Kirche Schweiz

St. Gal­ler Bischofs­wahl: ana­chro­nis­ti­sche Streichungsklausel

Das bei der St. Gal­ler Bischofs­wahl bis­lang in Anspruch genom­mene Strei­chungs­recht ist im Licht der Aus­sa­gen des Zwei­ten Vati­ka­n­ums zur Reli­gi­ons­frei­heit über­holt. Das «Katho­li­sche Kol­le­gium» als staats­kir­chen­recht­li­ches Gre­mium sollte dar­auf frei­wil­lig verzichten.

«Ich habe einen Bock geschossen», entschuldigte sich Sabine Rüthemann, bis Ende August Leiterin Kommunikation des Bistums St. Gallen. Ein Riesenbock muss es gewesen sein, denn das ursprüngliche Communiqué vom 15. August 2024 wurde innert kürzester Frist überdimensional und mit Fettdruck richtiggestellt: Nicht zwei, sondern drei Kandidaten kann das sogenannte «Katholische Kollegium» (das staatskirchenrechtliche Parlament der St. Galler Katholiken) von der ihm unterbreiteten 6er-Liste des Domkapitels streichen.

Tatsächlich ist die Frage, ob ein staatliches bzw. vom Staat geschaffenes Gremium (darum handelt es sich beim «Katholischen Kollegium») überhaupt ein Streichungsrecht bei der Wahl des St. Galler Bischofs besitzt, bis heute umstritten. Es ist zugleich jene Frage, die wie keine andere seit der Gründung des Bistums St. Gallen bis heute Anlass zu Kontroversen gibt.

Nach der eigenmächtigen Aufhebung des Doppelbistums Chur-St. Gallen durch den Grossen Rat des Kantons St. Gallen vom 28. Oktober 1833 wurden Verhandlungen zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem Kanton St. Gallen zwecks Errichtung eines Kantonalbistums aufgenommen. Diese erwiesen sich als ausgesprochen zähflüssig und hindernisreich. Im November 1845 wurde das Konkordat von den politischen Behörden ratifiziert. Der Apostolische Stuhl hat dieses Konkordat aufgrund von Vorbehalten bis heute nie ratifiziert, sondern erliess die darauf Bezug nehmende Bulle «Instabilis rerum humanarum» vom 8. April 1847. Das ganze Verfahren fand seinen Abschluss durch die Publikation von Konkordat und Bulle durch die sanktgallische Regierung vom 28. Juni 1847. Es fällt auf, dass Bischof Josephus Meile im Vorwort zur Festschrift «Hundert Jahre Diözese St. Gallen» (1947) das Konkordat mit keinem Wort erwähnt, sondern ausschliesslich auf die päpstliche Bulle als Gründungsakt des Bistums St. Gallen Bezug nimmt.

Trotz dieser Vereinbarung kam es im Verlauf der nächsten Jahrzehnte regelmässig zu Konflikten zwischen Staat und Kirche. «Generell ist festzustellen, dass sanktgallische Behörden sich stets auf das Konkordat berufen haben, der Apostolische Stuhl jedoch dessen Gültigkeit verneinte und erklärte, sich allein an die Bulle halten zu wollen», bringt Urs Josef Cavelti in seiner fundierten und detaillierten Abhandlung «Die staatsvertragliche Grundlage des Bistums St. Gallen» das Spannungsverhältnis von Kirche und Staat auf den Punkt (ders., in: Urs Josef Cavelti, Kirchenrecht im demokratischen Umfeld, Freiburg 1999; die folgenden Zitate sind dieser Abhandlung entnommen).

Streichungsklausel als Zankapfel
Wie ein roter Faden zieht sich durch die ganze bisherige Bistumsgeschichte die nicht enden wollende Streitfrage nach der Teilnahmeberechtigung des «Katholischen Kollegiums» an der Bischofswahl. Der Grund für diesen Dissens lag im Text des Konkordates selbst begründet. Darin wird zwar der Grundsatz, dass die Bischofskandidaten der staatskirchlichen Seite «genehm» sein müssen, festgehalten, ohne ihn jedoch zu konkretisieren. Das Grossratskollegium nutzte dieses Vakuum umgehend aus und erliess ein sogenanntes Regulativ, das ein Listenverfahren vorsieht: Dem Grossratskollegium, also dem heutigen «Katholischen Kollegium», «wird die vom Domkapitel aufgestellte Liste der Wahlkandidaten eröffnet. In einem ersten Wahlgang wird über die Genehmheit der Liste als ganzes abgestimmt; sollte die Genehmheit mit absolutem Mehr verneint werden, erfolgt in einem weiteren Wahlgang eine Einzelabstimmung, wobei jedes Mitglied höchstens drei Namen als minder genehm streichen kann. Als minder genehm gilt ein Kandidat, der in dieser zweiten Abstimmung nicht das absolute Mehr erreicht hat» (Cavelti, S. 88f.). Der Apostolische Stuhl erhob gegen diese einseitige Konkretisierung förmlichen Protest. Im Breve vom 27. Juli 1858 machte sich der Apostolische Stuhl das Erfordernis der «subjektiven Genehmheit» zu eigen, d. h., er legte die Kompetenz zur Beurteilung der Genehmheit in die Hände des Domkapitels. Gleichwohl hat das sanktgallische Domkapitel in allen bisherigen Bischofswahlen die von ihm aufgestellte Kandidatenliste dem Grossratskollegium zur Ausübung des Streichungsrechts eingereicht.

Cavelti leitet aus dieser ständigen Praxis ein völkerrechtlich bindendes Vertrauensprinzip ab, auf den sich der Kanton St. Gallen bzw. das «Katholische Kollegium» berufen könne: «Die Praxis des Listenverfahrens zur Feststellung der Genehmheit des zu wählenden Bischofs» sei damit «rechtens geworden». Cavelti räumt gleichzeitig ein, dass die Proteste des Apostolischen Stuhls einen «adäquaten Rechtsbehelf darstellen, die Rechtmässigkeit gewisser sanktgallischer Rechtsakte zu bestreiten».

Was das geltend gemachte völkerrechtliche Vertrauensprinzip betrifft, ist festzuhalten, dass das Domkapitel 1957 im Hinblick auf die fällige Neuwahl des Bischofs dem Administrationsrat (= Exekutive) zuhanden des «Katholischen Kollegiums» ein Schreiben zukommen liess, das folgenden Passus enthält: «Die Apostolische Nuntiatur verweist neuerdings auf das Schreiben des Staatssekretariats seiner Heiligkeit an Herrn Meyer vom 25. Mai 1941 (Nr. 4031), wonach die Mitwirkung des Katholischen Kollegiums bei der Bischofswahl nicht auf einem Recht, sondern auf reinem Entgegenkommen gründet.»

Rechtlich von Belang ist dabei insbesondere, dass das «Katholische Kollegium» von diesem Vorbehalt lediglich Kenntnis nahm, ohne ihm zu widersprechen. Auch bei der Wahl von Otmar Mäder zum neuen Bischof im Jahre 1976 verwies das Domkapitel darauf, dass das Vorlegen der Liste nicht auf einer rechtlichen Verpflichtung beruhe, sondern auf blossem Entgegenkommen («per pura cortesia e non per obbligo»).

Als eine Art «Nebenkriegsschauplatz» lässt sich die Frage bezeichnen, wann das Domkapitel seine Wahl der Öffentlichkeit bekannt geben darf. Diese Frage führte auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder zu Kontroversen. In einem Erlass vom 20. Dezember 1900 hatte Kardinalstaatssekretär Rampolla seinerzeit festgehalten, dass das Wahlergebnis nur unter Vorbehalt der päpstlichen Bestätigung bekannt gegeben werden und jeder Dankesgottesdienst erst nach dem Eintreffen dieser Bestätigung erfolgen dürfe.

Streichungsklausel ist obsolet geworden
Die Rechtsposition von Cavelti ist insofern defizitär, als sie die durch das Zweite Vatikanische Konzil vorgenommene Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche nicht berücksichtigt bzw. lediglich in einer knappen Fussnote darauf verwiesen wird: «Als nochmalige Weiterentwicklung kann das zweite Vatikanum aufgefasst werden. Es ersucht die staatlichen Behörden, auf ihre Rechte zu verzichten, vgl. Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe Nr. 20.» Dabei ist diese «Weiterentwicklung», sprich das im Zweiten Vatikanum neu definierte Selbstverständnis der Katholischen Kirche in ihrem Verhältnis zum Staat und dessen Behörden, von zentraler Bedeutung, handelt es sich dabei doch um einen veritablen Paradigmenwechsel. Die Kirche verzichtet hinfort auf die bisher vom Staat gewährten Rechte und Privilegien und nimmt im Gegenzug die ungeschmälerte Religionsfreiheit in Anspruch. Wörtlich heisst es im genannten Konzilsdekret: «Um daher die Freiheit der Kirche in rechter Weise zu schützen und das Wohl der Gläubigen besser und ungehinderter zu fördern, äussert das Heilige Konzil den Wunsch, dass in Zukunft staatlichen Obrigkeiten keine Rechte oder Privilegien mehr eingeräumt werden, Bischöfe zu wählen, zu ernennen, vorzuschlagen oder zu benennen. Die staatlichen Obrigkeiten aber, deren Wohlwollen gegenüber der Kirche die Heilige Synode dankbar anerkennt und hochschätzt, werden freundlichst gebeten, sie mögen auf die genannten Rechte oder Privilegien, die sie gegenwärtig durch Vertrag oder Gewohnheit geniessen, nach Rücksprache mit dem Apostolischen Stuhl verzichten.»

Diese Neupositionierung der Katholischen Kirche geht konform mit einschlägigen internationalen Vereinbarungen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die «Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» KSZE vom 1. August 1975. Darin wird u. a. festgehalten, dass Kirchen und Glaubensgemeinschaften das Recht zusteht, ihr Personal in Übereinstimmung mit ihren jeweiligen Erfordernissen und Normen «auszuwählen, zu ernennen und auszutauschen» (zitiert in: Ueli Friederich, Kirchen und Glaubensgemeinschaften im pluralistischen Staat, Bern 1993). Der Autor fügt darin hinzu: «Deutlich über den Stand der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hinaus geht die Bestimmung über die Organisationsfreiheit, nach welcher die KSZE-Teilnehmer das Recht religiöser Gemeinschaften achten werden, ‹sich nach ihrer eigenen hierarchischen und institutionellen Struktur zu organisieren›.»

Dies bedeutet in der Konsequenz, dass das «Katholische Kollegium» als eines vom Staat generierten Organs im Sinne einer modernen, zukunftsgerichteten Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat freiwillig auf das bislang praktizierte Listenverfahren verzichtet. Es bedeutet keineswegs, auf die Mitwirkung des Kirchenvolkes bei der Bischofswahl zu verzichten. Aber dazu sind gerade im Licht der einschlägigen Aussagen des Zweiten Vatikanums und des aktuellen Synodalitätsverständnisses kircheninterne Vertretungen und Mitwirkungskriterien legitimiert und keine staatskirchenrechtlichen Parallelstrukturen wie das «Katholische Kollegium». Kommt hinzu, dass die Zusammensetzung des «Katholischen Kollegiums» alles andere als «basisdemokratisch» erfolgt, sondern in aller Regel durch Ko-Optation, d. h. durch Zuwahl aus einem kleinen Kreis von Gleichgesinnten.


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


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