Ein Rückblick in die «Tagespost»-Geschichte, durch die der Zeitgeist seinen Gegen-Zeitgeist findet. Der Beitrag von Sebastian Sasse erschien zuerst in «Die Tagespost»
Die Geschichten in der Zeitung werden irgendwann zur Zeitgeschichte. Bei der «Tagespost» verhält es sich nicht anders. Sie ist Chronistin der vergangenen siebeneinhalb Jahrzehnte, hat aber auch selbst Geschichte geschrieben. Denn eine Zeitung ist immer öffentliche Bühne, auf der die Tendenzen der Zeit oft das Florett, manchmal aber auch den Säbel miteinander kreuzen. Historiker, die einmal wissen wollen, wie und warum so im deutschsprachigen Raum gedacht worden ist, der wird an der «Tagespost» als Quelle für so eine Zeitgeistforschung nicht vorbeikommen. Am besten veranschaulicht es vielleicht ein Bild aus der Musik: Die öffentliche Meinung ist eine Komposition, die sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt. Das ist einmal der Basso Continuo, der Generalbass sorgt für das Fundament. Er steht für die medialen Hauptlinien, die sich durch die Jahre seit 1948 ziehen.
«Die Tagespost» war und ist für die Kontrapunkte zuständig. Und steht mit dieser publizistischen Aufgabe ganz in der Tradition des Gründergeistes der deutschen Nachkriegspresse. Da gab es nämlich zwei massgebliche Gruppen, einmal die sogenannten Alt-Verleger, also diejenigen, die auch schon vor dem Krieg oder vielleicht auch über ihn hinweg eine Zeitung herausgegeben haben. Und dann gab es die Neu-Verleger. Sie waren die Pioniere, denn sie wollten das Neue, das jetzt auf staatlicher Ebene entstand, publizistisch begleiten und stützen. Es ging ihnen in erster Linie um Journalismus in und für die Demokratie, erst in zweiter darum, ökonomische Gewinne einzufahren. Interessant ist dabei, dass diese Neu-Verleger, unabhängig von ihrem weltanschaulichen Hintergrund, für einen medialen Pluralismus eingetreten sind.
Eine Art mediale Opposition
Den katholischen Neu-Verleger, so einer war auch Johann Wilhelm Naumann, verband mehr mit einem sozialdemokratischen Neu-Verleger als mit einem vielleicht eher konservativ gesinnten Vertreter aus dem alten Establishment. Denn sie teilten die gemeinsame publizistische Aufgabe: Journalismus für die entstehende zweite deutsche Republik. Und das führte im Resultat gerade nicht zu einer gleichgeschalteten Medienlandschaft. Denn dahinter stand die Einsicht, dass die sich neu bildende Öffentlichkeit eben mediale Kontrapunkte dringend benötigt. Pluralismus bedeutet dann, dass es dem Gemeinwohl dient, wenn aus dezidiert weltanschaulichem Blick auf das Tagesgeschehen geschaut wird. Denn so ein Blick erfolgt für den Leser erkennbar aus einer Richtung und führt so zu deutlichen Erkenntnissen.
In der ersten Phase der «Tagespost»-Geschichte, sie ist mehr oder weniger identisch mit der Ära Römer (Ferdinand Römer war von 1955 bis 1986 Chefredakteur), werden diese Kontrapunkte vor allem in der Auseinandersetzung mit dem politischen Zeitgeschehen gesetzt, Beispiel «Spiegel-Affäre»: Es ist die «Tagespost», in der der Würzburger Jura-Professor Friedrich August von der Heydte ankündigt, Rudolf Augstein wegen Landesverrates anzuzeigen. Und der damals prominente Leitartikler Emil Franzel titelt: «Von Adenauer regiert, von Augstein beherrscht». In einer Zeit, in der die veröffentlichte Meinung nahezu ausschliesslich auf der Seite des «Spiegel» ist, formiert sich hier eine Art mediale Opposition. Der Zeitgeist findet seinen Gegen-Zeitgeist. Man kann sagen: «Checks and balances» – ein Prinzip, das auch der Medien- und Zeitungswelt gut tut.
Die journalistische Aufgabe: Stachel im Fleisch des Zeitgeistes
Schauen wir drei Jahrzehnte weiter: Ende der 90er-Jahre profiliert sich diese Zeitung wieder als ein Kontrapunkt, zumindest in der deutschen Debatte. Diesmal geht es um die Schwangerenkonfliktberatung. Die «Tagespost» vertritt gemeinsam mit dem Papst die Position, dass kirchliche Einrichtungen keine Scheine ausstellen dürfen, die zu einer Abtreibung berechtigen sollen. Die Zeitung steht damit aber gegen eine Mehrheit im katholischen Milieu. Wieder geht es darum, einem Zeitgeist gegenüber standzuhalten. Freilich in ganz anderer Weise als in den 60er-Jahren, wo so eine Aufspaltung des katholischen Milieus noch nicht vorstellbar gewesen wäre.
Die journalistische Aufgabe, Stachel im Fleisch des jeweiligen Zeitgeistes zu sein, ist kein Selbstzweck. Sie ergibt sich aus der Selbstverpflichtung dieser Zeitung, von der Basis des katholischen Lehramtes aus auf diese Welt zu schauen. Die Pioniere der Nachkriegspresse wussten diesen speziellen Blick zu schätzen, gerade weil er sich von anderen Perspektiven abhob.
Originalbeitrag in «Die Tagespost»
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