Isabelle Jonveaux, seit September 2023 Leiterin des SPI Suisse romande, führte 2024 eine Studie zum Verhältnis der Jugendlichen zur Spiritualität in der Romandie durch, die jetzt am 2. Juni 2025 veröffentlicht wurde. Die Stichprobe des Fragebogens besteht aus 500 verwertbaren Antworten von jungen Erwachsenen im Alter von 16 bis 30 Jahren aus den Kantonen Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg, Waadt und Wallis. 422 der Teilnehmer gaben an, katholisch zu sein. Rund 40 Prozent waren Männer, 58 Prozent Frauen.[1] Die Mehrheit war – was auf die Verbreitungskanäle zurückzuführen ist – Studierende (56 Prozent), gefolgt von jungen Berufstätigen (29 Prozent). 67 Prozent besassen die Schweizer Staatsangehörigkeit, 26 Prozent die Staatsangehörigkeit eines EU-Landes.
Unterschiede zu Ergebnissen der Religionssoziologie
Die Resultate der Studie weichen in mehreren Punkten von Ergebnissen der westeuropäischen Religionssoziologie ab. So beobachtet diese seit mehreren Jahrzehnten einen Bruch in der Glaubensweitergabe in der Familie, der sich vor allem durch die sinkenden Taufzahlen bemerkbar macht. So gab es in der Schweiz 2012 21 618 Taufen, im Jahr 2024 nur noch 13 548. Doch im Rahmen der Studie gaben 70 Prozent der katholischen jungen Erwachsenen in der Westschweiz an, eine religiöse Erziehung in der Familie erhalten zu haben. Auch wenn 16 Prozent angaben, keine oder nur eine geringe religiöse Erziehung erlebt zu haben, zeigen die Antworten, dass die religiöse Weitergabe funktioniert.
Seit ihrem Beginn beobachtet die Religionssoziologie eine stärkere religiöse Praxis bei Frauen. Die Studie aus der Westschweiz hat ergeben, dass zwar etwa gleich viele Männer wie Frauen angeben, an Gott zu glauben und eine Beziehung zu ihm zu haben, aber Männer häufiger die Messe besuchen als Frauen. Auch Weiterbildung, Gebetsgruppen, soziale Aktivitäten, geistliche Lektüre und Fastenwochen werden häufiger von Männern besucht, während Frauen öfters in Musik- und Gesangsgruppen, Austauschrunden und Lagern sowie bei körperlichen und geistigen Aktivitäten anzutreffen sind.
Gemäss der Religionssoziologie ist die religiöse Praxis auf dem Land stärker verankert als in den Städten. Auch hier weist die Studie ein anderes Resultat aus. Die jungen Menschen aus der Stadt haben bei fast allen spirituellen Aktivitäten die höchste Beteiligung. Sie geben auch öfters an, an Gott zu glauben (89 Prozent) als die jungen Erwachsenen aus ländlichen Gebieten (77 Prozent).
Gottesglaube heisst nicht immer Gottesbeziehung
67 Prozent der jungen Erwachsenen halten es für wichtig, einen religiösen Glauben zu haben; 72 Prozent geben an, dass sie glauben, dass Gott oder ein höheres Wesen Einfluss auf das Leben der Menschen hat. Es scheint, dass das Thema «Religion» viel Raum bei den jungen Erwachsenen in der Westschweiz einnimmt.
94,2 Prozent aller jungen Menschen, die an Gott glauben, geben an, eine persönliche Beziehung zu ihm zu haben. Doch nur 70 Prozent jener Katholiken, die nach eigenen Angaben einen starken Glauben haben, haben auch eine tiefe Gottesbeziehung. «Das bedeutet, dass man sagen kann, dass man wirklich an Gott glaubt, ohne davon auszugehen, dass dies notwendigerweise mit einer engen Beziehung zu ihm verbunden ist» (S. 13).
Dies ist nicht die einzige Auffälligkeit bei der Frage «Wie oft übst du eine spirituelle oder religiöse Aktivität aus?» Ein Viertel jener jungen Menschen, die von sich selbst sagen, keine Beziehung zu Gott zu haben, gibt trotzdem an, sich einmal pro Woche oder sogar öfter religiös oder spirituell zu betätigen. Die überwiegende Mehrheit der Gruppen «Sehr enge Beziehung zu Gott» und «enge Beziehung zu Gott» gibt an, dass sie fast jeden Tag eine spirituelle oder religiöse Aktivität ausübt (87 resp. 63 Prozent).
In erster Linie mit sich selbst beschäftigt
Gefragt nach ihren Ressourcen, auf die sie in Angstsituationen zurückgreifen, zeigt sich, dass Gebet und Meditation korrelativ zur Beziehung zu Gott zunehmen. Ähnlich verhält es sich mit geistlicher Lektüre und Seelsorgegesprächen. Die jungen Menschen scheinen in ihrer Religion, ihrer Spiritualität, ein Mittel gefunden haben, um mit Angst und Problemen umzugehen. Dies hat indirekt Einfluss auf ihre psychische Gesundheit. Jene, die keine oder nur eine vage Beziehung zu Gott haben, nennen als Ressourcen: Aktivitäten, die sie mögen, Gespräche mit Freunden oder Verwandten sowie Sport.
Die befragten jungen Erwachsenen zwischen 16 und 30 Jahren sind alle unabhängig von ihrer Gottesbeziehung in erster Linie mit sich selbst beschäftigt.
Relativ ähnlich sind sie in ihrem Desinteresse an Fragen zur Wirtschaft, sexuellen Identität oder Migration. Während jene mit einer starken Gottesbeziehung sich auch stark mit der Partnerschaft auseinandersetzen, haben jene ohne Gottesbeziehung nur geringes Interesse an Beziehungsfragen. Gerade umgekehrt ist es beim Umweltschutz: Dieser ist eine wichtige Thematik für die Gottfernen, aber nur von geringem Interesse bei den jungen Erwachsenen mit einer starken Gottesbeziehung.
Kein Vertrauensverlust
Die Veröffentlichung der Pilotstudie zu sexuellem Missbrauch in der Kirche hat in der Deutschschweiz zu einer hohen Zahl an Kirchenaustritten geführt. Gleichzeitig verlor sie an Glaubwürdigkeit. Dies scheint bei den befragten 16- bis 30-Jährigen keinen Eindruck gemacht zu haben. Haben wir es auch hier mit dem bekannten Röstigraben zu tun?
Gemäss der Studie erachten die jungen Erwachsenen die Kirche als kompetent in den grossen existenziellen Fragen (80 Prozent), den sozialen Fragen (72 Prozent), bei Ungerechtigkeiten und schliesslich in ethischen Fragen wie Lebensende, Leihmutterschaft usw. (69 Prozent). Selbst von jenen jungen Menschen, die keine Kirchenbeziehung haben, erklären 27 Prozent, dass die Kirche zu den grossen existenziellen Fragen Relevantes zu sagen hat. «Die Kirche scheint also ein relatives Monopol auf existenzielle und ethische Fragen zu behalten, das anderen Institutionen auf dieser Ebene nicht zuerkannt wird» (S. 26). Interessant: Die kirchliche Kompetenz betreffend Umweltschutz ist auf dem zweitletzten Platz gelandet.
Die Studie zeigt weiter, dass die sozialen Aktivitäten der Katholischen Kirche im öffentlichen Raum ausreichend sichtbar sein müssen, damit die 16- bis 30-Jährigen ihr diese Kompetenzen zuerkennen.
Es zeigte sich ebenfalls, dass die jungen Erwachsenen aus der Westschweiz eine starke Erwartungshaltung gegenüber der Kirche haben. Diese soll sie dabei unterstützen, den Graben zwischen dem Katholischsein und dem Jungsein in der heutigen Gesellschaft besser zu bewältigen. Sie erwarten auch, dass die Kirche ihre Bemühungen anerkennt, im Gegensatz zur Mehrheit ihrer Altersgenossen in der Kirche präsent zu sein. Isabelle Jonveaux vom SPI Suisse Romande stellt fest: «Der Umgang mit generationsübergreifenden Themen in der Kirche bleibt also eine Herausforderung, um den unterschiedlichen Bedürfnissen und den verschiedenen Kirchenkulturen gerecht zu werden» (S. 27).
Die Resultate dieser Studie sind verblüffend, unterscheiden sich zum Teil signifikant von der Religionssoziologie. Wer hat Recht? Es kann gewiss nicht schaden, wenn die Religionssoziologie dies zum Anlass nehmen würde, ihre Stereotypen kritisch zu hinterfragen. Handkehrum stellt sich die Frage, wie belastbar bzw. repräsentativ die Daten dieser Studie tatsächlich sind.
«Studie zum Verhältnis der Jugendlichen zur Spiritualität in der Romandie» (Original auf Französisch)
[1] 2 Prozent wollten die Frage nicht beantworten.
Kommentare und Antworten
Sei der Erste, der kommentiert