Allerdings: Die innerweltlichen Heilslehren, sprich Nationalsozialismus und Kommunismus, sollten sich als Menschheitsbetrug historischen Ausmasses erweisen, dem Millionen Unschuldiger zum Opfer fielen.
Anstelle dieser völlig diskreditierten politischen Heilslehren machte sich ein neues Vakuum breit. Ideologisch unbelastete Wissenschaften, vorab die Biogenetik und Kommunikationstechnologien, schickten sich an, die Lücke zu füllen. Doch das für jede zivilisierte Gesellschaft unverzichtbare Wertefundament konnten und können auch sie nicht ersetzen. Erinnert sei an das berühmte Dictum von Wolfgang Böckenförde «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann» – ein Dictum, bleibt zu ergänzen, das nicht nur für den Staat, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes gilt.
Innerkirchliche Selbstdemontage
Inmitten einer Überfülle von Angeboten einer profitgetriebenen Konsumgesellschaft mit ihren künstlich erzeugten Bedürfnissen täte sinnstiftende Orientierung not, wäre ein mutiger Stellungsbezug gerade der Kirche besonders gefragt. Noch Papst Johannes XXIII. hatte sich Anfang der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts dieser Aufgabe gestellt, seine Enzyklika «Mater et magistra» (Die Kirche als Mutter und Lehrmeisterin) legt beredtes Zeugnis dafür ab.
Inzwischen hat der Wind gedreht. Stattdessen greift die von interessierten Kreisen systematisch betriebene innerkirchliche Selbstdemontage immer mehr um sich. Ein erbärmliches Beispiel dieses Selbst-Kasteiungsprozesses lieferte die Aktion «Reformen jetzt» im Bistum St. Gallen ab. In ihrem Aufruf vom 26. Oktober 2023 hiess es: «Nicht mehr die Kirche belehrt die Menschen, sondern die Menschen in ihren Paarbeziehungen und Familien zeigen als eigene Form von Kirche, was das Evangelium heute für uns bedeuten kann.»
Quasi im Gegenzug zu dieser Abdankung von Theologie und Kirche besetzt eine besondere Spezies flächendeckend das Terrain: Eine kaum noch überschaubare Zahl von Expertinnen und Experten. Kaum ein Tag, an dem uns nicht die Schlagzeile in die Augen springt: «Der Experte ordnet ein.» Gerne kann es auch eine Expertin sein: «Trump ist ein Europa-Motor wider Willen», klärt US-Expertin Claudia Brühwiler am 29. April die «Blick»-Leserschaft auf. Noch am gleichen Tag verkündet Expertin Angela Koller auf der Plattform «nau.ch» nach: «Appenzell-Wahl ist wichtig für die Gleichstellung.»
Einen geradezu inflationären Schub an Expertinnen und Experten hat uns der Tod von Papst Franziskus beschert. Praktisch im 12-Stundentakt melden sich Experten zu Wort, um die jeweilige Leserschaft über Gott und die Welt aufzuklären. Vor allem aber: Um den zukünftigen Papst schon hier und jetzt wissen zu lassen, was er zu tun und zu lassen habe. So der deutsche Daniel Bogner, Professor für Moraltheologie und Ethik an der Universität Fribourg auf «nau.ch»: «Die Aufgabe des Nachfolgers von Papst Franziskus wird es sein, die Impulse von Franziskus in gültige neue Regeln und Verfahren zu übersetzen.» Der «Weltwoche»-Kolumnist Matthias Matussek fordert seinerseits einen Papst, der gegen die Relativierung der Glaubensüberzeugung ankämpft, der «felsenfest das christliche Reich Gottes verkündet, das immer auch ein Gegenentwurf zur Welt ist».
Nur einer kommt als Papst in Frage
Eine Befehlsausgabe von seltener Arroganz und Intransigenz steuert Experte Benjamin Leven in der neuesten Nummer der Zeitschrift «Communio» bei. An die Adresse der wahlberechtigten Kardinäle gerichtet hält er fest: «Liebe Kardinäle, das grösste Zeichen der Demut, das Sie setzen könnten, wäre, nicht einen der Ihren zu wählen.» Infrage kommt für Leven weltweit nur einer: Der jetzige Erzbischof von Mailand, Mario Delpini. Denn, so die lapidare Begründung Levens für seinen Ukas: Er habe sich die Predigt des Mailänder Erzbischofs beim Begräbnis von Silvio Berlusconi angehört – eine Predigt von geradezu überirdischer Qualität, wozu die Kardinäle wiederum schlicht unfähig gewesen wären. Benjamin Leven wörtlich: «Ja, liebe Kardinäle, ich bin mir sicher, dass Sie bei diesem Anlass Schiffbruch erlitten hätten […] Lesen Sie die Predigt nach – und Sie werden einsehen, dass Sie zu so etwas nicht imstande gewesen wären.»
Ob all dieser mehr oder weniger apodiktischen Vorgaben zuhanden des Pflichtenheftes des zukünftigen Papstes nimmt sich die Prognose des ebenfalls als Experte firmierenden Theologen Thomas Schüller banal, ja geradezu wohltuend banal aus: «Ich erwarte eine schwierige Nachfolge-Wahl.» Zweifelsohne zutreffend, nur hätte es dazu nicht den Beizug eines Experten bedurft –zu dieser fraglos richtigen Einsicht reicht auch der gesunde Menschenverstand vollkommen aus.
Fazit: Ganz scheint es so, als hätten Expertinnen und Experten das Zepter in Gesellschaft, Staat und Kirche übernommen: Adieu Demokratie – es lebe die Expertokratie. Doch was die Kirche betrifft, liegen die Dinge doch etwas anders. Kardinal Gerhard Ludwig Müller hat es kongenial auf den Punkt gebracht: «Es ist falsch, die Kirche mit einer politischen Organisation wie dem Weltwirtschaftsforum oder der UNO zu verwechseln. […] Jeder Papst muss der Sendung des heiligen Petrus dienen. Er ist Servus servorum Dei – [Diener der Diener Gottes]. Der zukünftige Papst ist nicht der Nachfolger seines Vorgängers, sondern der Nachfolger Petri.»
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Die Wurzeln der Gruppe aus St. Gallen reichen bis in die 1980er Jahre zurück und verbinden sie mit dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE). Vorsitzender dieser Organisation, die Bischöfe aus dem gesamten Alten Kontinent vereinte, war 1979 der liberale englische Kardinal Basil Hume, ein glühender Verfechter des Dialogs mit der Moderne – und vor allem des ökumenischen Dialogs. Er versuchte, in Europa eine Gemeinschaft von Kirchenleuten zu organisieren, die sich fortschrittlichen Ideen verpflichtet fühlten, wenn auch nicht in radikaler Form. Im Jahr 1986 übernahm der Erzbischof von Mailand, Kardinal Carlo Maria Martini, die Leitung des CCEE von Hume. Er galt als herausragender Bibelwissenschaftler und geschätzter Prediger. Martini war sogar noch fortschrittlicher als Hume – und noch entschlossener, ein europäisches Netzwerk gleichgesinnter Bischöfe und Kardinäle aufzubauen. Zu diesem Zweck nutzte er die ihm anvertraute Organisation bis 1993, als Kardinal Miloslav Vlk den Vorsitz des CCEE übernahm.
Martini, der keine von ihm kontrollierte Struktur mehr hatte, die es progressiven Geistlichen ermöglicht hätte, sich zu vernetzen, hatte eine neuartige Idee. Er baute eine Zusammenarbeit mit dem Bischof des Bistums St. Gallen in der Schweiz, Ivo Führer, auf. Die beiden begannen mit der Arbeit an der Vorbereitung eines ständigen Treffpunkts für diese Menschen. Das erste Treffen fand 1996 im Kloster Heiligenkreuztal in Deutschland statt. Gastgeber war Bischof Walter Kasper, der später Kardinal und wichtigste theologische Kopf des Pontifikats von Papst Franziskus wurde. Die nächsten Treffen fanden in St. Gallen selbst statt. Neben Martini, dem Führer und Kasper wirkten auch Karl Lehmann, Godfried Danneels, Cormac Murphy-O’Connor und Achille Silvestrini aktiv mit. Die Geistlichen fragten sich, ob ein Richtungswechsel in der Kirche möglich sei, da ihrer Meinung nach Johannes Paul II. das „Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils“ nicht angemessen erfüllt habe.
Das Sankt Gallen-Programm wurde 1999 von Kardinal Martini auf der von Papst Wojtyla einberufenen Europa-Synode angekündigt. Er sprach damals über die sich verändernde Rolle der Frau in der Kirche, den Zölibat, den Dialog mit der Moderne, eine Neubewertung einiger bioethischer Probleme und die Notwendigkeit, der Kirche einen Charakter zu geben, der stärker auf Synoden und regelmässigen umfassenden Konsultationen beruht. Damals brachte er die Idee zum Ausdruck, aus der sich der globale Synodale-Prozess 2021–2024 entwickelte.
Auch in St. Gallen wurde darüber diskutiert, wer im Konklave nach dem Tod des heiligen Johannes Paul II. unterstützungswert wäre. Schon im Jahr 2003 beschlossen die Mitglieder der Gruppe, dass es sinnvoll wäre, eine engere Beziehung zum Erzbischof von Buenos Aires (Argentinien), dem Jesuiten Jorge Mario Bergoglio, aufzubauen. Folgendes ist tatsächlich passiert. Beim Konklave 2005 war Bergoglio Ratzingers Hauptrivale. Allerdings hatte er aufgrund des Mangels an breiter Unterstützung keine wirkliche Chance zu gewinnen. Dies wissen wir aus mehreren zuverlässigen Quellen. Ein Tagebuch eines Teilnehmers dieses Konklaves, in dem der Verlauf der Abstimmung detailliert beschrieben wurde, gelangte an die Medien. Seine Wahrhaftigkeit wurde von Benedikt XVI. indirekt in seiner von Peter Seewald verfassten Biographie bestätigt und auch Papst Franziskus selbst bekannte sich öffentlich zu seiner Kandidatur im Jahr 2005.
Im Jahr 2013 lebte Carlo Maria Martini nicht mehr. Allerdings waren auch alte Mitglieder von Sankt Gallen-Gruppe bei den Treffen vor dem Konklave aktiv, insbesondere Kasper, Danneels und Silvestrini. Sie hatten auch die Unterstützung anderer einflussreicher Hierarchen, beispielsweise Theodore McCarrick aus den USA. McCarrick hat öffentlich erklärt, er habe andere Kardinäle ermutigt, für Bergoglio zu stimmen. Obwohl sich die Mitglieder von Sankt Gallen nach 2005 nicht mehr regelmässig trafen, gaben sie ihre Agenda nicht auf. Im Jahr 2013 organisierten sie sich deutlich besser und setzten erfolgreich die Kandidatur Bergoglios durch, der seinen Hauptkonkurrenten, den von der konservativen Fraktion geförderten Kardinal Angelo Scola, besiegte.
Im Jahr 2025 spielt das „alte“ St. Gallen-Gruppe angeblich keine Rolle mehr. Martini starb 2012, Karl Lehmann 2018, Silvestrini und Dannels 2019. Walter Kasper ist 92 Jahre alt und bereut wahrscheinlich, Jorge Mario Bergoglio unterstützt zu haben, denn in öffentlichen Erklärungen distanziert er sich von dessen Pontifikat. Das heisst allerdings nicht, dass die Progressiven aus dem Martini-Stall heute keinen Nachfolger hätten, der diesen Namen verdient. Im Gegenteil.
Neue-Sankt Gallen-Gruppe wird vor allem von zwei Kardinälen gegründet: Reinhard Marx aus München und Jean-Claude Hollerich aus Luxemburg. Marx wurde unter Benedikt XVI. zum Kardinal. Er ist eines der wichtigsten Mitglieder des Ordens vom Heiligen Grab (dazu gehören auch andere Schweizer Bischöfe von Basel, Chur oder Fribourg); leitete das deutsche Episkopat; den Synodalen Weg initiiert; war Mitglied des elitären Kardinalsrates. Darüber hinaus ist er Ehrenmitglied der deutschen Sektion des Rotary Clubs (Freimaurer, sehr aktiv in der Schweiz, hauptsächlich Amtsinhaber der schweizer Landeskirchen!). Er verfügt über einen äusserst grossen Bekanntenkreis, eine fröhliche und dominante Persönlichkeit und enormen Einfluss (bereits als Leiter des kommenden Konklave bereits gewählt worden!) Hollerich ist ein Jesuit, der viele Jahre in Japan tätig war. Er wurde von Benedikt XVI. zum Erzbischof von Luxemburg ernannt. Franziskus nahm ihn in die römische Kurie auf, verlieh ihm die Kardinalswürde und vertraute ihm die Leitung des Synodalenprozesses an, indem er ihn zum Generalrelator dieser Initiative machte. Sowohl Marx als auch Hollerich sind in europäischen Strukturen aktiv. Hollerich ist stellvertretender Leiter des CCEE. Er war auch Präsident der COMECE, einer ähnlichen, auf die Europäische Union beschränkten Organisation, und übernahm das Amt nach Marx. Beide vertreten eine äusserst liberale Agenda. Um es milde auszudrücken, Martini könnte im Vergleich zu ihnen konservativ erscheinen. Das Programm der beiden Kardinäle kann schlicht als der deutsche Synodaleweg mit all seinen Leckerbissen betrachtet werden, von Frauenfragen über Zölibat bis hin zu LGBT.
Wie die glaubwürdigen Beobachter der Ereignisse in Rom vor dem Konklave erzählten, führen Reinhard Marx und Jean-Claude Hollerich umfangreiche Kampagnen, um Stimmen für ihren Traumkandidaten zu gewinnen. Sie trafen sich mit Persönlichkeiten der progressiven Bewegung wie Robert Prevost aus den USA und Luis Antonio Tagle (übrigens auch schon mit Marx als Leiter der Konklave bereits gewählt) von den Philippinen zusammen. Zu ihren natürlichen Verbündeten zählen Kardinäle wie Mario Grech aus Malta, Laszlo Nemet aus Ungarn, Jaime Spengler und Ulrich Leonardo Steiner aus Brasilien, Matteo Zuppi aus Italien, Jean-Paul Vesco aus Algerien, Tarcisio Isao Kikuchi aus Japan, Robert McElroy, Joseph Tobin und Blase Cupich aus den USA – und natürlich viele, viele andere Progressive aus der ganzen Welt.
Es gibt keine öffentlich zugänglichen Informationen, die darauf schliessen lassen, dass Marx, Hollerich und „Neue Sankt Gallen-Gruppe“ im Allgemeinen die Aktivitäten durchgeführt hätten, die ausdrücklich durch das kanonische Recht verboten wären. Die Kardinäle können miteinander reden, Meinungen über andere Kardinäle austauschen und über die Aufgaben nachdenken, die dem neuen Papst bevorstehen. Eine breite Kampagne für den einen oder anderen Kardinal ist zulässig – und das neue St. Gallen-Gruppe betreibt diese Kampagne mit Nachdruck.
Sollte ihnen es gelingen und ihr Kandidat neuer Papst werden, hätten wir es mit Franz II. zu tun – möglicherweise mit einem noch radikaleren Programm der Links-Liberalen. Seine Hauptaufgabe wäre es, das Projekt der synodalen Transformation der Kirche zu sichern und weiterzuentwickeln. Dabei geht es vor allem darum, die doktrinäre und moralische Dezentralisierung der kirchlichen Lehre zu beschleunigen und zu vertiefen. Marx wie Hollerich und ihre Gefährten haben schon lange gewartet, dass der Heilige Stuhl ihnen gestatten würde, ihre äusserst fortschrittlichen Lösungen in ihren eigenen Ländern umzusetzen, ohne Rücksicht auf die gesamte Universalkirche. Die Aufgabe des Papstes von Neuen-Sankt Gallen-Gruppe wäre es daher, eine Situation herbeizuführen, in der die Ortskirchen wichtige neue Kompetenzen erhalten und beispielsweise verheiratete Priester, den Frauendiakonat oder die volle Interkommunion mit Protestanten local einführen könnten.
Alles deutet darauf hin, dass die Neue St. Gallen-Gruppe keine Erfolgsgarantie hat, denn die konservative Seite versucht, genügend Stimmen zu mobilisieren, um im Konklave eine Sperrmehrheit von 45 Stimmen zu erreichen. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass sich die Neue-St. Galler-Gruppe mit der zentral-liberalen Fraktion einigt und letztlich einen linksgerichteten Kompromisskandidaten unterstützt, der auch von weniger überzeugten Mitgliedern der konservativen Fraktion unterstützt wird. Für Neue-St. Gallen-Gruppe wäre dies zwar ein unvollständiger Sieg, aber zugleich eine Status-Quo-Garantie für die weitere Arbeit an der Umgestaltung der Kirche im Sinne einer links-liberalen Ausrichtung.
Paul Ch.
Der Autor kündigte für 2022 das Buch „Papst Franziskus und die St. Gallen-Mafia. Wer steckt hinter der Revolution in der Kirche?“ an; 2024 veröffentlichte er „Das Pontifikat der Krise. Warum ist Benedikt XVI. zurückgetreten?“ In beiden Büchern beschrieb er ausführlich die Aktivitäten der St. Galler Kardinäle. [/read]
Silvio Bernasconi? Wohl eher Berlusconi, oder nicht?
Redaktion