In der St. Stephans-Basilika wird sich Papst Franziskus mit Bischöfen, Priestern und weiteren kirchlichen Mitarbeitern treffen. (Bild: Marc Ryckaert (MJJR) / Wikimedia Commons)

Weltkirche

Ungarn: Was sich die Katho­li­ken vom Papst­be­such erhoffen

Ab die­sem Frei­tag weilt Papst Fran­zis­kus zu einem drei­tä­gi­gen Pas­to­ral­be­such in Ungarn. Er steht unter dem offi­zi­el­len Leit­wort «Chris­tus ist unsere Zukunft». Die Ver­hee­run­gen der sowje­ti­schen Besat­zungs­zeit wir­ken heute noch nach. Die aktu­el­len Her­aus­for­de­run­gen gerade auch infolge des rus­si­schen Über­falls auf das Nach­bar­land Ukraine sind enorm. Mit ihrer Tat­kraft und Zuver­sicht erweist sich die Katho­li­sche Kir­che als ein unver­zicht­ba­rer Fak­tor beim sozia­len und mora­li­schen Wie­der­auf­bau des Landes.

Infolge des Gesundheitszustandes von Papst Franziskus wird sich sein Besuch auf die Hauptstadt Budapest beschränken. Dort wird ihn Kardinal Péter Erdö als Erster begrüssen. Der Erzbischof von Esztergom-Budapest und somit Primas von Ungarn zählt zu den profiliertesten Kirchenvertretern in Mittel- und Osteuropa. Das Konkordat zwischen dem postkommunistischen Ungarn und dem Heiligen Stuhl, das der Kirche heute wieder ein weitgehend ungehindertes Engagement im Bildungs- und Sozialwesen garantiert, trägt auch seine Handschrift. Zur Deckung der materiellen Bedürfnisse wird ein als «Kirchensteuer» bezeichneter, de facto aber freiwilliger Beitrag erhoben, den der Staat durch finanzielle Zuschüsse aufstockt.

Der sprachbegabte Primas ist vor allem ein Mann des Wortes und der Wissenschaft, nicht der grossen Öffentlichkeit. Über die Gesellschaft seiner ungarischen Heimat spricht Erdö schnörkellos: Der Kommunismus habe den «bürgerlichen Anstand ausgelöscht»; die freiwillige Befolgung von Rechtsnormen sei sehr niedrig.

In der Tat: Sein Vorgänger und ehemaliger Primas von Ungarn, Kardinal József Mindszenty (1892–1975), würde diesen Satz mehr als nur unterstreichen. Bereits nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie wurde er während der kurzlebigen kommunistischen Räterepublik ins Gefängnis geworfen. Nach seiner Befreiung errichtete er als Stadtpfarrer von Zalaegerszeg mehrere Schulen und leistete Pionierarbeit in der Jugendpastoral. Auf seine Verdienste als vorbildlicher, unerschrockener Seelsorger aufmerksam geworden, ernannte ihn Papst Pius XII. am 4. März 1944 zum Bischof. Am 15. September 1945 folgte seine Ernennung zum Erzbischof von Esztergom-Budapest und damit zum Primas von Ungarn mit anschliessender Aufnahme ins Kardinalskollegium. Vorgängig hatte er zusammen mit anderen ungarischen Bischöfen gegen die Verschleppung von Juden in die Vernichtungslager öffentlich protestiert, worauf ihn das nazihörige ungarische Marionettenregime ins Gefängnis steckte. Als nach der Machtübernahme der Kommunisten die Deutschen aus Ungarn vertrieben wurden, erhob Kardinal Midszenty erneut öffentlich Protest. Es war just dieser ausgesprochene, unbeugsame Gerechtigkeitssinn, der ihn bei den Kommunisten – weil dadurch moralisch unangreifbar – besonders verhasst machte. Als er gegen die Konfiszierungen der über 3100 katholischen Schulen und die generelle Unterdrückung der Religionsfreiheit seine Stimmer erhob, schlug die Staatsmacht endgültig zu. Am 26. Dezember 1948 wurde er verhaftet und durch wochenlange Folter und Verabreichung von Drogen für einen stalinistischen Schauprozess präpariert und zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Zuge des legendären ungarischen Volksaufstandes wurde er aus dem Gefängnis befreit und im Triumphzug nach Budapest geführt. Kurz vor dem Ende der Niederschlagung des Volksaufstandes flüchtete er in die US-amerikanische Botschaft.
 


Nach einigen Jahren musste er feststellen, dass ihn die USA infolge der angepeilten Entspannungspolitik loswerden wollten. In die gleiche Richtung zielte die verhängnisvolle Ostpolitik des Vatikans unter Papst Paul VI.. Unter dessen massivem Druck ging Kardinal Mindszenty im Oktober 1971 nach Wien ins Exil. Von dort aus besuchte er ungarische Exilgemeinden auf mehreren Kontinenten und veröffentlichte seine Memoiren («Erinnerungen»), in denen er auf erschütternde Weise seinen Leidensweg und denjenigen seines Volkes schildert. Um die Beziehungen zum kommunistischen Ungarn weiter zu «normalisieren», verlangte der Papst von Kardinal Mindszenty dessen Rücktritt als Erzbischof von Esztergom-Budapest. Als Kardianl Mindszenty dieses Ansinnen zurückwies, enthob ihn der Papst seines Amtes. Nach dem Rückzug der Sowjettruppen wurden seine sterblichen Überreste nach Ungarn überführt. Auf seinem Grabmal steht die Inschrift «Vita humiliavit – mors exaltavit»: Das Leben hat ihn erniedrigt, der Tod hat ihn erhöht. Posthum hat ihn die ungarische Regierung völlig rehabilitiert. Im Jahre 1993 wurde von Michael von Habsburg-Lothringen der Seligsprechungsprozess initiiert.
Die Anforderungen, die an den geistig-moralischen Wiederaufbau gestellt werden, sind angesichts des vom Kommunismus hinterlassenen Trümmerfeldes enorm.

Kardinal Erdö konstatiert in Ungarn «mehr religiöse Trockenheit» als in anderen früher sozialistischen Staaten Mitteleuropas. Entsprechend betont der Kardinal immer wieder die Bedeutung des Christentums als gelebte Religion. Dem katholischen Portal «Cruxnow» sagte er im Vorfeld des Papstbesuchs, die Ungarn hätten zwar «über ein Jahrtausend die westliche christliche Kultur aufgenommen; aber sie grenzten und grenzen direkt an den osteuropäischen Kulturraum und gehörten in bestimmten Epochen zum türkischen Reich».
 

Erdös Vater war ein katholischer Ungar aus dem heute rumänischen, orthodox und protestantisch geprägten Siebenbürgen; seine Mutter stammte aus dem heutigen Grenzland zur Slowakei. Bis heute sei es dumm, einen Osteuropäer nach seiner Nationalität zu fragen, sagt der Primas – denn über Jahrhunderte sei es dort gang und gäbe gewesen, auch über ethnische Grenzen hinweg zu heiraten. Auch heute gelte es, über Grenzen hinweg zu leben und zu denken.

Hoffnung auf Orientierung und Stärkung im Glauben
Der Vorsitzende der Ungarischen Bischofskonferenz, Andras Veres, sieht die Gesellschaft seines Landes inmitten eines Prozesses von Säkularisierung und Neuformierung des Religiösen, ähnlich wie in anderen Ländern. «Auch die katholische Kirche in Ungarn befindet sich in einem radikalen Wandel, der sowohl negative als auch positive Züge aufweist», sagte der Bischof von Györ im Interview der Wiener Presseagentur «Kathpress».
In kommunistischer Zeit seien zwei Generationen praktisch ohne religiöse Erziehung aufgewachsen, was freilich auch deren Kinder betreffe. Die 30 Jahre seit der politischen Wende hätten «nicht ausgereicht, um uns in der Weitergabe des Glaubens zu stärken», räumte der Geistliche ein. Zudem habe ein relativer gesellschaftlicher Wohlstand viele Menschen von Gott und der Kirche entfernt. «Dieser doppelte Effekt hat zu einer starken Säkularisierung geführt.»

Zugleich sieht Veres in der aktuellen Situation Positives: «Wir freuen uns, dass die spirituellen Bewegungen und Pfarrgruppen durch eine bewusste missionarische Tätigkeit Ergebnisse erzielen können.» Auch die wieder gestiegene Zahl junger Menschen, die an kirchlichen Schulen ihre Ausbildung machten, gebe Hoffnung. Der Bischof hob überdies die Freiheit der Kirche in Ungarn hervor. «Heute können wir ohne Probleme unseren Glauben zum Ausdruck bringen. Wir können in der Kirche und auch ausserhalb, etwa für Schüler, unsere religiösen Programme organisieren. Das war früher nicht so.»

Der erste Besuch von Papst Franziskus in Ungarn hatte nur wenige Stunden gedauert: Er nahm im September 2021 an der Schlussmesse des Eucharistischen Weltkongresses teil. Die erneute Papst-Visite sei für die Ungarn «eine grosse Ehre», so Veres. Nicht nur Katholikinnen und Katholiken, auch viele Menschen anderer Konfessionen und sogar Nichtreligiöse freuten sich auf Franziskus. «Meine grösste Hoffnung ist, dass es ihm gelingen wird, uns Ungarn Antworten und Leitlinien zu geben, die uns helfen, unseren Glauben zu stärken.» Auch hoffe er, so Veres, «dass er in dieser äusserst verwirrten und verletzten Situation in Europa den Gläubigen und Nichtgläubigen gleichermassen Orientierung und Anleitung geben wird».
 


Crista Schlegel, eine aus Ungarn stammende, in der Pfarrei St. Laurentius in Winterthur tatkräftig wirkende Katholikin, erwartet vom Papstbesuch wegweisende Impulse. Sie hofft vor allem, dass das Leitwort des Papstbesuchs: «Christus ist unsere Zukunft» auf grosse und nachhaltige Resonanz stossen wird. Denn nur auf dieser Basis könne die Sehnsucht der Bevölkerung nach Freiheit und Sicherheit auf lange Sicht gesichert werden.

Regierung und Katholische Kirche stimmen in vielen Punkten überein
Der Ministerpräsident von Ungarn, Viktor Orbán, ist ein konservativer Protestant, der die Kirchen des Landes finanziell massiv unterstützt. Zwischen ihm und der Ungarischen Bischofskonferenz gibt es Übereinstimmungen in vielen Bereichen. So begrüssen die katholischen Bischöfe auch die Familienförderung unter Orbán ausdrücklich. Eltern mit drei und mehr Kindern erhalten erhebliche Zuschüsse und Steuerbefreiungen. Das Modell ist so attraktiv, dass ausgewanderte Familien in die ungarische Heimat zurückkehren. Konsens zwischen Regierung und Bischöfen gibt es auch bei der Politik hinsichtlich des Verbots der Werbung für gleichgeschlechtlichen Sex und das gesetzliche Nein zur «Ehe für alle». Auch der restriktiven Flüchtlingspolitik Orbán haben die Bischöfe nie widersprochen.

Spannend ist auch, wie sich der Papst und Orbán zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine äussern werden. Ungarns Vatikanbotschafter Eduard Habsburg erklärte unlängst, Orbán und der Papst seien die Einzigen, die bei diesem Thema an erster Stelle nicht vom Krieg, sondern von Frieden sprächen.

Tatsächlich verfolgen beide – aus unterschiedlichen Motiven – eine andere Politik gegenüber Russland und der Ukraine als die meisten Regierenden in Europa. Orbán, der sich als Anwalt der grossen ungarischen Minderheit in der Ukraine sieht, hält sich mit Kritik und Sanktionen gegen Moskau wohlweislich zurück – auch wenn er den Angriffskrieg der Russen klar verurteilt hat. Denn in der Energieversorgung ist Ungarn fast komplett von Russland abhängig; auch das erklärt die Zurückhaltung der Regierung in Budapest.

Orbán war auch der Einzige in der EU, der Sanktionen gegen Russlands Patriarchen Kyrill I. abgelehnt hat. An diesem Punkt könnten sich Interessen der vatikanischen und der ungarischen Aussenpolitik treffen. Möglich, dass Orbán und Franziskus von Ungarn aus einen gemeinsamen Friedensappell in Richtung Kiew und Moskau lancieren werden. Das wäre ein Novum für den Papst, der solche Aufrufe sonst nur gemeinsam mit anderen religiösen Führern verfasst hat.
 

Die Geschichte Ungarns ist eng mit der katholischen Kirche verknüpft. Der heiliggesprochene König Stephan I. (997–1038) begründete nicht nur den ungarischen Staat, sondern auch zehn Bistümer und mehrere Benediktinerabteien. Seit der Neugestaltung der kirchlichen Strukturen 1993 gibt es aktuell 13 katholische Bistümer (davon 4 Erzbistümer), zudem ein Apostolisches Exarchat für Katholiken des byzantinischen Ritus und Gläubige der armenisch-katholischen Kirche.
In kommunistischer Zeit – nach dem Zweiten Weltkrieg – wurden die Kirche und ihre Mitglieder teils scharf verfolgt, überwacht und diskriminiert; Religionsausübung war auf die kirchlichen Gebäude beschränkt. Von den zuvor mehr als 10 000 Ordensleuten konnten nur einige Hundert ihre Arbeit weiterführen.
Aktuell zählt Ungarn rund 9,7 Millionen Einwohner. Bei der letzten Volkszählung (2011) bekannten sich 39 Prozent zur Katholischen Kirche, 11,6 Prozent zum Calvinismus und 2,2 Prozent zur Lutheranischen Kirche.


KNA/Redaktion


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