Die vier Kardinaltugenden, Somme le Roi by Dominican Friar Laurent, zwischen 1290-1300. (Bild: Levan Ramishvili from Tbilisi, Georgia, Public domain via Wikimedia Commons)

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Tugend – die Spra­che der Reli­gion im Alltag

Je unge­wis­ser und düs­te­rer die Welt wird, desto wich­ti­ger ist der Blick nach innen. Han­deln wir so, dass uns die Unge­rech­tig­keit der Welt nicht anfech­ten kann? «Was vor­ge­stellt wird, ist mehr als Lebens­hilfe: Sie führt gera­de­wegs zur Phi­lo­so­phie und, da sie wirk­lich gut ist, ebenso stracks zur Theo­lo­gie.» So führt keine gerin­gere als Hanna-​Barbara Gerl-​Falkowitz in das Buch hin­ein, denn sie schrieb das Vor­wort. Und es stimmt: Daniel Zöll­ner legt ein weg­wei­sen­des Buch zu einer Geis­tes­hal­tung vor, die wir – zuerst für uns selbst – drin­gen­der brau­chen denn je. Eine Rezen­sion von Sebas­tian Sigler

Was für ein Kontrast zur heutigen realen Welt! So könnte die erste Reaktion ausfallen, wenn man das Buch von Daniel Zöllner zur Hand nimmt. Vor dem Welttheater, das düstere Kulissen aufziehen lässt, breitet er eine theologische Folie aus, die auf das Innere abzielt. Die Abwendung von der Selbstschau, die erkennbare Tendenz zur immer mehr ausgreifenden Psychologisierung hinterfragt er wirksam. Indem er die diesseitsbezogene seelische Erforschung ausblendet, ändert er den Blickwinkel deutlich ins Transzendentale. Die immer neuen und sich vielfach überlagernden Wahrnehmungen durch Medienkonsum und immer bedrohlichere Nachrichten, die nicht einmal korrekt sein müssen, um die Kontemplation schlichtweg unmöglich zu machen, werden bei Zöllner als heillose Ablenkung vom Eigentlichen sehr deutlich herausgearbeitet.

Die Zersetzung des Eros in eine banale, hemmungslose Sexualität wird als geistige Grundlage für den Hunderttausendfachen Kindermord, «Abtreibung» genannt, entlarvt. Am Ende steht das Abgleiten in eine digitale Welt der Beliebigkeit, die mit harmlosen Katzenvideos beginnt und die in einem diffusen digitalen Raum endet, in dem die Unterschiede zwischen realer und virtueller Welt verschwinden. Und in dieser Welt in einem geistigen Plasmazustand hat der Kinderwunsch keinen Platz, die Erziehung von Kindern noch weniger.

Von einem tödlichen Sog der Selbstzerstörung zu sprechen, der mit dem Rückzug in digitale Welten angesichts einer hoffnungslos totalitären Weltwirklichkeit einhergeht, ist das nicht zu weit gegriffen? Durchaus nicht – wie uns Daniel Zöllner vor Augen hält. Trotzdem einen Raum für «Lebenskunst» zu sehen: Das erfordert «Mut»! Und plötzlich wird die Einhaltung von Tugenden im althergebrachten Sinne zu einem Gebot des seelischen Überlebens. Damit aber der gefundene Standpunkt auch Wirksamkeit entfaltet, muss er den Ansprüchen der objektiven Wahrheit genügen. Daniel Zöllner gelingt es, hier Lösungen anzubieten. Er greift dazu immer wieder auf die Überlieferung der biblischen Botschaft zurück, formuliert klar und unmissverständlich: «Tugend, also das objektive Gutsein eines Menschen, ist nicht dem subjektiven Belieben anheimgestellt. Es ist auch kein vages Empfinden, sondern klar definierbar.»

Das ist der Kontext, vor dem Zöllner die Verteidigung des althergebrachten Begriffes der Tugend unternimmt. Was zunächst durchaus ein wenig verstaubt anmutet, bedeutet vor diesem Hintergrund einen klaren Kontrast zum aktuellen Weltgeschehen.

Ja, ein Blick in die Tagespresse genügt: Nichts ist aktueller als eine Neubelebung des Konzepts der Tugend! Natürlich sind diese altertümlichen sechs Buchstaben in unsere Lebensrealität «zu übersetzen», das ändert aber nichts an ihrer Gültigkeit. Diejenigen, die uns in der modernen Medienöffentlichkeit als Helden und Vorbilder begegnen, werden zumeist nach dem beurteilt, was sie sagen oder schreiben, und nicht nach dem, was sie sind. Gnadenlose Rohstoffkriege, wachsende Zollschranken, ein bethlehemitischer Kindermord durch Abtreibung sowie ein moslemischer Kain, der seinen christlichen Bruder Abel erschlägt, bilden den globalen Rahmen. Doch so gross der Rahmen auch ist – dem Autor gerät die Individualethik nie aus dem Blick, um die geht es ihm offenkundig.

Dieses Buch entlarvt den Sprachmissbrauch – auch die verfälschende Verkürzung der Botschaften – als propagandistisches Machtmittel. Was schon oft geschah, erleben wir trotz oder gerade wegen unserer online jederzeit sichergestellten technischen Erreichbarkeit derzeit wieder – die Errichtung grosser Weltreiche durch Lüge und Täuschung. Ob es die Ausbeutung von Rohstoffen oder die ungebremste Überwachung durch heimtückische Manipulation ist – alles könnte derzeit auf einen «gewaltlosen Totalitarismus» oder, im schlechteren Fall, auf globale, gnadenlose Rohstoffkriege hinauslaufen. Diesen äusseren Rahmen schildert Zöllner, seine Wirksamkeit bezieht er aus der biblischen Überlieferung.

Damit kann der Buchtitel «Mut zur Tugend» als ein verdichtetes Programm gelesen werden. Zöllner stellt zunächst die vier Kardinaltugenden vor – Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Masshalten. Es folgen die drei zentralen paulinischen Begriffe Glaube, Hoffnung, Liebe – hier nutzt Zöllner sehr elegant die Basis der Tugendethik, die der bedeutende Münsteraner Philosoph Josef Pieper gelegt hat. Diese sieben Säulen bilden das Fundament des Buches, und, so möchte man hinzufügen, der ganzen abendländischen Kultur. Jeder Leser kann sie nahtlos auf sein eigenes Leben umlegen, denn sie sind griffig formuliert, dabei alltagsnah – aber der Autor verlässt nie seine theologische Reiseflughöhe.

Es ist uralte Überlieferung, dass es sieben Todsünden gibt. Daniel Zöllner hat den Mut, seinen Lesern diese Sünden vorzuhalten und ihnen klar zu verdeutlichen, was sie eigentlich sind: Wurzeln des Bösen. Der Leser bekommt eine Ahnung von Gesamtzusammenhängen, denn den Abhängigkeiten der Welt – symbolisiert in den sieben Todsünden – steht die zuvor ausgelegte Offenbarung einer Glückseligkeit in Gott entgegen, die sich in den drei paulinischen Grundbegriffen Glaube, Hoffnung und Liebe durch die vier Kardinaltugend gestützt, verwirklicht.

Zöllner legt in seinem neuen Buch wesentliche Gedanken vor. Er beherrscht die Kunst des Überblicks. Auf dieser Grundlage, die er seinen Leser ausgebreitet hat – und unwillkürlich kommt dem Rezensenten eine gedankliche Übereinstimmung mit Dantes «Göttlicher Komödie» in den Sinn – wird es möglich, über bewegende Themen der Gegenwart nachzudenken, etwa über Tod, Urvertrauen und eine wohlverstandene, d. h. in den Horizont einer höheren Ordnung gerückte Erotik. Seinen gedanklichen Kreis erweitert Zöllner schliesslich auf Fragen der Glaubenspraxis; damit bekommt auch die Zeitkritik ihren Platz. Das Buch kann daher ein wirksames Vademecum sein, das dem Leser in den gewaltig wachsenden Unsicherheiten der Gegenwart Halt schenkt. Ein gewichtiges Werk ist entstanden, das in seiner schlichten äusseren Anmutung ganz hinter den Imperativ seiner Titelworte zurücktritt, Programm ebenso wie Hoffnung verheissend: «Habe Mut zur Tugend!»
 

Daniel Zöllner, Mut zur Tugend. Essays zur Lebenskunst in der Gegenwart. Mit einem Vorwort von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, erschienen in der Reihe «Bedenken und Besinnen, Lepanto Verlag 2024; 192 Seiten mit Abbildungen. ISBN 978-3-942605-38-0. Link


Sebastian Sigler


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    Josef Köchle 05.04.2025 um 12:35
    Sigler verwechselt die sieben Hauptsünden mit Todsünden. Eine Hauptsünde muss noch lange nicht eine Todsünde sein. Eine saubere Sprache wäre wichtig, um Verwirrung zu vermeiden.
    • user
      Hansjörg 05.04.2025 um 21:54
      Ich glaube, betreffs Sünden habe ich den Überblick verloren. Gibt es irgendwo eine Liste mit den verschiedenen Schärfegraden der Sünden, was ist die kleinste Sünde und was die grösste?
      • user
        Meier Pirmin 06.04.2025 um 09:49
        @Hansjörg. Nicht zu unterschätzen ist die Hypersensibilität der Heiligen betr. ihr Sündenbewusstsein, das sich teilweise in wöchentlichen Beichten manifestierte. Der wohl in seiner Schlichtheit bedeutendste Heilige, wiewohl mangels Wunder ohne Seligsprechung (weil er sich dagegen verwahrt), ist der einzigartig schlichte Bruder Meinrad Eugster vom Kloster Einsiedeln, dessen gegenwärtig laufende Ausstellung im Kloster für unser Glaubensleben eine Offenbarung ist. Vgl. auch die bedeutende Biographie von Pater Jüngst, der auf die extreme Sensibilität des Bruders für kleinste Sünden verwies und die Probleme von dessen Beichtvater diesbezüglich. Da spielten offenbar Gedankensünden eine grosse Rolle, zum Beispiel schon der Gedanke ans Rechthaben selbst in Fällen, da er wirklich recht hatte. Nur schon der Schatten einer Genugtuung darüber wurde von ihm als Hochmut empfunden, also die Sünde des Satans, Das gab und gibt mir wirklich zu denken. Auch ist es in der Geschichte der Mystik keine Kleinigkeit, dass es bei den Tugenden und bei den Sünden "Hierarchien" und Abstufungen gibt, so steht zum Beispiel das Mass unter der Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit aber unter der Wahrheit, die Tapferkeit aber klar unter der Gerechtigkeit, sie muss in deren Dienste stehen. Bei den schweren Sünden ist nach Thomas von Aquin die Unkeuschheit an der Stelle "der leichtesten Sünden unter den schweren Sünden", was jedoch Differenzierung erfordert. Das wusste auch der Einsiedler Leutpriester und Beichtvater Ulrich Zwingli selbst noch in der eigenen Gewissenserforschung. Es war aus seiner Sicht in Sachen Unkeuschheit eine kleinere Sünde, wie bei ihm selber praktiziert, mit einer schon sehr "verdorbenen" Jungfer sich zu vergnügen als eine solche zu verführen, eine noch schwerere Sünde wäre das Eindringen in eine Ehe gewesen, die schwerste Sünde die Schändung einer Nonne, was nicht eine Sünde gegen diejenige ist, sondern eine Sünde gegen Gott von wegen des Gelübdes usw. Auch bei den Gedankensünden gibt es, vgl Bruder Meinrad, eine Abstufung, wobei der Hochmut zu den schlimmsten gehört, wovor gerade auch anscheinend Tugendhafte und Hochbegabte sowie Gelehrte nicht gefeit sind. Noch spannend für mich bei Erkundung von über 1000 Nonnenleben der alpenländischen Kirchengeschichte ist, wie häufig bei Nonnen das lustvolle Beissen in einen Apfel, vgl. freilich die Geschichte von Adam und Eva, zu den am geläufigtsten gebeichteten Sünden gehörte. Selber habe ich noch eine Innerschweizer Ordensschwester gekannt, Teilnehmerin meiner Lehrerfortbildungskurse, die mir "beichtete", dass sie den Besuch des Zirkus Knie an unserem Kursort zu Hause dann beichten müsse, weil nach Ordensregelinterpretation offenbar nicht erlaubt. Schweizer Einsiedler (Eremiten) mussten nach Regel der Eremiten der 4 Waldstätte beichten, wenn sie sich zum Jassen verführen liessen, selbstverständlich auch zum Alkohol trinken.

        Diese Hypersensibilität wurde indes schon im Mittelalter von guten Beichtvätern abgemahnt. Aus heutiger Sicht ist sie in der Regel kein Problem, eher schon das Gegenteil davon. Z.B. die Bemerkung von Thomas, dass Unkeuschheit weniger schlimm ist als Geiz oder Lügenhaftigkeit, könnte zumindest am Anfang dazu verleiten, eine solche Sünde nicht mehr angemessen ernst zu nehmen. Sowieso verleitet die Unkeuschhett, ganz besonders aber Vergehen gegen die Ehe, zu systematischem Lügen. Nach Kant sogar die schwerste Sünde überhaupt.