Praktizierter Islam in einer Schweizer Grossstadt (Bild: Niklaus Herzog)

Kommentar

Umsturz in Syrien: Ein ver­wei­ger­ter Hand­schlag als Menetekel

Nach der spon­ta­nen Begeis­te­rung über den Sturz des ver­hass­ten Dik­ta­tors Assad macht sich bei reli­giö­sen Min­der­hei­ten zuneh­mend Ernüch­te­rung breit. Skep­sis und Angst neh­men zu. Zu offen­sicht­lich sind die Signale der neuen Macht­ha­ber, eine suk­zes­sive Isla­mi­sie­rung des gan­zen Lan­des anzustreben.

Mit Erleichterung, gar mit Euphorie reagierte das Gros der syrischen Bevölkerung auf den Sturz des verhassten Assad-Regimes. Nur allzu verständlich, wenn man sich die nun ans Tageslicht gekommenen Schreckensbilder der über das ganze Land verstreuten Folterkammern vor Augen hält. So zeigten im berüchtigtsten Gefängnis in der Nähe von Sardnoya Vertreter der syrischen Zivilorganisation «Weisshelme» westlichen Regierungsvertretern eine Presse, mit der Regimegegner zu Tode gequetscht wurden. Die Assad-Diktatur konnte sich nur durch eine exzessive Drogenproduktion solange an der Macht halten. In zahlreichen Fabriken wurde das synthetische Aufputschmittel Captagon hergestellt. Mit dem Export dieser Droge verdiente Assad’s Syrien jährlich bis zu 40 Milliarden Dollar – das Amphetamin war das wichtigste Exportprodukt des Landes.

Hinweggefegt wurde die Diktatur von der islamistischen Rebellen-Miliz Hayat Tahir al-Sham (HTS) unter ihrem Führer Ahmed al-Sharaa. Sozusagen über Nacht: Die Weltöffentlichkeit wurde von diesem Umsturz völlig überrascht, die Geheimdienste Russlands und Ägyptens inklusive. Das Land am Nil hat soeben seinen Geheimdienstchef entlassen. Die Regierung fürchtet, durch einen Aufstand der Muslimbruderschaft das gleiche Schicksal zu erleiden wie die ehemaligen Machthaber in Syrien.

Nun greift nach der spontanen Begeisterung über den Sturz Assads immer mehr Ernüchterung um sich, vor allem unter den religiösen Minderheiten. Die Skepsis, ja Furcht ist wohlbegründet: Wird da - biblisch gesprochen – nicht der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben? Die Anhaltspunkte, welche diese Befürchtungen hervorrufen, mehren sich.

Die Visitenkarte der neuen Machthaber

Da ist zunächst die Visitenkarte der neuen Machthaber zu nennen. Die UNO führt HTS auf ihrer Liste der Terrororganisationen auf, ihre Vorgängerorganisation, die dschihadistische Al-Nusra-Front, hatte Massaker an Andersgläubigen verübt. Der Anführer der HTS, Ahmed al-Sharaa, steht auch in der Europäischen Union auf Sanktionslisten. Er selbst bezeichnet sich als «geläuterten Ex-Terroristen von Al-Qaida».

Irgendwie folgerichtig und beunruhigend zugleich sind die Signale des neuen Regimes: Freie Parlamentswahlen sollen erst in vier Jahren stattfinden. Das dieser Vertröstung auf eine ferne Zeit zugrundeliegende Kalkül liegt auf de Hand: Es sollen während dieser Zeitspanne Fakten, islamische Fakten geschaffen und damit die Weltöffentlichkeit und insbesondere die religiösen Minderheiten im Lande dannzumal vor vollendete Tatsachen gestellt werden.

«Wer schützt jetzt Christen vor den Islamisten? ‹Nur Gott allein›»: so lautet der Titel einer Reportage der Pendlerzeitung 20 Minuten. Eine Journalistin hat Maalula besucht, eine Ortschaft 50 km nördlich von Damaskus gelegen. Sie ist eine der ältesten christliche Gemeinden der Welt, noch heute wird im Alltag Aramäisch gesprochen, die Sprache von Jesus Christus. Zu den Heiligtümern von Maalula gehören das griechisch-orthodoxe Frauenkloster St. Thekla und das griechisch-katholische, melkitische St. Sergius-und-Bacchus-Kloster. Hier hatten die Islamisten 2013 Ikonen, Bibeln, Messbücher, Messgewänder und Gebetsbücher zerstört. Sie stahlen die wertvollsten sakralen Gegenstände und verscherbelten sie mithilfe westlicher Hehler auf illegalen Kunstmärkten. Die spirituelle Bedeutung Maalulas war auch der Grund, weshalb die Dschihadisten des Islamischen Staates diese Ortschaft verwüsteten.

Die wenigen dort noch lebenden Christen (heute noch rund tausend von einst 5000) sind mit Angst und Sorge erfüllt. Gegenüber 20 Minuten weiss Ladenbesitzer Fasih über leidvolle Erfahrungen zu berichten: «Der Islamsiche Staat hat unseren Laden 2013 in Schutt und Asche gelegt, auch weil wir Wein verkauften. Wir mussten fliehen und nach der Rückkehr alles neu aufbauen.»

Wie der ‹Blick› gestützt auf CNN-Quellen berichtet, deutet auch der neue Lehrplan auf eine Islamisierung hin. Da wird der Begriff «Pfad des Guten» durch den Begriff «Pfad des Islams» ersetzt, statt fürs Vaterland soll für Allah gestorben werden und statt von denjenigen, die «verflucht und vom rechten Weg abgekommen» sind, ist nun plötzlich von «Juden und Christen» die Rede.

Passgenau in dieses Bedrohungsszenario fügt sich der Eklat rund um den verweigerten Handschlag für die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock, die zusammen mit dem französischen Aussenminister Jean-Noel Barrot im Auftrag der Europäischen Union kurz nach Neujahr Damaskus besuchte. Der neue Machthaber Ahmed al Sharaa begrüsste den französischen Aussenminister per Handschlag, verweigerte diesen aber der neben ihm stehenden deutschen Aussenministerin.

Der verweigerte Handschlag und seine Interpretationen

Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten. Annalena Baerbock spielte den Vorgang nach Kräften herunter, um ja nicht als Blamierte, als Blossgestellte dazustehen. Wichtig sei das Signal der neuen Machthaber, die deutlich gemacht hätten, wie wichtig es ihnen sei, «auch die Frauen in den politischen Entscheidungsprozess einzubeziehen» (Neue Zürcher Zeitung vom 4. Januar 2025).

Auch 20 Minuten wollte die Deutungshoheit über diesen Vorfall nicht dem gemeinen Volk überlassen. Mit dem Beitrag «Affront oder Respekt? Das bedeutet der verweigerte Handschlag» versucht die Pendlerzeitung ihre Leserschaft aufzuklären. Als erster meldet sich Islamversteher Reinhard Schulze von der Universität Bern zu Wort. Es sei insofern kein Affront, als die Situation für die deutsche Aussenministerin nicht überraschend gekommen sei. Mehr noch: In geradezu halsbrecherischer Dialektik deutet Schulze die Verweigerungshaltung in ein positives Attribut des neuen Machthabers um – Ahmed al Shabaa stelle damit seine Frömmigkeit in den Dienst der Integration: «Er will damit seine Akzeptanz in der sehr heterogenen Szene der ehemaligen Oppositions-Milizen wie in der syrischen Gesellschaft stärken.» Ob das die religiösen Minderheiten, insbesondere die christliche, auch so sehen?

Elham Manea von der Universität Zürich hält dagegen: «Hinter dem verweigerten Handschlag steht das reaktionäre Weltbild der Fundamentalisten, dass Frauen und Männer nicht gleichwertig sind und sich in der Öffentlichkeit nicht gemeinsam zeigen sollten.» Jede Berührung einer Frau werde dabei als potentielle Versuchung taxiert. Islamexpertin Seyran Ates ergänzt gegenüber der Bild-Zeitung: «Die Vorstellung, dass sich Menschen die Hand geben, ohne sexuelle Gedanken zu haben, existiert in der Welt der Islamisten nicht.»

Damit wird ein neuralgischer Punkt eines Frauenbildes angesprochen, das sich in der islamischen Welt zunehmend ausbreitet. Die Verweigerung eines jeden Körperkontaktes zwischen Frau und Mann ist in diesen islamischen Kreisen nur im Sinne einer Mindestanforderung zu verstehen. Gerade erst vor zwei Tagen hat das Kampagnennetzwerk Avaaz eine Petition gestartet, um darauf aufmerksam zu machen, dass in einem Nachbarland Syrien, nämlich im Irak, im Parlament Bestrebungen im Gang sind, Kinderehen zu legalisieren sowie Frauen ihre Rechte auf Scheidung, Sorgerecht und Erbschaft zu entziehen.

Da stellt sich unweigerlich die Frage, warum tonangebende Kräfte im Westen vor diesem Menetekel die Augen verschliessen. Ist es Gleichgültigkeit, Opportunismus, Feigheit oder gar Selbsthass? Das Phänomen ist nicht neu. Als Aserbeidschan 2023 die christliche Bevölkerung aus Berg Karabach vertrieb, reagierte der Westen ausgesprochen desinteressiert und liess die dort seit Jahrhunderten ansässigen Armenier im Stich. Intakte Beziehungen zu dem über grosse Erdöl- und Erdgasvorkommen verfügenden Aserbeidschan waren und sind wichtiger.

Als eine Art «Menetekel en miniature» hat der Unterzeichnete einen Vorfall empfunden, der sich im November vergangenen Jahres im rege frequentierten Café einer grossen Schweizer Stadt zugetragen hat. Eine junge Muslimin breitet plötzlich mitten im Couloir ihren Gebetsteppich aus, um darauf ihr Freitagsgebet zu verrichten. Den anwesenden jungen Frauen mit ihren Kinderwagen war es während längerer Zeit nicht mehr möglich, das Café zu verlassen (vgl. Titelbild). Der Ladenbesitzer liess die Muslimin trotz Protesten gewähren.

Eine vielversprechende Antwort

Wie soll der Westen auf die offensichtliche Bedrohung seiner Identität und seiner Werte in angemessener Weise reagieren? Die ursprünglich aus Somalia stammende Ayaan Hirsi Ali hat in einem im Magazin 1/2025 von Zukunft CH veröffentlichten Beitrag einen vielversprechenden Weg aufgezeigt. Sie tut dies anhand ihres eigenen Lebensweges, der sie vom Islam zum Atheismus hin zum Christentum führte. Zu Beginn fühlte sie sich von den Versprechungen der Muslimbrüder in den Bann gezogen: Im Diesseits als Märtyrer für die Sache Allahs zu sterben und dafür mit dem Paradies belohnt zu werden. Gerade die radikalen Forderungen, weltlichen Verlockungen wie Musik, Tanz und Kinobesuche abzuschwören, auf westliche Mode und Make up zu verzichten und sich stattdessen für Ideale aufzuopfern, übten eine grosse Anziehungskraft auf die junge Frau aus. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York lösten ein Umdenken aus. Angesichts dieser und anderer Greueltaten begann ihr die These des Atheisten Bertrand Russell einzuleuchten, dass die ganze Religion auf Angst beruhe. Er schien ihr zum Nulltarif einen Ausweg aus einem unerträglichen Leben der Selbstverleugnung und der Schikanen gegenüber anderen Menschen zu ermöglichen.

Doch schliesslich gelangte sie zur Einsicht: Die westliche Zivilisation wird von drei verschiedenen, aber miteinander verbundenen Kräften bedroht: dem Wideraufleben des autoritären Verhaltens und der Expansion von Grossmächten wie der Kommunistischen Partei Chinas und Wladimir Putins Russland, dem Aufstieg des globalen Islamismus, der eine riesige Bevölkerung gegen den Westen zu mobilisieren droht, und der viralen Verbreitung der woken Ideologie, welche die Moralvorstellungen der nächsten Generation auffrisst. Dabei genügt es nicht, so Ayaan Hirsi Ali, darauf bloss mit säkularen Mitteln, sprich mit militärischen, wirtschaftlichen und technologischen Anstrengungen zu reagieren. Ebenso unzureichend ist ihr zufolge der Versuch, sich mit der «auf Regeln basierenden liberalen internationalen Ordnung» zufrieden zu geben.

Die einzig glaubwürdige Antwort liegt ihrer Auffassung zufolge in unserem Bestreben, das Erbe der jüdisch-christlichen Tradition zu revitalisieren. In diesem Sinne bekennt sie: «Ich habe mich auch deshalb dem Christentum zugewandt, weil ich das Leben ohne spirituellen Trost letztlich als unerträglich, ja fast als selbstzerstörerisch empfand. Der Atheismus konnte eine einfache Frage nicht beantworten: Was ist der Sinn und Zweck des Lebens.»

Für Ayaan Hirsi Ali ist schliesslich klar, dass wir vor diesem nihilistischen Hintergrund die woke Ideologie nicht wirksam bekämpfen können, wenn wir nicht unsere jüdisch-christliche Zivilisation verteidigen. Und wir können den Islamismus nicht mit rein säkularen Mitteln bekämpfen: «Um die Herzen und Köpfe der Muslime hier im Westen zu gewinnen, müssen wir ihnen mehr bieten als Videos und Tik tok.»

 


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


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    Daniel Ric 11.01.2025 um 07:58
    Ich finde es sehr wichtig, auf das Schicksal der Christen in Syrien hinzuweisen. Persönlich kann ich nicht beurteilen, was von den Geschichten, die uns nun in den westlichen Medien über Assad präsentiert werden, wahr ist. Sicherlich hat er die Unterstützung des grossen Teils des Volks verloren, da er es nach dem Bürgerkrieg verpasst hat, das Land zu einen. Deshalb ist ein Wechsel grundsätzlich zu befürworten. Es ist aber klar, dass dieser Wechsel vor allem den geopolitischen Interessen einiger Länder dient, allen voran Israel und der Türkei. Was den radikalen Islamismus anbelangt, so muss hier aber eindeutig festgehalten werden, dass dieser durch den Westen gefördert wurde, da dieser lange Zeit seinen Interessen diente. Ich erinnere nur an den Stutz Mossadegh im Iran (nachdem man den Iran im ersten und zweiten Weltkrieg besetzt hat und eine Hungersnot im ersten Weltkrieg Millionen von Iranern sterben liess) und die Unterstützung der Mudschahedins in Afghanistan. Wie auch im Irakkrieg oder beim Sturz Gaddafis (einer der grössten Skandale der letzten 50 Jahre) standen nie irgendwelche humanitären Interessen im Vordergrund, sondern reine Machtpolitik. Diese Doppelmoral ist von vielen Ländern auf der Welt erkannt worden, was dazu führt, dass die Reputation des Westens am Boden liegt. In dieser Situation ist es für uns Christen wichtig, klarzumachen, dass man den Westen, wie er sich seit 200 Jahren präsentiert, nicht mit dem Christentum gleichsetzen kann. Genauso wenig kann man die jetzige Politik Israels mit dem Judentum gleichsetzen. Der Selbsthass des Westens, der im Artikel angesprochen wird, kommt meines Erachtens zustande, weil wir es verpassen, differenziert auf die eigene Kultur zu blicken. Wir neigen zu dem einen oder anderen Extrem, indem wir entweder alles gutheissen wollen, was die westliche Kultur hervorgebracht hat oder alles ablehnen. Ist hier nicht die Frucht des Protestantismus (vor allem calvinistischer Prägung) zu spüren, bei dem ein Mensch oder eine ganze Kultur entweder zu den Auserwählten oder zu den Verdammten gehört? Ein Katholik erkennt hingegen, dass ein Mensch oder eine Kultur weder ganz gut oder ganz schlecht ist, sondern sich immer dazwischen bewegt. Wenn wir die christliche Kultur wieder aufblühen lassen wollen, müssen wir jede Doppelmoral, welche heute den Westen so prägt und eine tiefe Abneigung in anderen Kulturen gegenüber uns erwachsen lässt, ablegen und uns fragen, wie wir die Gesellschaft und internationale Ordnung im christlichen Sinne prägen können. Wir müssen damit anfangen, indem wir das menschliche Leben nicht geopolitischen Interessen opfern, das Leben jedes Menschen (unabhängig von seiner Herkunft und seiner Religion) gleich achten und Macht nicht zur obersten Richtschnur des Handelns machen. Die oberste Richtschnur sind Gottes Gebote der Nächsten- und Feindesliebe.
  • user
    Michael Dahinden 10.01.2025 um 17:39
    Ein ernstes Thema. Die Frage wird bleiben, wo wart ihr Mächtigen, insbesondere in den Jahren 1995-2015, wo war da euer Wille und euer Engagement. Eine Politikerin auf einer der wenigen wirklich freien Internetseiten hat ein Plakat veröffentlicht: "Ihr werdet nicht sagen können >>wir haben es nicht gewusst<<. Denn: Wir haben es euch gesagt."