Die Zahl der Priester und Seelsorger nimmt kontinuierlich ab. Der Kirchenrat der «Katholischen Landeskirche Thurgau» und das Bischofsvikariat St. Viktor haben unter der Moderation von Prof. Iwan Rickenbacher Überlegungen für die weitere Zukunft angestellt und dabei die Vision «dual kongruent» entwickelt. Mithilfe dieser Vision soll die Kirche auch in Zukunft ihre Aufgaben wahrnehmen können – wenn auch in veränderter Form. Nomen est omen: Ein Kernelement der Vision besteht darin, die duale Kirchenstruktur von Pfarreien und Kirchgemeinden deckungsgleich (=kongruent) zu machen. Aus diesem Grund sollen die 38 Kirchgemeinden und 48 Pfarreien (Stand 2022) auf je 25 reduziert werden, wobei Pfarrei und Kirchgemeinde übereinstimmen sollen. Die Kongruenz erleichtere «das Zusammenwirken der Personen oder Teams, die in einzelnen Pfarreien Mitverantwortung tragen, und dem Kirchgemeinderat». Eine Pfarrei soll dabei eine Mindestgrösse von rund 1000 Gläubigen aufweisen. Diese 25 Pfarreien/Kirchgemeinden werden in fünf Netzwerken gebündelt, damit so «die fundamentalen Leistungen der Kirche für alle Menschen, die im Netzwerk leben, gewährleistet sind».
Die Seelsorgerinnen und Seelsorger werden an einem zentralen Ort stationiert. Ergänzend dazu braucht es nun neue Mitarbeitende, die vor Ort die «weiteren Dienste in den Pfarreien» sicherstellen. Man zielt dabei auf Menschen, die «sich für kirchlich-pastorale Aufgaben gewinnen lassen», aber aufgrund der familiären oder beruflichen Situation keine der anerkannten Ausbildungen zum Seelsorger absolvieren können.
Das Ziel bestehe darin, Personen mit einer christlichen Grundkompetenz und spirituellen Verankerung sowie mit dem nötigen pastoralen Know-how als Netzwerker vor Ort zu beauftragen, ist auf der Webseite zu lesen. Und weiter: «Als Netzwerker schaffen sie Verbindungen unter den Menschen, aber auch hin zu den Priestern und Theologinnen/Theologen in den regionalen Zentren. Im Bewusstsein ihrer reduzierten theologischen Ausbildung arbeiten sie verstärkt in Teams und werden von Coaches aus dem Zentrum begleitet.»
Die Ausbildung erfolgt aufgrund von Kooperationen an verschiedenen Orten, u. a. bei der «Kirchlichen Erwachsenenbildung» (KEB), am TBI(?) oder bei «benevol».Gemäss Jean-Pierre Sitzler, Fachstellenleiter der KEB, handelt es sich um eine aufgabenbegleitende Qualifizierung, die eineinhalb Jahre dauert.
Die Inhalte der Ausbildung orientieren sich an einigen Modulen nach forModula, dazu kommen der Lehrgang Freiwilligen-Koordination, Präventionsschulung und Supervision/Intervision/Coaching (begleitend). Am Ende der Qualifizierung erhalten die Absolventen ein Zertifikat der «Katholischen Landeskirche Thurgau» sowie die Beauftragung durch die Pfarreileitung.
Die konkreten Tätigkeiten dieser «Netzwerker» können je nach Bedürfnissen vor Ort unterschiedlich sein, erklärt Bischofsvikar Hanspeter Wasmer. «Grundsätzlich sollen sie ein Gesicht der Kirche vor Ort sein. Sie koordinieren z. B. die verschiedenen Gruppen und Vereine sowie die Freiwilligenarbeit im Allgemeinen. Sie sind auch Augen und Ohren vor Ort und berichten den Seelsorgenden, was alles läuft und wo es wichtig wäre, wenn jemand vorbeigeht, z. B. bei einem sterbenden Menschen.»
Im Verlauf des Projekts «Thurgau Süd» wurden die Stellen als «Netzwerkende» ausgeschrieben und die Bewerbungen werden laufend gesichtet, so Jean-Pierre Sitzler. «Zum Start des neuen Netzwerks im August dieses Jahres sollen die Personen gefunden sein und mit der Qualifizierung starten.»
Konzept mit vielen Fragen
«Pfarreien sollen als lebendige kirchliche Orte weiterbestehen, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten vor Ort kirchliches Leben ermöglichen.»
Da stellt sich die offensichtliche Frage: Wie können Pfarreien «weiterbestehen», wenn sie zusammengelegt werden? Sowohl Kirchenratspräsident Cyrill Bischof wie auch Bischofsvikar Hanspeter Wasmer wichen dieser konkret gestellten Frage aus.
Cyrill Bischof antwortete, dass «nur die allerkleinsten Pfarreien neu umschrieben werden». Auch Bischofsvikar Wasmer wies auf die Grösse der Pfarreien hin: «Angestrebt wird eine Pfarreigrösse von 1000 Katholikinnen und Katholiken. Das sind immer noch kleine Pfarreien. Ausserdem sind es natürlich Orte, die beieinanderliegen. Mit einer Pfarreigrösse von 300 Menschen (das ist z. B. die kleinste Pfarrei im Thurgau) ist es auch schwierig, ein lebendiges Pfarreileben zu gestalten.»
Es kommt ganz darauf an, was man unter einem «lebendigen Pfarreileben» versteht. Auch 300 Gläubige können sich regelmässig zum Gebet treffen, sich gegenseitig unterstützen und gemeinsam im Glaubensleben wachsen.
Die Zusammenlegung nach geografischen Gesichtspunkten kann zudem heikel sein: Benachbarte Pfarreien können sich stark unterscheiden. Wie soll unter solchen Bedingungen ein lebendiges kirchliches Leben vor Ort fortgeführt werden?
Interessant ist, dass in dieser Vision die Pfarreiräte keine Rolle spielen. Diese sollen bekanntlich den Pfarrer resp. das Seelsorgeteam beraten sowie Anregungen und Wünsche seitens der Pfarreiangehörigen einbringen. «swiss-cath.ch» hat bei Bischofsvikar Wasmer nachgefragt, was mit den Pfarreiräten geschieht. Werden diese aufgelöst? Zusammengelegt? Neu formiert? Und mit wem arbeiten sie zusammen: den «Netzwerkern» oder den Seelsorgern?
«Die Mitbeteiligung der Gläubigen ist weiterhin sehr wichtig, das hat unser geschätzter Papst ja mit dem synodalen Prozess wieder neu bekräftigt. Insofern wird man die bestehenden Gremien sicher weiter nutzen und eventuell in eine neue Struktur einbinden. Das entscheiden aber die Menschen vor Ort. Sicher werden die Netzwerkenden dort eine tragende Rolle haben, aber nicht ausschliesslich.»
Seine ausweichende Antwort darf man getrost so interpretieren, dass man bei der Vision «dual kongruent» tatsächlich die Pfarreiräte bisher nicht im Blick hatte. Denn die «Netzwerker» sollen jetzt ja genau die Aufgabe der Pfarreiräte übernehmen – nur dass sie nicht von den Gläubigen gewählt, sondern von den Kirchgemeinden angestellt werden.
Und schlussendlich stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, die Seelsorger geografisch von den Gläubigen zu entfernen, sie an einem «zentralen Ort» zu konzentrieren. Besteht nicht die reale Gefahr, dass diese zu reinen Dienstleistern werden (Stichwort: eingeflogene Priester)? Auch hier ist die Antwort des Bischofsvikars ausweichend:
«Mit dem Projekt versuchen wir Nähe vor Ort weiterhin zu ermöglichen. Gleichzeitig wollen wir unsere Seelsorgenden vor einer Überforderung schützen. Wenn sich nichts ändert bei den Berufungen für den kirchlichen Dienst, werden wir in zehn Jahren noch die Hälfte des theologisch ausgebildeten Personals haben. Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder gibt es nur noch in grösseren Orten Seelsorge und die Menschen müssen dahin pilgern oder wir verteilen das theologische Personal auf eine grössere Fläche. Es auf eine noch grössere Fläche als die bisherigen Pastoralräume zu verteilen, birgt aber die Gefahr, dass wir die Seelsorgenden überfordern und die Menschen in den Pfarreien die Nähe vermissen. In einem guten Zusammenspiel von Netzwerkerinnen und Netzwerkern mit den Seelsorgenden sehen wir Chancen.»
Während in der Kirche weltweit eine Tendenz zur Dezentralisierung spürbar und vom Papst selbst gefordert wird, setzt die Kirche im Kanton Thurgau auf eine Zentralisierung und somit auf eine «Gleichschaltung» der verschiedenen Pfarreien. Diesen Vorwurf will Kirchenratspräsident Cyrill Bischof nicht gelten lassen. «Die Zentralisierung betrifft nur die pastoralen Leitungen/Theologen. Ansonsten passiert ja genau das Gegenteil – die Pfarreien werden gegenüber dem damaligen pastoralen Entwicklungsplan (PEP) aufgewertet, es gibt mehr Basisgemeinden.» Wie wenn es keinen Einfluss auf die Pfarreien hätte, wenn sich ein einziges Team um alle fünf Pfarreien kümmert.
Zusammengefasst bedeutet die Vision «dual kongruent» also: Zunächst zieht man die Priester sowie Seelsorgerinnen und Seelsorger aus den Pfarreien ab und ersetzt sie durch «Netzwerker». Dann fusioniert man jeweils fünf je nachdem mehr oder weniger lebendige Pfarreien ohne Rücksicht auf ihre Traditionen zu einer grösseren Pfarrei und schon hat man in fünf Netzwerke gebündelte, neue lebendige Pfarreien, die das Pfarreileben vor Ort selbst gestalten. – Wenn es doch so einfach wäre!
Die Vision «dual kongruent» beruht darauf, dass sich die Gläubigen in ihren Pfarreien engagieren. Nur: Wenn sie es bisher getan haben, warum also die lebendige Pfarrei auflösen? Wenn die Gläubigen sich bisher nicht für das Pfarreileben eingesetzt haben, warum sollten sie damit beginnen?
Die Einsetzung von bezahlten «Netzwerken» ist zudem hoch problematisch: Aufgrund der Abwesenheit der Seelsorger besteht die Gefahr, dass sich manche der «Netzwerker» mit der Zeit selbst als Seelsorger missverstehen, obwohl sie dazu weder die Ausbildung noch die Beauftragung haben. Wir kennen das Phänomen von Pfarreibeauftragten resp. Gemeindeleitern, die plötzlich «ihre» Pfarrkinder selbst taufen wollen oder lieber einen Wortgottesdienst feiern als den «fremden» Pfarrer aus dem Nachbarort für eine Eucharistiefeier zu engagieren.
Es ist unbestritten, dass aufgrund des absehbaren Priester- und Seelsorgermangels etwas unternommen werden muss. Zwangsläufig werden sich die Menschen um zentrale Orte sammeln, so wie sich z. B. heute schon Jugendliche irgendwo zu einem Adoray-Gottesdienst treffen oder andere Menschen regelmässig an einem Gottesdienst in einem ihnen spirituell wichtigen Kloster teilnehmen. Diese Orte wurden ihnen aber nicht vorgeschrieben, sondern von ihnen selbst gewählt!
Menschen einen zentralen Ort, eine bestimmte (geografische) Gemeinschaft aufzwingen zu wollen, wird keinen Erfolg haben.
Noch wichtiger: Strukturänderungen helfen nicht weiter, wenn der Glaube nicht wächst oder gar schwindet. Wir brauchen keine neuen Strukturen oder Berufe, sondern eine echte Neuevangelisierung – dafür genügen übrigens ein paar wenige Menschen, wie die Geschichte der Zwölf Jünger Christi eindrucksvoll zeigt.
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