Grafs Euphorie ist vor dem Hintergrund der 150-jährigen Geschichte der direkten Demokratie ebenso verständlich wie berechtigt. Roger Blum, emeritierter Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Zürich, hat nachgerechnet: Von den 521 jemals gestarteten Initiativen kamen 153 gar nicht erst zustande, 108 wurden zurückgezogen, vier für ungültig erklärt, zwei abgeschrieben. Allein im vergangenen Jahr sind neun gescheitert, weil sie am Ende der 18-monatigen Sammelfrist nicht die notwendige Zahl von 100 000 Unterschriften erreichten (vgl. NZZ vom 22. Januar 2025).
Freude herrscht? Jein! Einerseits ist dieses fulminante Ergebnis ein beeindruckendes Zeugnis der Vitalität unserer Demokratie, des Willens der Bevölkerung, an der politischen Gestaltung unseres Staatswesens aktiv mitwirken zu wollen. Andrerseits sind Skepsis, ja Vorbehalte gegenüber dem Inhalt der Konzernverantwortungs-Initiative angezeigt.
Bereits am 29. November 2020 wurde die erste Konzernverantwortungs-Initiative dem Souverän unterbreitet. Sie verlangte, dass Konzerne mit Sitz in der Schweiz die Menschenrechte und Umweltstandards auch ausserhalb der Schweiz zu respektieren haben. Zu diesem Zweck sollten Menschenrechtsverletzungen und die Missachtung verbindlicher Umweltstandards vor Schweizer Gerichten eingeklagt werden können, unabhängig davon, wo diese inkriminierten Handlungen stattfanden. In der Volksabstimmung erreichte die Initiative zwar mit 50,7 % Ja-Stimmen die Mehrheit der Stimmenden, verfehlte aber das notwendige Ständemehr.
Nun haben die Initianten einen neuen Anlauf genommen. Die ursprüngliche Initiative wurde entschärft. Neu sollen die genannten Vorgaben nur noch für Firmen ab 1000 Mitarbeitern und einem Umsatz ab 450 Millionen Franken gelten. KMU sind also ausgenommen. Die Erfolgschancen der «zweiten, verbesserten Auflage» der Konzernverantwortungs-Initiative sind als ausgesprochen gut zu taxieren.
Was sagt dieses in kürzester Zeit zustande gekommene Rekordergebnis über unsere Gesellschaft aus? Der Befund ist ausgesprochen zwiespältig. Zu kritisieren ist vor allem die Tatsache, dass damit einer Art Neo-Kolonialismus Vorschub geleistet wird. Konkret sollen inskünftig Schweizer Gerichte darüber befinden, ob in anderen Staaten, vorab in Staaten der Dritten Welt, Menschenrechtsverletzungen oder Umweltvergehen stattgefunden haben. Es ist dies eine Bevormundung, eine Verletzung der Souveränität just jener Staaten, deren Bevölkerung man zu schützen vorgibt – zu schützen vor der eigenen Regierung.
Vor allem aber ist eine gehörige Portion Doppelmoral im Spiel. Mit der Säkularisierung bzw. Entchristlichung hat sich die moderne Gesellschaft ein enormes Sinndefizit eingehandelt. Die Konzern-Initiative stösst exakt in dieses Sinn-Vakuum vor. Unterstützer dieser Initiative können sich so als Gutmenschen inszenieren, ohne aber einen konkreten, sie ganz persönlich in die Pflicht nehmenden Beitrag zum Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltbedrohungen leisten zu müssen: Cheibe gäbig – Figgi und Müli sozusagen.
Exemplarisch führt «Blick»-Redaktor Raphael Rauch diese Doppelmoral vor. In seinem Artikel «Luftpost an den neuen Swiss-CEO» fordert der Deutsche von der Swiss mehr Engagement für den Klimaschutz, outet sich aber im gleichen Atemzug als Billigflieger von easyJet, Edelweiss und Helvetic für seine Ferientrips. Wäre einmal eine seriöse Studie wert, zu untersuchen, wie viele dieser Unterstützer der Konzernverantwortungsinitiative zur (regelmässigen) Kundschaft dieser Billigflug-Gesellschaften gehören, die weltweit die Atmosphäre mit ihren Abgasen schwer belasten.
Es wäre um die mentale Gesundheit unserer Gesellschaft weit besser bestellt, wenn eine Petition gegen das Skandal-Urteil des Bundesgerichts in Sachen Verbot der Wiler «Meitli-Sek» in der gleichen Zeit ebenso viele Unterschriften erreichen würde.
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Zudem finde ich es völlig normal und christlich, dass Konzerne mit Sitz in der Schweiz die Menschenrechte und Umweltstandards auch ausserhalb der Schweiz respektieren sollen.
Dass Konzerne, wo immer sie ihren Sitz haben, Menschenrechte und Umweltstandards respektieren sollen, steht ausser Frage. Wenn jedoch Schweizer oder andere europäische Gerichte Vergehen und Verbrechen, die sich in Dritt(welt)staaten ereignet haben, juristisch zu beurteilen beginnen, riecht das halt schon ein wenig nach Neokolonialismus.
„Wo man singet, lass dich ruhig nieder, / Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; / Wo man singet, wird kein Mensch beraubt; / Bösewichter haben keine Lieder.“
Mehr bewusst werden aber sollen wir uns alle, dass eine bessere Welt nicht mit Gesetzen und Vorschriften etc. geschaffen werden kann. sondern nur durch bessere Menschen, d.h. Menschen, welche sich Ihrer Verantwortung VOR GOTTT bewusst sind und sich ehrlich bemühen, nach seinem Willen und zu seiner Ehre zu leben. Und der erste Mensch, der sich bessern sollte, bin immer ich selbst. «Les exemples vivants sont d'un autre pouvoir, Un prince dans un livre apprend mal son devoir.» (Pierre Corneille, El Cid)
Und schliesslich; ohne Gott sind all unsere Bemühungen Sisyphusarbeit!
Darum: «Kehrt um zu ihm, Israels Söhne, / zu ihm, von dem ihr euch so weit entfernt habt.» (Jes 31,6)
Wo aber sind die Propheten, die Missionare, die solches noch «von den Dächern zu verkünden» wagen?