Am 26. Juli 1875 wurde er in Kesswil im Kanton Thurgau geboren, der grosse Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung, oder C. G. Jung, wie er landläufig genannt wird. Gross ist das mediale Echo anlässlich des 150. Geburtstages dieser Ausnahmeerscheinung.
Dies scheint auf den ersten Blick erstaunlich, denn «in der universitären Psychologie kommt C. G. Jung heute kaum mehr vor» (Hans Hermann in: «Dossier: C. G. Jung», in: reformiert, Nr. 8 / August 2025). Erstaunlich ist dieses Revival Jungs in unseren Tagen allerdings nur auf den ersten Blick, denn die universitäre Psychiatrie ist mit ihrer einseitigen Fixierung auf die Naturwissenschaften in eine tiefe Sinnkrise gestürzt. Da kommt C. G. Jung, die «personifizierte Antithese zum Naturwissenschaftler» gerade recht mit seiner dem Gemüt, der Seele und dem Unbewussten zu ihrem Recht verhelfenden Sichtweise, um der dominierenden Schulpsychiatrie den Weg aus der Sackgasse zu weisen.
Sinnkrise der Psychiatrie
Wir leben in einer Zeit, welche die Psychiatrie und Psychotherapie in den Rang einer Ersatzreligion erhoben hat. Simon Maurer holt sie in seinem Beitrag «Die Psychiatrie steckt in einer Sinnkrise – der verschmähte C. G. Jung könnte sie retten» (watson.ch) auf den Boden der Realität zurück:
«Hinter vorgehaltener Hand sprechen viele Psychiater das Dilemma ihrer Disziplin an: Die Psychiatrie heilt trotz aller möglichen Versuche kaum Patienten. Fachleute sprechen eher von Remission als Therapieziel. Also dem Zustand der Symptomfreiheit ohne Heilung. Doch selbst das wird bei vielen Krankheiten nur mit mässigem Erfolg erreicht: Bei schweren Depressionen liegt die Erfolgsrate für eine Remission oft nur bei Werten zwischen 40 und 70 Prozent. Denn die Patienten werden immer wieder rückfällig und die tatsächlichen Ursachen für psychische Erkrankungen sind nach wie vor unverstanden.
Bei vielen psychischen Leiden kann man sich noch nicht mal auf eine Diagnose einigen. Wie viele Studien zeigen, bewerten renommierte Fachärzte den gleichen Testpatienten häufig ganz unterschiedlich. Ein Experiment mit zwei Schizophrenie-Testpatienten fand letztes Jahr etwa heraus, dass nur 33 Prozent der international anerkannten Spezialisten den Patienten die gleiche, richtige Diagnose zuordneten – und das, obwohl sie moderne Untersuchungsmethoden verwendeten.»
Der langjährige Professor und Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Paul Hoff, hat in der NZZ vom 26. Juli 2025 ein fundiertes, ausgewogenes Porträt seines Kollegen C. G. Jung gezeichnet. Dieser begann seine wissenschaftliche Laufbahn am Burghölzli, der heutigen Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Es war die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Zeit also, in der die Psychiatrie als vergleichsweise junge Disziplin um ihre wissenschaftliche Anerkennung kämpfte. Anerkennung bedeutete damals (wie heute): sich naturwissenschaftlich legitimieren zu können. Logischerweise wurde bei diesem eindimensionalen, auf das Mess- und Verifizierbare reduzierten wissenschaftlichen Paradigma das Gehirn zum bevorzugten, ja fast ausschliesslichen Forschungsobjekt – weg von philosophischen, gar theologischen Spekulationen.
Zerwürfnis im Zeichen der Sexualität
Die Psychiater Sigmund Freud und C. G. Jung gaben Gegensteuer. Für Freud rückte das Subjektive, Erlebte und Verdrängte in den Mittelpunkt. Dabei ortete er seinerseits eindimensional-monokausal die Ursache für seelisches Leiden ausschliesslich im unterdrückten Sexualtrieb. Zunächst übte Freud, wie Paul Hoff in seinem NZZ-Beitrag schreibt, auf seinen Schüler C. G. Jung eine «grosse Anziehung, ja Faszination aus». Doch schon bald kam es zu einer Entfremdung. C. G. Jung missfiel vor allem die alles überlagernde Dominanz sexuell unterlegter Kräfte.
Freud seinerseits kündigte 1913 C. G. Jung die Zusammenarbeit und Freundschaft auf, was Letzteren wiederum in eine existentielle Krise stürzte. Er verarbeitete seine Selbstzweifel in seinem Werk «Das Rote Buch», das allerdings erst 2009 seinen Weg in die Öffentlichkeit finden sollte.
C. G. Jung verdankt die Psychoanalyse eine signifikante anthropologische Erweiterung. So schuf er die Begriffe der Archetypen: archaische Denkmuster und Bilder im kollektiven Unbewussten, z. B. die sorgende und zugleich fordernde Mutter. Oder den Begriff der Komplexe: gemäss C. G. Jung eine Verzahnung von Gefühlen, Ideen und Erinnerungen, die in entfremdeter Form zu seelischen Erkrankungen führen können.
Paul Hoff attestiert C. G. Jung zu Recht, die Psychiatrie daran erinnert zu haben, «in der psychisch erkrankten Person mehr zu sehen als einen objektivierbaren Forschungsgegenstand». Er macht das Zerwürfnis zwischen Freund und Jung vorzugsweise an ihrer unterschiedlichen Sichtweise auf die Religion fest: In ihr sah Freud primär ein neurotisches Symptom, wohingegen Jung religiöses Empfinden und Symbolik betont positiv bewertete, ja ihr eine unverzichtbare Brückenfunktion zwischen Individuum, Lebenswelt und Kosmos zuschrieb.
Paul Hoff belässt es bei diesem eher beiläufigen Hinweis auf die folgenreichste Sollbruchstelle der beiden Protagonisten der Psychiatrie. Tatsächlich bleibt das Verständnis von Jungs Leben und Werk ohne Einbezug seines religiös-theologischen Hintergrundes bruchstückhaft. Christian Kaiser hat diese Lücke in seinem erhellenden Beitrag «Das Heiligtum hinter dem grünen Tuch» geschlossen (vgl. «Dossier: C. G. Jung», in: reformiert, Nr. 8 / August 2025).
C. G. Jung wurde in eine protestantische Pfarrersfamilie hineingeboren. Sein Vater Johann Paul Achilles Jung amtete als Pfarrer im thurgauischen Kesswil; sein Grossvater mütterlicherseits hatte das höchste Pfarramt in Basel inne. Sein aus Deutschland eingewanderter Grossvater väterlicherseits Karl Gustav Jung war Arzt – und ein passionierter Grossmeister der Freimaurer: 1838–1845 Meister vom Stuhl der Basler Loge «Zur Freundschaft und Beständigkeit»; 1850 Grossmeiser der von ihm mitbegründeten Grossloge «Alpina».
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Die BBC hatte Jung in einem Interview mit der Frage überrascht, ob er an Gott glaube. «Ich habe es nicht nötig, an Gott zu glauben, ich weiss es», lautete die Antwort. Somit widersprach er der Lehre der Kirche. Die theologischen Tugenden, auch göttliche Tugenden, christliche Tugenden oder eingegossene Tugenden, sind Glaube, Liebe und Hoffnung. Sie wurden von Paulus von Tarsus formuliert. Sie sind göttliche Gaben, die, wenn sie angenommen und gepflegt werden, unseren Weg zu Gott erleuchten und unser Leben tiefgreifend verwandeln. Es muss gesagt werden, dass nicht irgendeiner Glaube macht einen Christen aus.
Jung hat nie behauptet, die endgültige Wahrheit gefunden zu haben. Er war ein ernsthafter Sucher und Forscher. Es lohnt sich, sich mit seinen Werken und auch mit den Werken seiner Schülerinnen auseinanderzusetzen. Ihre tiefgründigen Ansichten sind alles andere als langweilig und bieten wertvolle Einsichten.