Symbolbild. (RDNE Stock project/Pexels)

Kirche Schweiz

Refor­mierte Kir­che der Schweiz: Keine Auf­ar­bei­tung der sexu­el­len Missbräuche

Das Par­la­ment der Evangelisch-​reformierten Kir­che Schweiz des­avou­iert die eigene Kir­chen­lei­tung. Deren Antrag auf Durch­füh­rung einer «Dun­kel­feld­stu­die» in Form einer aktu­el­len Umfrage wurde an der Sit­zung vom 11. Juni 2024 abge­lehnt. Der ursprüng­li­che Plan, Miss­brauchs­fälle der Ver­gan­gen­heit durch Ana­ly­sen der Per­so­nal­ak­ten auf­zu­ar­bei­ten, war bereits vor­her zum Tabu erklärt worden.

Am 25. Januar 2024 wurde der Öffentlichkeit die 800-seitige, unter Mitarbeit mehrerer Universitäten erarbeitete Studie zur sexualisierten Gewalt in der «Evangelischen Kirche in Deutschland» vorgestellt. Im Wesentlichen lautete das Fazit wie folgt:

  • Rund ein Drittel der beschuldigten Personen sind Pfarrer, Pfarrerinnen und Vikare.
  • Bei den beschuldigten Personen handelt es sich grossmehrheitlich um Männer. 75 % davon waren zum Zeitpunkt der ersten Missbrauchstat verheiratet.
  • Der Täterschutz hatte Vorrang vor dem Opferschutz. Für die täterschützenden Strukturen war insbesondere der föderalistische Aufbau der Evangelischen Kirchen ursächlich. Ebenso führten diese Strukturen in vielen Fällen dazu, dass die Aufarbeitung der aufgedeckten Fälle verschleppt wurde.
  • Die genannten Strukturen wie insbesondere auch ein idealisiertes Bild des protestantischen Pfarrhauses begünstigten zudem die Vertuschung von Fällen des sexuellen Missbrauchs.

Rita Famos, oberste Protestantin der Schweiz, zog daraus den ebenso naheliegenden wie folgerichtigen Schluss, für die «Evangelisch-reformierte Kirche» in der Schweiz sei nun eine analoge Studie das Gebot der Stunde. Im Interview des «SonntagsBlick» vom 28. Januar 2024 äusserte sie sich entsetzt über das Ausmass der Missbrauchsfälle in ihrer deutschen Schwesterkirche. Alle seien deshalb für eine Aufarbeitung. Als besondere Risiko-Faktoren machte sie das reformierte Pfarrhaus aus, denn «hier vermischen sich Institution und Familie. Ein reformierter Pfarrer hatte früher viel zu sagen – nicht nur in der Kirchgemeinde, sondern im ganzen Dorf. Er war oft eine charismatische Persönlichkeit, es gab ein Machtgefälle zu den Schutzsuchenden. Um dem Ruf der Kirche nicht zu schaden, wurden Probleme vertuscht. Die deutsche Studie zeigt klar: Das Zölibat der Katholiken ist nicht das eigentliche Problem. Viele protestantische Pfarrer waren verheiratet und begingen trotzdem Missbrauch.»

Das war schlicht des Schlechten zu viel für breite Kreise des protestantischen Establishments. Sie, Rita Famos, habe mit ihrem Vorpreschen «der Sache einen Bärendienst erwiesen» echauffierte sich das von den reformierten Kantonalkirchen der deutschen Schweiz und der Evangelisch-methodistischen Kirche in der Schweiz getragene Nachrichtenportal «ref.ch». Mit der Forderung einer landesweit nach einheitlichen Kriterien konzipierten Studie habe sie die hiesigen Kantonalkirchen vor ein fait accompli gestellt. Damit würden die für die reformierte Kirche typischen föderalistischen, basisdemokratischen und dezentralen Organisationsformen unterlaufen.

Vergangenheitsbewältigung tabu
Diese Drohgebärde zeigte Wirkung: Der Synodalrat, sprich die Exekutive der «Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz», beschloss in der Folge, dem Kirchenparlament eine amputierte Form der ursprünglich geplanten Vorlage zu unterbreiten. Von einer Aufarbeitung der in der Vergangenheit begangenen Missbräuche auf der Grundlage der sich im Besitz der Kirchgemeinden und Kantonalkirchen befindenden Personalakten und Archive ist darin nicht mehr die Rede. Stattdessen sollte es eine sogenannte «Dunkelfeldstudie zu sexuellem Missbrauch» richten: Anhand einer wissenschaftlich abgestützten Befragung von rund 20 000 zufällig ausgewählten Personen aus der gesamten Bevölkerung der Schweiz sollte eruiert werden, wo überall Missbrauch geschieht und wie häufig: «In den Kirchen, aber auch in den Familien, in den Sportverbänden, in der Schule. Es kann nicht sein, dass man sich zurücklehnt und auf Sündenböcke wie zum Beispiel die katholische Kirche zeigt. Wir hoffen, dass die Resultate auch anderen Institutionen helfen, um gegen sexuellen Missbrauch vorzugehen» (so Rita Famos in der Online-Ausgabe der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 27. April 2024). Zusätzlich sollte sozusagen auf einem Nebengeleise eine Umfrage ausschliesslich von Betroffenen im reformierten Umfeld durchgeführt werden. Für das ganze Massnahmenpaket wurde ein Kostendach von 1,6 Millionen Franken budgetiert.

Aber auch diese «Missbrauchsstudie light» stiess auf massiven Widerstand. Nur allzu berechtigt ist der zentrale Vorwurf, dass es nicht die Aufgabe der reformierten Kirche sein kann, als Auftraggeber einer auch nicht kirchliche Teile der Bevölkerung betreffende Studie zu Ursachen und Verbreitung sexueller Missbräuche zu fungieren. Kommt hinzu, dass eine als «Dunkelfeldstudie» drapierte Umfrage niemals eine auf Personalakten und Archivbeständen basierende Studie ersetzen kann, denn nur letztere ermöglicht es, Licht in die Vergangenheit der je eigenen Missbrauchsgeschichte zu bringen. Johann Hinrich Claussen hat unter Bezugnahme auf diese Thematik in der Zeitung «Politik und Kultur» die rhetorische Frage gestellt: «Wie soll man etwas für die Zukunft verbessern, dessen Vergangenheit man nicht analysiert hat?»

Peinliches Ablenkungsmanöver
Am 10. und 11. Juni 2024 beriet das Kirchenparlament der Schweizer Protestanten über diese Vorlage. Im Verlauf der ausführlichen Debatte zeichnete sich bald einmal ab, dass der Mehrheit der Synodalen auch diese amputierte Studien-Variante zu weit gehen würde. Es bildete sich eine unheilige Allianz konträrer Interessen.

Während die «femmes protestantes» verlangten, die Kirche müsse sich auf jene Felder beschränken, in denen sie etwas bewirken kann und muss, und befürchteten, Missbrauchsopfer könnten retraumatisiert werden, ohne Unterstützung zu erhalten, warnten andere Kreise vor einem Imageverlust für die protestantische Kirche.

Nach einer mehrstündigen Debatte wurde der genannte Antrag des Synodalrates abgelehnt («zu teuer, zu wenig partizipativ, zu langsam und überambitioniert») und stattdessen ein Gegenvorschlag gutgeheissen, der die ohnehin schon ramponierte Vorlage der Exekutive noch weiter eindampfte: Die Präventionsarbeit in den 25 Mitgliedskirchen soll unterstützt und eine externe Meldestelle geschaffen werden. Zudem wird der Bund aufgefordert, eine landesweite, gesamtgesellschaftliche Missbrauchsstudie durchzuführen.

Die «Neue Zürcher Zeitung» hatte bereits im Interview mit Rita Famos den Vorwurf erhoben, die abgespeckte Variante der Exekutive rieche nach einem «Ablenkungsmanöver von den Fällen in den eigenen Reihen» (Ausgabe vom 27. April 2024). Für die nun vom evangelisch-reformierten Kirchenparlament beschlossene Minimalvariante gilt dieser Vorwurf zwei- und dreifach.


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


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Bemerkungen :

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    Patrick Bieri 13.06.2024 um 11:13
    Sexuelle Offizialdelikte, welche organisiert und in mehreren Kantonen begangen werden, müssen durch die Bundesanwaltschaft untersucht werden!
    • user
      Ferdi24 14.06.2024 um 09:52
      Wozu sollte die Bundesanwaltschaft zuständig sein? Anzeigen sind an die zuständige Staatsanwaltschaft zu richten, da niemand seinem Richter entzogen werden darf. Kommt dazu, dass "Missbrauch" ein schwammiger Begriff ist. Die zehn Gebote beschreiben was verboten und geboten ist. Organisationen ermöglichen ihren Mitgliedern übergriffig zu werden kraft Statuten. Man denke an Lohnschreiber (angestellte von "Journaillen") die verleumden und intrigieren vermeinen zu dürfen. Die zehn Gebote sind die Grundlage der Zivilisation, Verstösse sind persönliche Schuld, die auch nur persönlich vergeben werden können - wenn überhaupt.