Reformierte Kirche in Seegräben. (Bild: Roland zh, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Kirche Schweiz

Pfarrer:innen ver­zwei­felt gesucht

Die Refor­mierte Kir­che ver­sucht, mit Quereinsteiger-​Programmen dem aku­ten Pfar­rerman­gel Paroli zu bie­ten. Der Erfolg hält sich in Gren­zen. Die ech­ten Pro­bleme lie­gen anderswo. Die Katho­li­sche Kir­che ist gut bera­ten, sich ihrer­seits der Ursa­chen­for­schung zu stellen.

Der «SonntagsBlick» widmet dem akuten Pfarrermangel in der Reformierten Kirche einen längeren Beitrag (Ausgabe vom 3. November 2024). Neu ist dieses Problem beileibe nicht. Bereits vor drei Jahren hatte David Vogelsanger seinen Unmut darüber geäussert, dass für die frei gewordene Pfarrstelle des Fraumünsters – neben dem Grossmünster sozusagen die Visitenkarte der Zürcher Reformation – keine Schweizer Pfarrperson gefunden werden konnte.[1] Der Sohn des bekannten Fraumünsterpfarrers Peter Vogelsanger ärgerte sich insbesondere, dass ausgerechnet der lutherische Pastor Johannes Block aus Wittenberg zum neuen Pfarrer ernannt wurde.

Vom Begründer der deutschen Reformation, Martin Luther, grenzt sich David Vogelsanger scharf ab: «Auf der Wittenberger Kanzel liess Luther auch seiner Wut auf die aufständischen Bauern (‹Schlagt sie tot, die tollen Hunde›) und vor allem seinem fanatischen Hass auf die Juden freien Lauf. Er rief zur Tötung der angeblichen Hexen auf und predigte deutsche Obrigkeitsgläubigkeit. Das sind alles Dinge, die dem in der demokratischen Tradition seiner Heimat tief verankerten Zwingli völlig fremd waren und die in der Geschichte Deutschlands und Europas nur Unheil angerichtet haben.»

Vogelsanger will es nicht einleuchten, dass es der theologischen Fakultät der Universität Zürich nicht gelingt, die Zürcher Pfarrerschaft so auszubilden, «dass aus ihr auch ein Münsterpfarrer hervorgehen kann, ohne dass man in der lutherischen Kirche Deutschlands suchen muss». Die Antwort gibt er indirekt gleich selbst: «An ihr (sc. der theologischen Fakultät der Universität Zürich) sind fast doppelt so viele Dozenten wie Studenten tätig, und sie kostet zehn Millionen Franken im Jahr.»

Erfolg überschaubar
Der akute Pfarrermangel hat die reformierten Kantonalkirchen bewogen, ein sogenanntes Quereinsteigerprogramm aufzugleisen. Der Erfolg hält sich in Grenzen. Nur fünf bis neun Studierende jährlich zählt der Quereinsteiger-Studiengang (gemeinsames Angebot der Deutschschweizer Kantonalkirchen [mit Ausnahme von Bern-Solothurn-Jura] und des Tessins in Zusammenarbeit mit den Theologischen Fakultäten Basel und Zürich). «Ein Bruchteil von dem, was es bräuchte», bilanziert der «SonntagsBlick», ist doch ab 2026 mit bis zu 100 Abgängen pro Jahr zu rechnen. Anouk Holthuizen verweist in ihrem Beitrag «Der Kirche gehen die Pfarrer aus» (reformiert.ch/Nr. 11/2024) auf die Reformierte Kirche des Kantons Aargau, in welcher dieses Jahr keine einzige Pfarrperson ordiniert werden konnte. Dieser Befund ist umso erstaunlicher als auf protestantischer Seite im Unterschied zur Katholischen Kirche der Pfarrberuf Männern und Frauen, und zwar unabhängig vom Beziehungsstatus, offensteht – mithin also das Rekrutierungspotenzial mehr als doppelt so hoch ist.

Ursula Vock, Beauftragte für das Quereinsteigerprogramm («Quest»), räumt ein: «Das Quest zieht zu wenig.» Eine Art Light-Version von «Quest» soll Abhilfe schaffen: Ab sofort braucht es weder ein Lizentiat noch einen Master für den Quereinstieg in den Pfarrberuf, ein Bachelor tut’s auch. Zudem wird die Altersgrenze für den Beginn des Quest-Studiums von 30 auf 27 Jahre abgesenkt. Das Studium selbst dauert 3 bis 4 Jahre, hinzu kommt noch ein Praxisjahr.

Die Katholische Kirche ist schuld
Als eine der Ursachen für den besorgniserregenden Pfarrer:innen-Mangel will Ursula Vock die Missbrauchsskandale in der Katholischen Kirche ausgemacht haben. Eine buchstäblich verquere Schuldzuweisung. Denn eben diese Skandale hätten logischerweise vielmehr zumindest indirekt zu einem Reputationsbonus der «Konkurrenz», sprich der protestantischen Kirche, führen müssen. Zumal ihr das Kunststück gelang, die Aufarbeitung der Missbrauchsskandale in den eigenen Reihen abzuwürgen, ohne dass ihr dies von der Öffentlichkeit und insbesondere von den Mainstream-Medien angekreidet worden wäre. So hatte das Parlament der «Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz» (EKS) im Juni 2024 beschlossen, weder eine Dunkelfeldstudie in Form einer aktuellen Umfrage noch eine historische Studie über Missbrauchsfälle durchzuführen. Dies entgegen dem Antrag von Rita Famos, Präsidentin der EKS, welche gegenüber dem Medienportal «watson» einräumte, dass «es auch bei uns viele Fälle gibt».

Eigentliche Ursachen ausgeblendet
Die eigentlichen Ursachen für den anhaltenden Schwund der Mitglieder wie auch der Attraktivität des Pfarrberufs liegt vielmehr anderswo: In der bis zum fast völligen Identitätsverlust reichenden Preisgabe dessen, was Christentum und Kirche im Kern ausmacht. Der eingangs erwähnte David Vogelsanger formuliert es so: «Sie (sc. die protestantische Kirche) verlor im Volk in dramatischem Ausmass an Respekt, verfettete bürokratisch und fiel zeitgeistiger – meist linker – Beliebigkeit anheim.»

Pfarrer Paul Bernhard Rothen erhebt in seiner Schrift «Auf Sand gebaut – Warum die evangelischen Kirchen zerfallen» den Vorwurf, letztere hätten sich von der Bibel und deren Kernaussagen immer weiter entfernt und sich damit ihres eigenen Fundamentes beraubt. Deshalb seien die evangelischen Kirchen ohne gesellschaftliche Bedeutung: «Sie stehen ein für das, was auch vielen andern ein Anliegen ist. Sie waren gegen die Apartheid, gegen die Nachrüstung, für ein humanes Asylrecht, für einen wirksamen Umweltschutz – wie viele andere. Sie äussern jetzt Bedenken gegen die pränatale Diagnostik und werden diese in zehn Jahren verteidigen. Nirgendwo haben sie mit langem Atem Positionen gegen den Strom der Zeit eingenommen. Sie tun niemandem weh. Sie wirken nur eben wie ein religiöses Megaphon für die moralischen Forderungen der Zeit.» Und, so ist man hinzuzufügen geneigt, machen sich damit überflüssig.

An Beispielen des Ausverkaufs christlicher Substanz mangelt es nicht. Da wäre Ella de Groot, Pfarrerin in Muri-Gümligen, zu nennen. Formell 5700 Mitglieder zählt die Kirchgemeinde, 80 davon besuchen den Sonntags-Gottesdienst (Beobachter vom 15. März 2021). Doch was heisst da «Gottesdienst»? «Es gibt keinen Gott, keinen Allmächtigen im Himmel», predigt die Pfarrersfrau ihrer klein gewordenen Herde. Der Begriff «Gott» sei ein Mythos. «Nicht Gott spricht uns an, sondern wir werden von der Welt angesprochen», bekräftigt sie im Berner Münster. Für das durchaus intendierte Medienspektakel ist gesorgt. Dass damit auch die Substanz des Christentums, insbesondere jegliche Jenseitsperspektive, auf der Strecke bleibt, wird als sozusagen unvermeidlicher Kollateralschaden einer zeitgeistkonformen Weiterentwicklung des tradierten, ohnehin obsolet geworden Glaubensgutes billigend in Kauf genommen. «Kein Problem», bilanziert Lucien Broder, Pfarrer aus Vauffelin im Berner Jura und in der Berner Kirchenregierung für das Dossier Theologie zuständig. Was seine Pfarrkollegin Ella de Groot schreibe, bewege sich «wohl im Rahmen dessen, was in der Landeskirche üblich ist».

Dito Kathrin Bolt. Seit September 2022 ist sie die erste evangelische Pfarrerin der St. Laurenzenkirche in St. Gallen. Öffentlichkeitswirksam machte sie mit Schutzweste und Helm bewaffnet mit einer Motor-Kettensäge ein Möbelstück der besonderen Art zu Kleinholz: eine Kanzel, sozusagen das Herzstück des Protestantismus schlechthin – vergleichbar dem Tabernakel der Katholiken. Die Medien liessen sich nicht lange bitten, stürzten sich begierig auf dieses Spektakel, zum Gaudi einer nach stets ausgefallenerem Klamauk süchtigen Spassgesellschaft. Dass damit die Kirche an Glaubwürdigkeit und Attraktivität in der säkularen Gesellschaft gewinnt, glaubt nicht einmal Pfarrerin Bolt selbst.

Bezeichnend: Bei den zwei vom SoBli porträtierten Absolventen des Quereinsteigerprogramms kommen Gott und die Bibel nur noch am Rande vor, und wenn, dann negativ konnotiert. So bekundet Meret Hensler ihre Mühe mit gewissen Bibelstellen: «Einzelne rufen zu Gewalt auf, sind homophob oder sexistisch.» Immerhin verbucht sie als Positivum, dass sie als Pfarrerin heute unbehelligt sagen könne, wenn sie mit Textstellen nicht einverstanden sei. Boris Belge seinerseits verabschiedet sich vom unrealistischen Ziel, wie früher die Kirche füllen zu wollen. Es gehe heute vielmehr darum, Neues auszuprobieren, ein so breites Angebot zu schaffen, dass man für verschiedene Gruppen anschlussfähig werde. Eine erste Idee hat er bereits in petto: «Viele Männer straucheln heute … sie haben das Bedürfnis, darüber zu sprechen und wissen nicht, wie oder wo.» Im Rahmen eines Studienprojekts will Boris Belge deshalb in Kleinbasel eine Männergruppe aufbauen – nicht nur für Kirchenmitglieder. Der Sobli nickt beifällig: «Vielleicht liegt darin gerade die Chance für die Kirchen. Wenn sie sich auf das besinnen, was sie auch sind: ein wichtiger Player der Zivilgesellschaft.»

Die Katholische Kirche hat ihrerseits keinen Grund, sich bequem zurückzulehnen. Auch in ihr ist exakt die gleiche Tendenz unverkennbar, nämlich den christlichen Glauben auf die rein horizontale Ebene herunterzubrechen und damit ihre Raison d’être aus dem Auge zu verlieren, nämlich die Menschen zur Fülle des Lebens in der Anschauung Gottes zu führen. Entsprechend spärlich werden die kirchlichen Ausbildungsstätten frequentiert.

Mit dem negativen Beispiel gehen Mitglieder des Parlaments der Luzerner Kantonalkirche voran. In einem Schreiben vom 15. Oktober 2024 zuhanden des Parlaments machen sie gegen die kirchliche Sexualmoral mobil, fordern zum Druck auf den Bischof auf – zwecks Zulassung zu allen kirchlichen Ämtern unabhängig von der Lebensform. Die Forderung ist zwar nicht neu. Sie ist gleichwohl ein besonders augenfälliges Beispiel für die Selbstdemontage einer Kirche, die nicht auf ihre Treue zur Tradition und Lehre verzichten kann, ohne sich selbst aufzugeben.

 


[1] «Die Weltwoche» vom 25. Februar 2021.

 


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


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Bemerkungen :

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    Daniel Ric 10.11.2024 um 09:10
    Herr Herzog spricht wichtige Gründe an, die zum Niedergang der reformierten Kirche geführt haben. Ich möchte in Bezug auf den Pfarrmangel noch einen Punkt anbringen, der auch diskutiert werden sollte. Es gibt auch sehr gute reformierte Pfarrer, die mit viel Eifer ihr Amt ausüben, die jedoch Familie und Berufung nicht unter einen Hut bringen können. In der reformierten wie in der katholischen Kirche müssen Pfarrer und Seelsorger ständig an irgendwelche Sitzungen gehen, die oft auch am Abend stattfinden, was das Familienleben verunmöglicht. Zudem sind die Anforderungen und Belastungen in den sozialen Berufen generell massiv gestiegen, da die Ansprüche der Menschen sich verändert haben. Seelsorger müssen teilweise viel Zeit für die Probleme bzw. Problemchen von einzelnen Kirchgemeindemitgliedern und Mitarbeitern aufbringen. Es ist oft nicht erfüllend, den ganzen Tag nur mit negativen Dingen konfrontiert zu werden. Das ist der Grund, weshalb es auch in der katholischen Kirche immer weniger Laientheologen gibt und diejenigen, die es gibt, nicht mehr in die Pastoral gehen wollen. Hinzu kommt, dass durch die sinkenden Steuereinnahmen die finanzielle Zukunft dieser Berufswahl auch nicht mehr gewährleistet ist. Der Pfarrmangel wird daher noch zunehmen. Die Katholiken sollten daraus die richtigen Lehren ziehen. Erstens sollte anerkannt werden, dass der Zölibat durchaus viel Sinn macht, da die Priesterberufung eine Hingabe erfordert, die sich schwer vereinbaren lässt mit den Pflichten einer Ehe. Zweitens sollte man versuchen, die unnötigen Belastungen, die heute die Seelsorge erschweren, zu minimieren. Es kann nicht sein, dass Pfarrer ständig an irgendwelche Sitzungen müssen und die halbe Zeit mit dem Beantworten von Mails und Büroarbeiten verbringen. Natürlich vertrete ich nicht die idyllische Vorstellung, dass man gänzlich auf solche administrativen Arbeiten verzichten kann, da dies in der digitalen Welt auch ein Teil der Seelsorge darstellt. Aber 70-80% der Zeit sollte zur Verfügung stehen, um sich wirklich den Menschen widmen zu können, welche Seelsorge benötigen. Ich schreibe hier bewusst von Menschen, die Seelsorge benötigen, da es - wie oben erwähnt - eben auch Menschen gibt, welche die Zeit der Seelsorger absorbieren, ohne wirklich am Glauben interessiert zu sein, sondern einfach Aufmerksamkeit brauchen. Auch hier braucht es Lösungen, welche es erlauben, Seelsorger zu entlasten, ohne diese nach Aufmerksamkeit ringenden Menschen vor den Kopf zu stossen. Hier sind starke Laien gefragt, die als Besuchergruppe oder Ansprechpersonen fungieren, um die Pfarrer in ihrem Auftrag, den Menschen beizustehen, zu helfen. Allgemeingültige Rezepte gibt es wohl nicht, aber der jetzige Ist-Zustand ist in der reformierten sowie in der katholischen Kirche Schweiz unbefriedigend für die Seelsorgenden.
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    Martin Meier-Schnüriger 09.11.2024 um 12:33
    Kurze historische Ergänzung: Auch der ach so demokratisch denkende Zwingli hatte seine dunklen Seiten: So liess er einige Anführer der Täufer, die nichts anderes taten als die Anliegen der Reformatoren konsequent zu Ende zu denken, in der Limmat ertränken; eine kleine Gedenktafel am linken Limmatufer in Zürich erinnert daran. Auch die Idee, mittels wirtschaftlichen Sanktionen, einer Getreidesperre, die katholisch gebliebenen Kantone der Innerschweiz auf den "rechten" Weg zu bringen, stammt aus seinem Kopf.
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      Daniel Ric 10.11.2024 um 08:29
      Vielen Dank für diese wichtige Ergänzung. Der konstruierte Gegensatz zwischen dem obrigkeitsgläubigen Luther und dem basisdemokratisch denkenden Zwingli ist eines von vielen Narrativen, das die reformierte Kirche in der Schweiz bemüht, um sich in ein besseres Licht zu stellen. In Wahrheit setzte sich die Reformation überall mit Hilfe der staatlichen Autorität durch.
  • user
    Carus 08.11.2024 um 17:37
    Zum ersten Mal kann ich dem Autor uneingeschränkt zustimmen. Wer seine Botschaft selbst nur halb glaubt, verschämt verkündet oder sich für sie gleich noch mitenschuldigt, im Grunde also nicht relevant sein will wird auch niemals als relevant von den Menschen empfunden werden. Die katholische Kirche kann sich nur hüten im Zuge notwendiger Reformen das eigentliche zu vergessen: Christi Botschaft für die Welt - ob gelegen oder ungelegen zu verkünden. Ergo: Omnia instaurare in Christo
  • user
    Stefan Fleischer 08.11.2024 um 08:40
    Jes 31,6
    «Kehrt um zu ihm, Israels Söhne, / zu ihm, von dem ihr euch so weit entfernt habt.»
    Eine andere Lösung gibt es nicht!