(Symbolbild: billycm/Pixabay)

Weltkirche

Über die Liebe zu den Armen

Heute ver­öf­fent­lichte der Hei­lige Stuhl das erste Lehr­schrei­ben von Papst Leo XIV. Die Apos­to­li­sche Exhor­ta­tio «Dilexi te» (Ich habe dich geliebt) ist auf den 4. Okto­ber, den Fest­tag des hei­li­gen Franz von Assisi, datiert und stellt eine Fort­schrei­bung der Enzy­klika «Dile­xit nos» von Papst Fran­zis­kus dar.

Beim folgenden Text handelt es sich um eine Zusammenfassung des Lehrschreibens. Ein ausführlicher Kommentar wird zu einem späteren Zeitpunkt folgen.

«Ich [habe] dir meine Liebe zugewandt» (Offb 3,9), so beginnt die Apostolische Exhortatio von Papst Leo. Diese Worte sprach der Herr zu einer christlichen Gemeinde, die keine Bedeutung oder Ressourcen hatte und Gewalt und Verachtung ausgesetzt war. Die Sorge der Kirche für die Armen und mit den Armen war das Thema einer geplanten Apostolische Exhortatio, an der Papst Franziskus in seinen letzten Lebensmonaten gearbeitet hatte. «Da ich dieses Projekt gewissermassen als Erbe erhalten habe, freue ich mich, es mir – unter Hinzufügung einiger Überlegungen – zu eigen zu machen und es noch in der Anfangsphase meines Pontifikats vorzulegen», so Papst Leo in seiner Einleitung. Er teilt den Wunsch seines Vorgängers, dass alle Christen den tiefen Zusammenhang zwischen der Liebe Christi und seinem Ruf, den Armen nahe zu sein, erkennen.

Gott hört den Schrei der Armen und sendet uns
Papst Leo erinnert an die Offenbarung Gottes an Mose am brennenden Dornbusch: «Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne sein Leid […]. Und jetzt geh! Ich sende dich» (Ex 3,7f.). Und Jesus sprach: «Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan» (Mt 25,40). «Die Lebenssituation der Armen ist ein Schrei, der in der Geschichte der Menschheit unser eigenes Leben, unsere Gesellschaften, die politischen und wirtschaftlichen Systeme und nicht zuletzt auch die Kirche beständig hinterfragt», erklärt Papst Leo. Dabei könne nicht von der Armut gesprochen werden, da die Armut viele Formen kennt: «die derjenigen, denen es materiell am Lebensnotwendigen fehlt, die Armut derer, die sozial ausgegrenzt sind und keine Mittel haben, um ihrer Würde und ihren Fähigkeiten Ausdruck zu verleihen, die moralische und geistliche Armut, die kulturelle Armut, die Armut derjenigen, die sich in einer Situation persönlicher oder sozialer Schwäche oder Fragilität befinden, die Armut derer, die keine Rechte, keinen Raum und keine Freiheit haben.»

Papst Leo mahnt an, dass mit dem konkreten Engagement für die Armen auch ein Mentalitätswandel verbunden sein muss. «Die Illusion, dass ein Leben in Wohlstand glücklich macht, führt viele Menschen nämlich zu einer Lebenseinstellung, die auf Ansammlung von Reichtum und sozialen Erfolg um jeden Preis ausgerichtet ist, auch wenn dies auf Kosten anderer geschieht und man dabei von ungerechten gesellschaftlichen Idealen bzw. politisch-wirtschaftlichen Verhältnissen profitiert, die die Stärkeren begünstigen.»

Zahlreiche Stellen des Alten Testaments stellen Gott als Freund und Befreier der Armen dar; er hört ihren Schrei und kommt ihnen zu Hilfe. Er prangert durch die Propheten die Ungerechtigkeiten gegenüber den Schwächsten an und mahnt zur Umkehr. «Denn man kann nicht beten und Opfer darbringen, während man die Schwächsten und Ärmsten unterdrückt.»

Gott ist in Jesus selbst arm geworden: als Kind in der Krippe und in der Flucht nach Ägypten; im öffentlichen Wirken durch die Ablehnung seiner Person und Botschaft und dann in der äussersten Erniedrigung des Kreuzes und im Tod. «Es ist also gut nachvollziehbar, warum man auch theologisch von einer vorrangigen Option Gottes für die Armen sprechen kann.» Die Kirche, wenn sie Kirche Christi sein will, muss eine Kirche der Seligpreisungen sein. Papst Leo belegt mit vielen Stellen aus der Bibel, dass die Sorge um die Armen untrennbar mit dem Glauben verbunden ist. So z. B. den Vers aus dem Ersten Johannesbrief: «Wenn jemand die Güter dieser Welt hat und sein Herz vor dem Bruder verschliesst, den er in Not sieht, wie kann die Liebe Gottes in ihm bleiben?»

Papst Leo unternimmt einen Gang durch die Geschichte der Kirche, in dem er an verschiedenen Beispielen aufzeigt, wie sich Christinnen und Christen in der Nachfolge Jesu um Arme, Kranke und Gefangene gekümmert haben und dies noch immer tun. Klöster wurden gegründet, um Menschen zu pflegen oder ihnen durch Unterricht ein besseres Leben zu ermöglichen. Besonders ausführlich behandelt er die Begleitung von Migranten.

«Die Erfahrung der Migration begleitet die Geschichte des Volkes Gottes. Abraham bricht auf, ohne zu wissen, wohin er gehen wird; Moses führt das pilgernde Volk durch die Wüste; Maria und Josef fliehen mit dem Kind nach Ägypten. Christus selbst, ‹der in sein Eigentum kam, den die Seinen aber nicht aufnahmen› (vgl. Joh 1,11), hat als Fremder unter uns gelebt. Aus diesem Grund hat die Kirche in den Migranten immer die lebendige Gegenwart des Herrn erkannt, der am Tag des Gerichts zu denen, die zu seiner Rechten stehen, sagen wird: ‹Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen› (Mt 25,35).»

Unsere Antwort entscheidet über unsere Zukunft
Das Lehramt der letzten 150 Jahre biete eine wahre Fundgrube wertvoller Lehren über die Armen, so Papst Leo. Er erinnert an die Enzyklika Rerum novarum (1891) von Leo XIII. zur Arbeiterfrage oder an «Mater et Magistra» (1961), in der sich Johannes XXIII. für eine weltweite Gerechtigkeit einsetzte. Das Zweite Vatikanische Konzil stelle bezüglich der Frage der Armen ein «wesentlicher Meilenstein des kirchlichen Erkenntnisprozesses im Lichte der Offenbarung dar».

Die Liebe ist eine Kraft, die die Wirklichkeit verändert; sie ist die Quelle, aus der sich alles Bemühen, die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben und dies unverzüglich anzugehen, nährt. Der Pontifex wünscht sich, dass die Zahl der Politiker zunimmt, die fähig sind, «in einen echten Dialog einzusteigen, der sich wirksam darauf ausrichtet, die tiefen Wurzeln und nicht den äusseren Anschein der Übel unserer Welt zu heilen». Die «Diktatur einer Wirtschaft, die tötet», muss weiter angeprangert werden.

Das herrschende Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. «Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt». Es erscheine als vernünftige Entscheidung, die Wirtschaft so zu organisieren, dass vom Volk Opfer verlangt werden, um bestimmte Ziele zu erreichen, die für die Mächtigen von Interesse sind. «Unterdessen werden den Armen nur ‹Tropfen› versprochen, die so lange fallen werden, bis eine neue globale Krise sie wieder in die vorherige Situation zurückwirft.»

Sind die weniger Begabten keine Menschen? Haben die Schwachen nicht die gleiche Würde wie wir? Sind diejenigen, die mit weniger Möglichkeiten geboren wurden, als Menschen weniger wert und müssen sich damit begnügen, bloss zu überleben?, fragt Papst Leo. «Von der Antwort, die wir auf diese Fragen geben, hängt der Wert unserer Gesellschaften ab, und von ihr hängt auch unsere Zukunft ab. Entweder wir gewinnen unsere moralische und geistige Würde zurück oder wir fallen gleichsam in ein Schmutzloch.» Die Strukturen der Ungerechtigkeit müssen mit der Kraft des Guten erkannt und zerstört werden – durch einen Gesinnungswandel, aber auch mit Hilfe der Wissenschaften, der Technik und der Politik.

Umgang mit Armen als evangeliumsgemässe Garantie für eine treue Kirche
Für Papst Leo, der selbst lange in Peru lebte und arbeitete, stellt die Versammlung von Aparecida (2007) ein wesentliches Geschenk für den Weg der Weltkirche dar, indem die lateinamerikanischen Bischöfe deutlich machten, die vorrangige Option der Kirche für die Armen sei «im christologischen Glauben an jenen Gott implizit enthalten, der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich zu machen». Das Dokument betont die Notwendigkeit, Randgruppen als Subjekte anzusehen und nicht als Objekte der Wohltätigkeit. «Nur wenn wir den Armen so nahe kommen, dass Freundschaft entstehen kann, werden wir wahrhaft schätzen lernen, was den Armen von heute wichtig ist, wonach sie sich legitim sehnen und wie sie selbst ihren Glauben leben.»

Die Liebe zu den Armen ist ein wesentliches Element der Geschichte Gottes mit uns und «die evangeliumsgemässe Garantie für eine Kirche, die dem Herzen Gottes treu ist».

Die vorherrschende Kultur zu Beginn dieses Jahrtausends neigt gemäss Papst Leo stark dazu, die Armen ihrem Schicksal zu überlassen, «sie nicht für beachtenswert und noch weniger für schätzenswert zu halten». Nicht selten meinen wir, wir könnten nur dann glücklich werden, wenn wir ohne die anderen auskommen. Hier können die Armen für uns wie stille Lehrer sein, «die unseren Stolz und unsere Arroganz in die richtige Demut zurückführen».

Papst Leo warnt davor, sich in sich selbst zurückzuziehen. Manche Christen seien der Überzeugung, dass ihre Aufgabe allein darin bestehe, zu beten und die wahre Lehre zu verkünden, während die Regierung für das materielle und geistige Wohl der Armen zuständig sei. «Manchmal werden auch pseudowissenschaftliche Kriterien herangezogen, wenn etwa gesagt wird, dass der freie Markt von selbst zur Lösung des Problems der Armut führen werde.» Diese Auffassungen verleiten uns dazu, die Wirklichkeit mit oberflächlichen Kriterien zu betrachten, bar jedes übernatürlichen Lichts.

Die wichtigste Hilfe für einen armen Menschen besteht gemäss Papst Leo darin, ihm zu einer guten Arbeit zu verhelfen, damit er sich durch die Entfaltung seiner Fähigkeiten und durch seinen persönlichen Einsatz ein Leben verdienen kann, das seiner Würde besser entspricht. Wenn dies aktuell nicht möglich ist, so bleibt gemäss dem Pontifex die Almosengabe «eine notwendige Gelegenheit der Berührung, der Begegnung und der Empathie». Damit werden weder Behörden oder Institutionen von ihrer Verantwortung entbunden noch der legitime Kampf für Gerechtigkeit ersetzt. «Sie hält jedoch zumindest dazu an, innezuhalten und den Armen ins Gesicht zu schauen, sie zu berühren und etwas vom eigenen Besitz mit ihnen zu teilen.» Sowohl das Alte wie auch das Neue Testament loben das Almosengeben. Der heilige Johannes Chrysostomus soll geschrieben haben: «Die Almosengabe ist nämlich ein Flügel des Gebets. Wenn du deinem Gebet keine Flügel verleihst, wird es nicht fliegen» (Pseudo-Chrysostomus, Homilia de jejunio et eleemosyna, PG 48, 1060).

Papst Leo XIV. schliesst sein erstes Lehrschreiben mit den Worten: «Die christliche Liebe überwindet alle Schranken, bringt Fernstehende einander nahe, verbindet Fremde, macht Feinde zu Vertrauten, überwindet menschlich unüberwindbare Abgründe und gelangt in die verborgensten Winkel der Gesellschaft. Die christliche Liebe ist ihrem Wesen nach prophetisch, sie vollbringt Wunder, sie kennt keine Grenzen: Sie ist für das Unmögliche da. Die Liebe ist vor allem eine Art Lebenskonzept, eine Lebensweise. Eine Kirche, die der Liebe keine Grenzen setzt, die keine zu bekämpfenden Feinde kennt, sondern nur Männer und Frauen, die es zu lieben gilt, das ist die Kirche, die die Welt heute braucht.»
 

Die Apostolische Exhortatio «Dilexi te – Über die Liebe zu den Armen» im Wortlaut.


Redaktion


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Bemerkungen :

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    Daniel Ric 11.10.2025 um 10:22
    Ich finde es schade, dass die Aussagen des Papstes zum Thema Armut, wie bereits bei Papst Franziskus, als sozialistisch oder befreiungstheologisch betitelt werden. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass Jesus uns explizit aufgefordert hat, für die Armen zu sorgen und diese Bereitschaft, für die Armen einzustehen, bei seiner Rede über das Endgericht sogar als einziges Kriterium nimmt, ob jemand in den Himmel kommt (Mt 25, 31-46). Ich halte die Aussage von Herrn Meier für falsch, der Papst betreibe Sozialromantik. Ebenfalls falsch ist die Meinung, der "Kapitalismus" (wir leben ja in einem Mischsystem zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft, was ja seit 70 Jahren ganz gut funktioniert) sei verantwortlich für Fortschritt oder die Behebung von Missständen. Es ist immer der Mensch, der verantwortlich ist für Erfindungen und materiellen Reichtum, sowie auch der Mensch verantwortlich ist für Kriege und zivilisatorischen Niedergang. Der Papst appelliert wie sein Vorgänger an diese Verantwortung. Anstatt den Mahner anzugreifen, wäre es sinnvoller, sich zu überlegen, wo man konkret als Mensch für mehr Gerechtigkeit einstehen und die Nächstenliebe praktizieren kann.
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    A. Albisser 10.10.2025 um 22:10
    Es ist wieder einmal typisch: Kaum äussert sich ein Papst über Armut und darüber, dass man den Armen helfen soll – und zwar am besten, indem man ihnen Arbeit und Würde gibt – beginnen in der Schweiz das Klagen.
    Sofort heisst es, (natürlich nur durch die Blume) der Papst wolle „ans Geld“, und unzählige Kommentatoren, gerade auch auf Seiten wie SwissCath, verlieren sich in Diskussionen über die „der Papst will Sozialismus oder Befreiungstheologie“.

    Man streitet lieber darüber, wer noch „richtig katholisch“ ist und wer nicht, anstatt einfach zu tun, was das Evangelium verlangt: konkret helfen.

    Dabei wäre es gar nicht schwer. Auch in Schweizer Städten wie Zürich kann man Armen dienen – etwa bei einer Essensausgabe, mit einer Spende, oder indem man einem Menschen eine Arbeit gibt.
    Doch das ist genau das, was man hierzulande ungern tut: wirklich teilen.
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    Anton 10.10.2025 um 18:14
    Es lohnt sich effektiv, Dilexit te selber zu lesen. Es ist als Apostolisches Schreiben in erster Linie ein kircheninternes Schreiben, das nicht in erster Linie an die Welt gerichtet ist.
    Viel steht über die Liebe zur Armut, die christologisch begründet wird.
    Die Begriffe Kapitalismus und Sozialismus sucht man in diesem Schreiben vergebens. Es greift also zu kurz, wenn von einer Kapitalismuskritik geschrieben wird. Vielmehr werden Ideologien kritisiert, die die absolute Autonomie der Wirtschaft verteidigen. Siehe Nummer 92. Es wird also eine Form des Kapitalismus kritisiert, nicht aber unsere soziale Marktwirtschaft.
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    MT 10.10.2025 um 06:46
    Papst Leo XIV. spricht über soziale Gerechtigkeit und die Nähe zu den Armen. Das entspricht der katholischen Soziallehre – darf aber nicht mit politischem Sozialismus verwechselt werden. Der Staat hat die Aufgabe, durch Gesetze, soziale Sicherung das Gemeinwohl zu fördern – nicht aber, durch Zwangsumverteilung eine sozialistische Ordnung zu errichten. Ideologischer Sozialismus widerspricht dem christlichen Menschenbild und der Anerkennung des Privateigentums. Almosen, finanzielle Unterstützung und persönliche Hilfe für die Armen sind Akte freier Liebe – keine eigentliche Aufgabe des Staates.
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    Heinz Meier 09.10.2025 um 22:30
    Bei dieser Zusammenfassung entsteht der Eindruck von Sozialromantik. Armut und Hunger sind wie Kriege keine direkte Folge des Kapitalismus, sondern politisch gewollt. Der immer wieder gegeisselte Kapitalismus hat jenen technologischen Fortschritt geschaffen, mittels dessen Hunger und Armut jederzeit Abhilfe geschaffen werden können. Das schlechte Gewissen steckt nicht im System, sondern im menschlichen Herzen. Es scheint, dass die Ökonomie weiterhin die Achillesferse im päpstlichen Denken bleibt: sehr leicht verwundbar….
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    Stefan Fleischer 09.10.2025 um 19:31
    Man sollte vermutlich den ganzen Text gelesen haben. Diese Zusammenfassung tönt meines Erachtens sehr nach Befreiungstheologie. Die Erlösungstheologie fehlt weitgehend. Meines Wissens aber gehört auch diese immer noch zu unserem ganzen Glauben, auch wenn sie heute auch andernorts sehr vernachlässigt wird.
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      Martin Meier-Schnüriger 10.10.2025 um 16:46
      Dieser Aussage kann ich so nicht zustimmen. "Befreiungstheologie", wie wir sie etwa bei Leonardo Boff oder Ernesto Cardenal gesehen haben, bedeutet explizit auch den Einsatz von Gewalt bei der Bekämpfung der Armut. Davon ist im päpstlichen Schreiben keine Rede. Ausserdem: Im Zusammenhang mit der Diakonie, dem Dienst an den Armen, die Erlösungstheologie in den Vordergrund zu stellen, könnte leicht mit "Vertröstungstheologie" verwechselt werden. Man verstehe mich nicht falsch: Die primäre Aufgabe der Kirche ist es, den Menschen den Weg zum Himmel zu zeigen. Doch, wie es schon im Jakobusbrief heisst: "Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung sind und ohne das tägliche Brot und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen - was nützt das?" (Jak 2, 15-16) Liturgie, Pastoral und Diakonie sind die drei Säulen, auf denen jegliches kirchliche Wirken beruht. Man sollte nicht die eine gegen die andern ausspielen. In vorliegenden Schreiben geht es um die Diakonie; Papst Leo wird sich - da bin ich mir sicher - auch mit den andern beiden Säulen noch befassen.
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        Stefan Fleischer 10.10.2025 um 18:35
        Da habe ich mich wohl nicht klar genug ausgedrückt. Aber für mich liegt der grundlegende Unterschied zwischen Befreiungstheologie und Erlösungstheologie nicht in der Frage der Gewaltanwendung, sondern im verfolgten Ziel. Die Befreiungstheologie bemüht sich primär um das irdische Heil des Menschen, die Erlösungstheologie um das ewige. Wahrscheinlich hätte ich von menschzentrierter und gottzentrierter Theologie sprechen müssen.