Agnell Rickenmann. (Bild: zVg)

Interview

«Offen für den Weg, den Gott für mich bereit hält»

Agnell Ricken­mann ist seit 2017 Regens des Semi­nars St. Beat im Bis­tum Basel. Auf Mitte Okto­ber gibt er sein Amt auf und wird ein zurück­ge­zo­ge­nes Leben auf dem Wie­sen­berg im Kan­ton Nid­wal­den füh­ren. Im Gespräch mit «swiss​-cath​.ch» erzählt er von sei­nen Beweg­grün­den, sei­nem zukünf­ti­gen Leben und spricht über die Situa­tion der Kirche.

Sie werden auf Mitte Oktober das Regensamt abgeben, um auf dem Wiesenberg eine neue Lebensphase zu beginnen. Wie sieht die aktuelle Situation aus? Befinden Sie sich gerade «zwischen Stuhl und Bank»?
Das trifft die Situation ziemlich genau. Zurzeit bin ich dabei, Abschied zu nehmen vom Ausbildungsteam. Wir hatten es wirklich sehr gut zusammen. Jetzt gibt es bekanntlich einen grossen Wechsel in der Art, wie das Ausbildungsteam und die Regentie sich zusammensetzen. Da kein Priester gefunden wurde, der das Regensamt zu 100 Prozent übernehmen kann, wird mein Nachfolger neben seinen anderen Aufgaben als Pfarrer und leitender Priester im Pastoralraum Luzern nur zu 20 Prozent als Regens tätig sein. Er übernimmt die priesterlichen Funktionen und die Begleitung der Priesteramtskandidaten, die restlichen Aufgaben werden auf die anderen Mitglieder des Teams verteilt.

Auch von den Studenten gilt es Abschied zu nehmen. Ich habe sehr nette Post erhalten, die mich extrem gefreut und zum Teil auch sehr berührt hat.

Ein weiterer Abschied kam in meiner Familie dazu: Vor drei Wochen verstarb mein Vater. Man kann den Zeitpunkt auch als von der Vorsehung gefügt verstehen, denn es wäre für mich schwierig geworden, ihn vom Wiesenberg aus jede Woche in Solothurn zu besuchen.

Auf der anderen Seite freue ich mich riesig auf die Zeit, die vor mir liegt. Ich habe einen grossen inneren Frieden in mir, auch eine Freude, besonders in Anbetracht der Freiheit, die mich erwartet. Von aussen gesehen mag es keine Freiheit sein, denn ich werde einen sehr geregelten Tagesablauf einhalten – fast wie ein Mönch. Aber es ist eine innere Freiheit.

Haben Sie sich die Tagesstruktur selbst gegeben?
Ja. Ich habe mir einen Plan gemacht, der so um sechs Uhr morgens mit dem Gebet beginnt und gegen neun Uhr abends mit dem Gebet aufhört. Ich werde sicher einen Teil des Tages in der wunderbaren Kirche auf dem Wiesenberg verbringen, in der sich eine schöne Muttergottesstatue befindet. Aber ich bin kein Mönch in Klausur, das heisst, ich werde mir die Freiheit nehmen, bei schönem Wetter auch einmal eine Hore im Wald, auf einem Felsen oder auf einer Bank im Freien zu beten.

Haben Sie den Wiesenberg schon gekannt und sich bewusst für ihn entschieden oder war es ein Zufall?
Ich hatte bereits vor mehr als zwei Jahren mit dem Bischof über meinen Wunsch gesprochen, auf Ende Studienjahr 2023/24 diesen Schritt zu machen. Dankenswerterweise hat er meinem Wunsch entsprochen. Eigentlich wollte ich in den Tessin ziehen. Doch der vorgesehene Ort war aus verschiedenen Umständen nicht möglich. Mir kam dann aus unerfindlichen Gründen Pater Eugen Mederlet in den Sinn, den ich während meiner Studentenzeit über seine Schriften kennengelernt habe – eine interessante Person. Er hatte auf dem Wiesenberg ein zurückgezogenes Leben gelebt. So bin ich spontan dorthin gefahren. Mir gefiel der Ort und das Haus schien leer zu stehen, so nahm ich Kontakt mit dem Pfarrer von Wolfenschiessen auf. Dieser konnte sich gut vorstellen, dass ein kontemplativer Geistlicher in den Wiesenberg zieht. So kam alles in Gang.

Werden Sie auch priesterliche Dienste übernehmen?
Ich werde von Bischof Joseph Maria Bonnemain als zuständigem Bischof die Missio als Kaplan erhalten. Selbstverständlich werde ich jeden Tag die Heilige Messe feiern. Wenn jemand auf dem Wiesenberg stirbt, ein Kind getauft werden soll oder jemand heiraten möchte, werde ich das selbstverständlich übernehmen. Ich werde aber keine Aushilfen im grossen Stil übernehmen.

Die Frage klingt vielleicht etwas seltsam, aber was ist das «Ziel» Ihrer neuen Lebensweise?
Meine Generation – Menschen um die 60 Jahre – ist eine Generation von «Machern». Aber auch Jüngere sind in der Mentalität aufgewachsen und erzogen worden «schaffe, schaffe, Häusle bauen», wie die Schwaben sagen. Kirche bauen, Kirche konstruieren und ähnliches mehr spricht sicher Notwendiges an, denn wir müssen unseren Teil dazu beitragen. Aber ich denke – und das ist ein Grund, der mich zu meinem Entschluss geführt hat – dass wir als Christen die inneren Zusammenhänge der Wirklichkeit kirchlichen Seins sehen müssen. Diese erschliessen sich wesentlich auch durch die geistliche und geistige Kraft, die eine Institution hat, die eben nicht nur eine menschliche Institution ist, sondern auch einen wesentlichen göttlichen Teil hat. Die Kirche empfängt sich von dort her, wie alle Konzilsdokumente betonen. Wie will man den immer wieder zitierten Satz von der Eucharistie als Quelle und Höhepunkt des christlichen Lebens verstehen, wenn nicht das Zentrale dieser Aussage erkannt wird: dass uns von Gott her etwas geschenkt wird, was wir selbst eben nicht machen können. Wenn wir Menschen für diese Dimension zu wenig offen sind, bricht etwas vom Fundament, vom ganz Wesentlichen des Kirche-Seins weg. Meine Intention ist, hier mit meinen bescheidenen Mittel und Kräften ein Loch zu füllen und daran zu arbeiten, dass wir uns von dieser Seite wieder inspirieren lassen.

Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, wie lange Sie auf dem Wiesenberg bleiben?
Ich wurde schon gefragt, ob ich einfach eine Auszeit mache. Ich antwortete: Nein, es ist auf länger geplant. Ich halte es mit dem berühmten Motto, das auf dem Fünfliber steht: Dominus providebit – «Der Herr wird dafür sorgen». Der Herr muss uns führen – und das gilt auch für mich. Sollte er mir irgendwann zeigen, dass dies nicht mein Weg ist, hätte ich auch den Mut zu sagen: Die Zeit auf dem Wiesenberg war gut, doch jetzt steht etwas anderes an. Aber ich spüre eine so grosse Freude in mir, dass ich im Moment nicht davon ausgehe. Ich mache mir jedoch keine romantischen Vorstellungen von meinem neuen Leben. Zu Beginn wird es nicht einfach sein.

Es geht aber nicht darum, Eremit zu werden?
Nein, im Moment nicht direkt oder ausschliesslich. Eremit respektive Einsiedler ist eine eigene Berufung, der Begriff ist zudem kirchenrechtlich auch geschützt. Aber wie gesagt: «Dominus providebit – der Herr wird dafür sorgen». Wenn es wirklich so sein soll, wird sich das entwickeln, und ich werde es erkennen. Ich bin offen für den Weg, den Gott für mich bereithält.

Kommen wir nochmals zurück auf Ihre Tätigkeit als Regens. Schon seit mehreren Jahren erleben wir in der Kirche in Europa und den westlichen Ländern einen Rückgang der Berufungen. Haben Sie eine Idee, was die Ursache(n) dafür sein könnten?
Wenn ich eine ganz einfache Antwort darauf wüsste, wäre ich wahrscheinlich der berühmteste Mann in der Kirche. (Lacht.) Es ist tatsächlich eine sehr komplexe Geschichte, die meines Erachtens mit der Entwicklung der Kirche seit den 1950er-Jahren zu tun hat. Damals fand nach zwei Weltkriegen, die unsere europäischen Gesellschaften umpflügten, besonders also bei uns in Europa ein tiefer gesellschaftlicher Wandel statt. Auf diesem Hintergrund sehe ich strukturelle und kulturelle Unterschiede zu afrikanischen, asiatischen oder nordeuropäischen Ländern, wo die Bekenntnishaftigkeit, das Zeugnis-Geben für den Glauben viel stärker gefordert ist. Es gibt dort auch zahlreiche Berufungen, oft auch im Zusammenhang mit einem intensiven Glaubensleben.

Wie bereits gesagt: An der Kirche zu bauen, ist ein berechtigtes Anliegen, aber wenn die andere Dimension, das Geschenkhafte, also das, was von Gott herkommt, untergeht oder fehlt, dann wird es leer.

Heute sind die Menschen in Europa mehrheitlich weit weg von der Kirche. Das ist zum einen eine Gefahr, weil die Menschen nicht mehr kirchlich sozialisiert sind und daher von Inhalten und Formen christlichen Glaubens keine Ahnung mehr haben und damit auch die Fundamente der europäischen Kultur und Werte nicht mehr kennen. Es ist aber auch eine Chance, weil gerade junge Menschen in eine neue, echte Suchbewegung des Glaubens kommen. Dadurch nimmt der Charakter der Bekenntnishaftigkeit wieder einen eminenten Platz ein. Hier in der Diözese Basel mit rund 800 000 Katholiken habe ich zwar «nur» fünf Priesteramtskandidaten begleitet. Aber sie sind alle jung, alle willens, motiviert und haben ein inneres Gebetsleben.

Einige Gläubige versuchen die Kirche zu erneuern, zum Beispiel mit dem «PEP to go». Sie haben gespürt, dass es das Gebet braucht, welches dieses Tun trägt und unterstützt. Darf man salopp formulieren: Ihr Leben auf dem Wiesenberg ist Ihr Beitrag zur Synodalität?
Ja, das kann man so formulieren. Ich möchte nochmals auf den Begriff der inneren Zusammenhänge zurückkommen. Wir reden heute viel von «Networking», doch dieses Netz muss irgendwo verankert sein: Wird es nicht oben befestigt, fällt es herunter, wenn es ohne Bodenhaftung drei Meter über der Erde schwebt, fällt es in sich zusammen. Bei den Menschen, die Kirche bauen möchten, ist viel guter Wille da. Aber es fehlt manchmal der Angelpunkt in einer klaren Verankerung im lebendigen Glauben an die Göttlichkeit von Jesus Christus. Als Patristiker bin ich hier relativ unmissverständlich und sage: Bei aller Liebe, aber hinter das Konzil von Chalcedon kann man nicht zurückgehen. Eine der Sternstunden ist der berühmte «Tomus ad Flavianum» von Papst Leo dem Grossen, mit dem er seinem Kollegen von Konstantinopel den Rücken stärkt. Er schreibt deutlich, dass das Ineinander von Gottheit und Menschheit Jesu der zentrale Angelpunkt für alle Theologie ist. Werden diese nicht richtig aufeinander bezogen, dann fällt der ganze Rest grundlegender kirchlicher Wirklichkeit (Ekklesiologie, Soteriologie usw.) in sich zusammen. Die Kirchenväter betonen immer: Die Gottheit Jesu Christi ist immer zu bekennen: «ne evacuetur salus» – damit das Heil nicht infrage gestellt – oder gar seiner innersten Wirklichkeit entleert wird, dass also unser Glaube nicht zu einer blossen «Message» zur besseren Lebensgestaltung würde.

Was wünschen Sie sich für die Kirche?
Für die Kirche Schweiz wünsche ich mir, dass sie sich weniger an Strukturfragen klammert. Immer wieder kann man hören: «Wenn jetzt nicht das und das an Reformen kommt, dann wird die Kirche untergehen». Das ist ein Blödsinn. Natürlich kann man mit vielen Beobachtern sagen, die Kirche werde an Relevanz verlieren. Aber die verliert sie im Moment sowieso! Und sie verliert bestimmt nicht weniger an Relevanz, wenn wir jetzt noch mehr auf Mainstream getrimmt werden, auf keinen Fall! Es braucht Strukturveränderungen, im strukturellen und menschlichen Umgang miteinander, wobei auch das duale System unserer Kirchenorganisation in der Schweiz nicht in Stein gemeisselt ist. Man muss sich hier die Frage stellen, ob dieses System (des 20. Jahrhunderts) angesichts der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen so zukunftstauglich ist. Nur dass keine Missverständnisse entstehen: Ich möchte damit nicht gegen Frauen und Männer schimpfen, die sich z. B. in einer Kirchgemeinde mit Herzblut und Engagement eingeben. Aber so wie sich heute weniger Freiwillige finden, so stellt sich beispielsweise in vielen Kirchgemeinden die Frage nach geeigneten Ratspersonen.

Ich wünsche mir für die Kirche Schweiz auch weniger Polarisierung. Ich wünsche mir, dass Menschen, die ein sakramentales Gespür haben und aus diesem Verständnis leben, nicht vorschnell als konservativ marginalisiert werden. Ich denke, es muss in uns neu die Erkenntnis wachsen, dass die Sakramentalität zur wesentlichen Struktur unseres katholischen Daseins gehört. Von der anderen Seite wünsche ich mir, dass jene, die auf der «konstruktiven» Seite sind (Kirche bauen, Kirche machen), ebenso wenig vorschnell als Häretiker verdächtigt werden. Es braucht Grosszügigkeit auf beiden Seiten. Meines Erachtens ist das ein wesentlicher Aspekt der Synodalität, wie sie Papst Franziskus versteht: dass man einander wirklich zuhört. Es ist ja nicht so, dass eine Seite die ganze Wahrheit und Weisheit besitzt. Mehr echte geistliche Verbundenheit mit Gott, Gott wieder ins Zentrum unserer Existenz zu stellen, das ist doch das Wichtigste.

Für die Gesamtkirche wünsche ich mir Klarheit und Grosszügigkeit. Klarheit, damit die Gläubigen wissen, woran sie sind: «Wo katholisch drauf steht, sollte auch katholisch drin sein». Grosszügigkeit in dem Sinn, dass wir bei allen Strukturen, die wir haben, nicht zu Pharisäern werden, dass wir hier also eine grosse Menschlichkeit üben, wie sie uns Jesus vorgelebt hat.


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

E-Mail

Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin.


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Bemerkungen :

  • user
    Meier Pirmin 10.10.2024 um 08:39
    Durfte Herrn Agnell Rickenmann bei einem Bruder-Klaus-Vortrag in Basel, woher bekanntlich die Tradition des Beromünsterer Auffahrt-Umrittes stammt, begegnen und wünsche ihm auf dem Wiesenberg, der mit kostbaren Engelberger Traditionen verbunden ist, eine gesegnete Zeit. Hoffe. ihm in Nidwalden eines Tages wieder begegnen zu dürfen.
  • user
    T.L.D 08.10.2024 um 19:08
    Die grossen Reformen, die gefordert werden, wären ganz klar der Untergang für die Kirche...