Kleine Pilgergruppe unterwegs: Gemeinschaft erfahren und den Weg als spirituelle Reise erleben. (Bild: Cassandra Correa/Unsplash)

Hintergrundbericht

Pil­gern als Selbst– und Gotteserfahrung

Wenn die Som­mer­sonne Euro­pas Wege erhellt, zieht es viele hin­aus in die Natur auf der Suche nach Ent­schleu­ni­gung, Sinn und ech­ter Begeg­nung. Genau jetzt ist die ideale Zeit für Pil­ger­rei­sen. Pil­gern ist weit mehr als Wan­dern: Es ist eine geist­li­che Schule, ein leib­li­ches Erle­ben und zugleich ein Weg, auf dem sich Gott erfahr­bar macht.

Pilgern ist ein uraltes Element christlicher Spiritualität: Körperliche Bewegung, innere Einkehr und die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte vereinen sich. Christliche Erlebnispädagogik schöpft aus dieser Erfahrung. Sie baut auf dem Grundgedanken auf, dass Gott sich offenbart – konkret, erfahrbar, im Leben der Menschen. Diese Erfahrung geschieht oft unterwegs, so wie bei den Jüngern von Emmaus, denen der Auferstandene auf dem Weg begegnete (vgl. Lk 24,13-35). Der Weg bietet reflexive Räume: die Stille des Morgens, Gespräche mit Weggefährten, Brüche im Alltag. Nicht das Ziel ist alles, sondern unser Werden auf dem Weg, die Menschen, die uns begegnen, uns unterstützen oder herausfordern – und das geistliche Zentrum des Pilgerns, das im Licht des Evangeliums erkannt werden will.

Pilgern ist eine Schule der Offenbarung
Das Neue Testament ist durchzogen von Wegbildern: Jesus ruft Menschen in seine Nachfolge mit den Worten «Komm, folge mir nach» (vgl. Mt 4,19). Die Apostelgeschichte schildert eine Kirche im Aufbruch – ein wanderndes Gottesvolk. Paulus beschreibt das Christsein als Weg, als Wettkampf, als Streben nach dem Ziel (vgl. 1 Kor 9,24f; Phil 3,13f). Und in den Emmaus-Jüngern verdichtet sich die Erfahrung vieler Pilger: «Brannte uns nicht das Herz, als er unterwegs mit uns redete?» (Lk 24,32). Sie erkennen den Auferstandenen erst im Rückblick, aber erfahren haben sie ihn schon unterwegs. Jesus selbst wirkt in den Evangelien vielfach wie ein göttlicher Erlebnispädagoge. Er lehrt nicht abstrakt, sondern durch Begegnung, durch gemeinsames Gehen, durch existentielle Herausforderungen. Als Petrus auf dem See aus dem Boot steigt und im Vertrauen auf Jesus über das Wasser geht (vgl. Mt 14,22-33), ist das eine typische pädagogische Grenzerfahrung: Glaube und Zweifel, Mut und Angst, Scheitern und Gerettet-Werden. All das verdichtet sich in einer Szene. Jesus stellt Petrus nicht bloss, sondern begleitet ihn durch das Erleben hindurch – ganz wie ein geistlicher Begleiter.
Auch heute begegnet Christus den Menschen auf ihren Wegen. Wer sich aufmacht, wer mit offenen Herzen pilgert, dem wird oft etwas geschenkt, das grösser ist als blosse Erholung oder sportliche Leistung. Die Wege heutiger Pilgerinnen und Pilger werden so zu Orten der Offenbarung. Wer unterwegs ist, wie damals die Jünger, kann erfahren: Gott geht mit – verborgen, aber gegenwärtig. Christus selbst wird zum Weg (vgl. Joh 14,6). Pilgerwege werden dadurch zu Räumen gelebter Hoffnung. Wer sich aufmacht, öffnet sich der Möglichkeit, dass sich dieser Weg in neuer Tiefe zeigt.
 


Ein Beispiel: der Jakobsweg
Der Jakobsweg – der «Camino de Santiago» – ist dabei ein herausragendes Beispiel. Seit Jahrhunderten zieht er Menschen verschiedenster Herkunft an – gläubige Christen ebenso wie Atheisten, Agnostiker oder spirituell Suchende. Auch nicht-religiöse Pilger berichten von tiefen Erfahrungen des «Getragenwerdens», von einer «höheren Kraft», vom «Rhythmus des Weges». Das ist aus erlebnispädagogischer Sicht bemerkenswert: Christen sprechen von Gott; andere nennen es anders, doch alle erleben dieselbe Bewegung im Innern. So wird sichtbar: Der Jakobsweg ist ein Ort spiritueller Bildung im erweiterten Sinne. Das gemeinsame Erleben – körperlich, psychisch, sozial – erzeugt Nähe zum Unsichtbaren und lässt Glaubensinhalte sinnvoll werden, auch für Menschen ohne traditionellen Glaubenshintergrund. Vielleicht lässt sich so die Statistik des Pilgerbüros besser verstehen:[1]

Im Jahr 2024 erreichten insgesamt 498 816 Pilgerinnen und Pilger die Kathedrale von Santiago de Compostela – so viele wie nie zuvor. Etwa 54% der Ankommenden waren Frauen. 1 999 der Jakobspilger kamen aus der Schweiz, wodurch sie auf Platz 24 der Herkunftsländer rangiert. Angeführt wird die Statistik von Spanien mit 219 192 Pilgerinnen und Pilger, gefolgt von den USA mit 39 849 Jakobspilgerinnen und -pilger – ein bemerkenswertes Zeichen für die internationale Ausstrahlung des Jakobsweges.
Die mit Abstand beliebteste Route bleibt der Camino Francés mit rund 49% aller Pilgerinnen und Pilger. Auf den weiteren Plätzen folgen der portugiesische Weg mit etwa 17% sowie der Küstenweg 20%. Etwa 46% der Teilnehmenden gaben eine rein religiöse Motivation an, weitere 33% sprachen von einer spirituellen Suche. Die übrigen Beweggründe reichten von kulturellem Interesse über persönliche Selbsterfahrung bis hin zu sozialen oder ästhetischen Impulsen. Diese Zahlen unterstreichen eindrucksvoll, wie sehr das Pilgern heute Menschen unterschiedlichster Herkunft und Motivation anspricht.

Pilgern: Warum genau jetzt?
Für das Pilgern im Sommer spricht vieles. Die langen Tage und das milde Klima zwischen Juni und September schaffen ideale Bedingungen: Während die Hochsaison die Wege mit Leben füllt, schenken die Randstunden des Tages Raum für Stille, Begegnung und Besinnung. Die sommerliche Wärme fordert den Körper und gerade dadurch vertieft sich das innere Erleben. Erschöpfung, Erholung und geistige Weitung greifen ineinander.
Doch es muss nicht immer der Jakobsweg sein. Pilgern beginnt dort, wo sich ein Mensch auf den Weg macht, auch wenn das Ziel nur die eigene Dorfkirche oder ein stiller Ort in der Stadt ist. Es braucht nicht immer eine Woche oder mehr. Manchmal genügt schon eine Stunde bewusstes Gehen, um Herz und Sinne zu öffnen. Denn wer sich aufmacht, verändert die Perspektive auf sich selbst, auf andere und auf Gott.
Neben diesen praktischen Vorteilen eröffnet das Pilgern im Sommer auch tiefere pädagogisch-christliche Dimensionen. Das Unterwegssein spricht Menschen unterschiedlicher Weltanschauung an. Es wird gewissermassen zu einem gemeinsamen Nenner, der religiöse und nichtreligiöse Menschen verbindet – in der Erfahrung des Gehens, des Fragens und des Suchens. Aus christlicher Sicht spiegelt sich im Pilgern das Erfahrungsfeld des «Getragen-Seins»: in der Hilfe der Weggefährten, in der Schönheit der Schöpfung, im unerwarteten inneren Frieden. Christinnen und Christen deuten solche Erfahrungen als Wirken des Heiligen Geistes, auch wenn andere sie anders benennen. Die Erlebnispädagogik spricht hier von «emphatischem Lernen durch reale Begegnung und Authentizität». Die Kirche nennt es schlicht: «Kirche unterwegs, Kirche leben, pilgernde Kirche» – im Gehen, im Schweigen, im Gespräch, in der gegenseitigen Stärkung.

Jetzt ist die Zeit zum Pilgern - ob allein oder in Gemeinschaft. Der Weg wartet mit Möglichkeiten zum Wachsen, Staunen und erneuten Aufbrechen. Und gewiss: Christus, unser Weg, wird sich zeigen.
 

Nützliche Websites für Schweizer Pilgernde:


[1] Vgl. oficinadelperegrino.com/en/statistics-2/


Dr. des. Mike Qerkini


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Bemerkungen :

  • user
    Stefan Fleischer 24.06.2025 um 07:39
    Mit der modernen Erlebnispädagogik habe ich Mühe. Ich halte mich lieber an den Aphorismus: «Man braucht Gott nicht zu erfahren. Es genügt, ihn wahrnehmen, das heisst für wahr nehmen, was wiederum nichts anderes ist, als glauben.»
    Wir erfahren unsere Nächsten und die ganze Welt zuerst einmal so, wie wir glauben, dass sie seien. Und so sind Enttäuschungen vorprogrammiert. Wir erfahren nicht zuletzt auch Gott so, wie wir glauben, dass er sei. Unsere Vorfahren erfuhren ihn meist als den zwar gerechten aber auch strengen Richter, wie er damals verkündet wurde. Der moderne Christ erfährt ihn zuerst als den liebenden, den barmherzigen, wie er uns heute präsentiert wird. Doch ein einseitiges Gottesbild ist immer gefährlich. Nur der ganze Gott ist der wahre Gott. Wenn er uns katholisch, das heisst allumfassend präsentiert wird, laufen wir viel weniger Gefahr, uns enttäuscht von ihm abzuwenden. Dann fällt es uns leichter, jene echte Beziehung zu ihm aufzubauen, die er uns anbietet, die wir wahrnehmen, glauben, und entgegnen sollen.
  • user
    Joseph Laurentin 23.06.2025 um 20:12
    Der Artikel verkennt das wahre Wesen des christlichen Pilgerns. Es geht nicht um „Selbsterfahrung“, „ästhetische Impulse“ oder „spirituelle Bildung im erweiterten Sinn“, sondern um Busse, Sühne und die Hinwendung zu Gott. Aussagen wie: „Nicht das Ziel ist alles, sondern unser Werden auf dem Weg“ oder „Auch Atheisten erleben eine höhere Kraft“ entleeren das Pilgern seiner übernatürlichen Dimension. Der Jakobsweg ist kein psychologisches Erlebnisfeld, sondern ein Ort der Gnade – für Glaubende, nicht für „Suchende“ jeder Couleur. Wer Pilgern auf „Erlebnispädagogik“ reduziert, macht aus einem geistlichen Weg der Umkehr ein menschzentriertes Selbstprojekt. Doch Pilgern heisst: sich dem Ziel – Gott – zuwenden, getragen von Gebet, Opfer und sakramentaler Gnade.
    • user
      Mike Qerkini 23.06.2025 um 21:04
      Vielen Dank für Ihren Kommentar. Der Artikel versteht Pilgern ausdrücklich als geistlichen Weg. Dabei geht es nicht nur um Busse und Umkehr, sondern auch um innere Reifung, das Hören auf Gott und das Offenwerden für seine Gnade. Das christliche Pilgern ist vielschichtig: Es vereint leibliche Anstrengung, geistige Suche und sakramentale Tiefe. Diese Dimensionen stehen nicht im Widerspruch, sondern ergänzen sich. Wer wollte den Pilgerinnen und Pilgern den Glauben absprechen? Gott allein kennt ihre Herzen. Der Artikel möchte dieser Ganzheit Raum geben – ohne das Ziel aus dem Blick zu verlieren: die Begegnung mit Gott.

      Mit freundlichen Grüssen
      Mike Qerkini
    • user
      Martin Meier-Schnüriger 24.06.2025 um 10:17
      Ob Haare in der Suppe zu suchen auch eine christliche Tugend ist? Ihren Kommentaren nach könnte man es fast meinen ...