Diese Geschichte ist mehr als ein historisches Ereignis; sie spricht direkt in unsere Gegenwart. Übertragen auf die Schweiz begegnen wir zahlreichen «Randfiguren»: Menschen, die durch Krankheit, Armut, Migration oder psychische Belastungen aus dem gesellschaftlichen Blick verschwinden. Sie leben nicht nur am Rande der Städte, sondern mitten in der Gesellschaft – und doch oft unsichtbar. In Zürich schlafen Menschen unter Brücken, in ländlichen Regionen kämpfen Familien mit prekärem Einkommen. Geflüchtete erleben Isolation und bürokratische Hürden, die sie fast unsichtbar machen. Als Seelsorger berührt mich tief, dass manche Menschen nur eingeschränkt rechtlich abgesichert leben – auf der von Gott geschenkten und dem Menschen anvertrauten Erde.
Geld allein reicht nicht
In einer Nation, die stolz auf Wohlstand und soziale Ordnung ist, stellt sich die Frage: Wie sehr nehmen wir die Stimmen dieser Menschen wirklich wahr? Oft wird geholfen – schnell, effizient, unbürokratisch – doch nicht immer menschlich, nicht immer mit Blick auf ihre Würde. Wie die zehn Aussätzigen im Evangelium brauchen sie Begegnung, Aufmerksamkeit und echte Wertschätzung. Auch in einem gut organisierten Gesundheitssystem zeigen steigende Kosten und die wachsende Zahl psychischer Erkrankungen, dass Heilung und Fürsorge mehr als materielle Mittel brauchen: menschliche Nähe, Verständnis und Aufmerksamkeit.
Der Auftrag der Kirche
Als katholische Kirche in der Schweiz haben wir einen klaren Auftrag. Wir können nicht nur karitative Projekte organisieren – Suppenküchen, Obdachlosenhilfe, Flüchtlingsunterstützung – sondern müssen auch gesellschaftlich Stellung beziehen. Wir können die Stimme derer sein, die sonst keine haben. Dabei dürfen wir nicht belehrend auftreten, sondern wie Jesus selbst: heilend, menschlich, anerkennend. Der Dank des Samariters zeigt, dass echte Heilung weit über das Körperliche hinausgeht: Sie umfasst Herz und Seele und die Anerkennung der Würde des anderen.
Zurückkehren und danken
Doch das Evangelium fragt auch uns persönlich: Wie oft übersehen wir die kleinen Heilungen im Alltag? Ein freundliches Wort für den Nachbarn, eine helfende Hand für die Kollegin, ein ehrliches «Danke» für jene, die unser Leben ein Stück heller machen? Wir sind oft wie die Neun, die weitergehen, ohne zu bemerken, was geschehen ist. Bequemlichkeit, Routine, Hektik – all das macht uns blind für die Geschenke des Lebens, die uns täglich erreichen, und auch für die Gnade Gottes.
Dankbarkeit ist mehr als eine Tugend des Herzens; sie ist ein Spiegel der Gesellschaft und der Kirche. Sie zeigt, wie wir Gemeinschaft gestalten, Solidarität leben und in der Welt wirksam werden. Wenn wir in der Schweiz eine Kirche wollen, die relevant bleibt, muss sie sichtbar machen, dass sie auf der Seite derer steht, die sonst übersehen werden. Gleichzeitig lädt sie uns ein, selbst lernfähig zu bleiben, die Augen zu öffnen und das Wunder des Dankens zu üben – in kleinen Gesten wie in grossem Engagement. Damit meine ich auch, Gott Danke sagen zu dürfen – für alle Christinnen und Christen. Für all jene Menschen, die anderen die Hände reichen, deren Füsse dorthin gehen, wo Hilfe gebraucht wird, deren Augen wahrnehmen, wo Not ist, und deren Herzen die Kraft haben, das Evangelium zu leben. Sie verkörpern den mystischen Leib Christi, der durch uns, durch Ehrenamtliche und Engagierte, in der Gesellschaft sichtbar wird. Jeder Schritt, jede helfende Hand, jedes zugewandte Auge ist Teil dieses lebendigen Leibes, der Heilung, Hoffnung und Dankbarkeit trägt.
Eine kleine Geste des Dankes
Vielleicht liegt die eigentliche Botschaft des Evangeliums genau darin: Heilung, Glaube, Menschlichkeit und Dankbarkeit gehören zusammen. Sie sind nicht abstrakt, sondern konkret und sichtbar. In jeder Begegnung, die wir zulassen, in jedem Menschen, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken, begegnet uns Christus selbst. Und vielleicht, nur vielleicht, ist es gerade die kleine Geste des Dankes, die unsere Welt ein Stück heiliger und menschlicher macht.
Am Ende dieser Geschichte steht die Vermisstenmeldung Jesu – fast wie ein Echo in unsere Zeit: «Ist denn keiner umgekehrt, um Gott zu ehren, ausser diesem Fremden?» Diese Worte fordern uns auf, innezuhalten und einen Schritt zurückzutreten: Wie oft kehren auch wir um, um Gott zu danken – dafür, dass er uns Heil schenkt und uns mit seiner Gegenwart beschenkt? Vielleicht ist die Statistik auch heute noch ähnlich wie zu Jesu Zeit: Einer von zehn.
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Wer jetzt denkt, das Ganze sei ein Streit um Kaisers Bart, möge nicht vergessen, dass die Umgestaltung einer Gesellschaft wesentlich mit der Veränderung der Sprache zusammenhängt. Wer die Deutungshoheit über die Begriffe hat, sitzt am längeren Hebel. So konnte etwa aus dem Wort "konservativ" mit der Zeit ein Synonym für "ewiggestrig" oder "hinterwäldlerisch" werden. Kirchentreue Katholiken werden deshalb in den Medien gerne als "konservativ" bezeichnet, obwohl sie weder konservativ noch progressiv sind, sondern schlicht katholisch.
Die Frage ist, wer ehrt heute noch wirklich Gott? Für wen ist Gott noch wirklich wahrer Gott und Herr, und nicht einfach ein mehr oder weniger willkommenes Helferlein, oder gar nur noch ein höhere Macht? Wo ist heute jene Furcht des Herrn, welche der Anfang der Weisheit ist (vgl. Ps 111,10), jener Weisheit, welche die Probleme der Menschen und der Welt zu lösen vermag mit Blick auf unser ewiges Ziel, unser ewiges Heil, das ewige Heil aller Menschen. «Euch aber muss es zuerst um sein (Gottes) Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann (und nur dann) wird euch alles andere dazugegeben.» (Mt 6,33) Ja, Gott will unsere Liebe zum Nächsten, unseren Einsatz für ihn, aber nicht als die Herren dieser Welt, sondern als Diener in seinem Auftrag, nach seinen Weisungen, und als die Boten jener Befreiung – oder besser gesagt jener Erlösung - welche er uns in seinem Kreuz bereit hält.