person muss in jeder Hinsicht rein und vorbildlich sein. Da der Marienkalender an diesem Tag keine weiteren Rituale und Verpflichtungen kennt, ist es ein angenehm leerer Tag, eine stille Übereinkunft mit der für viele unbekannten Welt des christlichen Glaubens. Und für das Wunder einer unbefleckten Empfängnis. Erlösung ist nicht zu haben ohne Hoffnung auf ein Wunder, das hat die katholische Lehre früh bedacht.

Könnte man die Lehre von Maria Empfängnis umwidmen für die Sehnsucht nach Erlösung heute, dann sollte der Feiertag der Leere gehören. Er sollte jenem «Unbehagen im Wohlstand» (Gernot und Rebecca Böhme) nachhorchen, das mittlerweile zahlreiche Studien erforscht haben. Es gilt seit 40 Jahren als erwiesen, dass durch die Wachstums- und Optimierungsideologie der Gesellschaft auch dort, wo es um Geborgenheit gehen sollte (Feiertage!), Leistung gefordert ist. Wir haben uns an diesen Stress gewöhnt – aber der Preis dafür ist enorm. Der Postwachstumsökonom Niko Paech, den ich letzte Woche in einer Vorlesung begrüssen durfte, bringt es so auf den Punkt: Unsere psychische Resilienz ist mit dem Wohlstand nicht mitgewachsen. Das hat zur Folge, dass die Menschen in Wohlstandsgesellschaften unglücklich sind und unter dem Leistungsdruck der Optimierung und Beschleunigung seelisch verkümmern. Wir wissen dies heute so sicher, wie wir wissen, dass wir den Planeten durch unser Konsumverhalten ruinieren. Das Schlimmste dabei, so Niko Paech, ist die Überzeugung, dass wir dies nicht ändern können, weil man ja, so unsere Ausrede, nur das Grosse und Ganze ändern kann. Die Ablehnung individueller Verantwortung aber sei der Hauptirrtum.

An diesem Punkt setzt das Prinzip Hoffnung ein: Wir glauben zwar nicht mehr an eine Rettung der Welt durch Gott, Maria oder die Politik, aber wir brauchen Hoffnung. Woher nehmen und nicht am falschen Ort stehlen – zum Beispiel beim blinden Fortschrittsglauben? 

Weihnachten oder eine andere Geschichte ist immer möglich
Auch ohne theologische Tour de Force liegt es auf der Hand: Es gibt eine Sehnsucht nach Erlösung und auf diese folgt auch die Hoffnung nach einem anderen Leben. Diese Hoffnung ist am Wachsen. Sehr viele Menschen, besonders jüngere, wollen nicht mit der Sinnleere von Überkonsum und Überarbeitung weiterleben. Irgendwie muss es beginnen, aber nicht irgendwo, sondern im eigenen Umfeld, im eigenen Leben. «Wir und jetzt» war das Motto der Basler Klimagerechtigkeitsinitiative Basel 2030, die am 27. November von über 60 Prozent der Stimmenden angenommen wurde. Zwar mit der Verzögerung von sieben Jahren auf das Zieljahr 2037, um klimaneutral zu werden, wie es der Gegenvorschlag des Parlamentes vorsieht. Aber das Entscheidende hinter diesen 60 Prozent ist, dass ein grosser Teil der «bewegten Menschen» bereit ist, die Sache nicht einfach der Politik und der Technik zu überlassen, sondern aktiv auch an einer anderen Lebens- und Konsumgestaltung mitzuwirken. Im Hier und Jetzt. Das ist vielleicht auch ein kleines Wunder, und es verdankt sich sicher auch dem Wohlstand von Basel. Die Basler Politik und auch die Bevölkerung werden sich vielleicht noch wundern über die Entschlossenheit der Klimabewegung, Ernst zu machen mit einem Leben im Weniger. Eine «Freie Strasse» voller Reparaturläden statt Billigwaren made in China. Kein Traum, sondern das einzig Vernünftige.

Das Sich-selber-beim-Schopf-Packen braucht also das Gebäude einer gemeinsamen Hoffnung. Damit komme ich wieder zu Weihnachten. Nicht zu Weihnachten als Konsumanlass und Familienzwang, sondern zu dem ihm innewohnenden Prinzip der Natalität. 

Man kann dazu vielleicht einmal wieder der unglaublichen Mahalia Jackson zusehen und zuhören mit ihrer Intonation von «Silent Night, Holy Night». Es ist ein musikalisches Zeugnis, wie Hoffnung aufgebaut wird, weil etwas anfängt. Fast mit der Inbrunst und Anstrengung einer Geburt singt sie den Text, und bei «Christ the saviour is born!» stockt für einen Moment der Atem. Spätestens in diesem Moment muss man glauben, dass es letztlich dieses Faktum der Natalität ist, das uns retten kann. Fern von männlichen Zeugungsphantasien und den ersten technologischen Schritten Richtung künstliche Gebärmutter kann man also in diesem Weihnachtsgesang der Philosophie der Natalität zuhören, die zu Hannah Arendt führt. 

In Vita activa schreibt die einzige Philosophin der Natalität, dass wir dadurch, dass wir geboren werden, unter der Bedingung der Natalität stehen und damit befähigt sind, selbst einen neuen Anfang zu machen, das heisst zu handeln. «Im Sinne von Initiative – ein initium setzen – steckt ein Moment von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten, was nichts anderes besagt, als dass diese Tätigkeiten eben von Wesen geübt werden, die durch Geburt zur Welt gekommen sind und unter der Bedingung der Natalität stehen.» (Hannah Arendt, Vita activa, Kapitel 1)

Aus dieser Natalitätskonzeption ergibt sich die Bedingung einer Existenz, die den immer garantierten Anfang der Geburt als Möglichkeit menschlicher Freiheit nimmt, das Leben zu ändern. Gleichzeitig ist Natalität gemäss Hannah Arendt die Bejahung des Einzigartigen, das ebenfalls Bedingung wäre für die menschliche Existenz – auch wenn alles verwoben und verknotet ist im Kosmos. Jedes Leben ist neu und einzigartig und kann nicht einfach ausgelöscht werden, auch das ist der christliche Sinn von Weihnachten und dem mit ihm formulierten Tötungsverbot des Neuen Testamentes. So kommt mit Weihnachten das Prinzip der Natalität als Teil einer unabschliessbaren Geschichte von Hoffnung wieder. Man muss ja nicht «Stille Nacht» singen, aber sicher ist: Je weniger man die Feiertage in Vergnügungen und Schlemmerei erstickt, desto eher wird etwas davon (be)greifbar.

Originalbeitrag auf Infosperber

Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Publizistin und Mitglied im Initiativkomitee von Basel 2030.


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