Verena Diener. (Bild: http://www.parlament.ch via Wikimedia Commons)

Kommentar

Verena Die­ner – ein per­sön­li­cher Nachruf

Das poli­ti­sche Wir­ken von Verena Die­ner hin­ter­lässt weit über ihren Tod hin­aus Spu­ren im schwei­ze­ri­schen Gesund­heits­we­sen. Im Fol­gen­den soll das weg­wei­sende Wir­ken die­ser aus­ser­ge­wöhn­li­chen Per­sön­lich­keit von einem ehe­ma­li­gen Mit­ar­bei­ter nach­ge­zeich­net werden.

Am 28. Juni 2024 ist Verena Diener, die schweizweit bekannteste und einflussreichste Gesundheitspolitikerin, im Alter von 75 Jahren gestorben. Sie war «ein wenig stur», titelte die «Neue Zürcher Zeitung» in ihrem Nachruf vom 6. Juli, um im nachfolgenden Fliesstext gleich einer Selbstkorrektur anheimzufallen: «Verena Diener konnte sehr stur sein.» Was gilt nun, liebe NZZ: «ein wenig stur» oder «sehr stur»?. Nichts von alledem! Doch dazu später.

Verena Diener verdankte ihre steile politische Karriere der emotional aufgeheizten politischen Atmosphäre rund um das Waldsterben Ende der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts, das erstmals breite Kreise der Bevölkerung für ökologische Belange sensibilisiert hatte. In den damals sozusagen matchentscheidenden Debatten der «Arena»-Sendungen des Schweizer Fernsehens bewies sie sehr rasch ihr Doppeltalent: die medial überaus gekonnte Selbstinszenierung in Kombination mit der glaubwürdigen Vertretung zeitgeistaffiner, sprich ökologischer Postulate.

1995 wurde sie Regierungsrätin des Kantons Zürich. Sachlogisch gesehen hätte ihr als ausgebildeter Primarlehrerin eigentlich die Bildungsdirektion zugestanden. Stattdessen musste sie mit der Gesundheitsdirektion vorliebnehmen. Die bürgerlichen Vertreter im Regierungsrat hofften insgeheim, sie würde sich in diesem «Haifischbecken» (NZZ) die Finger verbrennen. Doch sie sollten sich irren, gewaltig irren!

Ein politisches Naturtalent
Schon früh erkannte sie die kapitale Bedeutung einer ethisch und wissenschaftlich einwandfreien Forschung für innovative Medikamente und Medizinprodukte sowohl für die Volkswirtschaft als Ganzes wie auch für das Gesundheitswesen im Besonderen. Immerhin ist die pharmazeutische Industrie die wichtigste Exportbranche der Schweiz.
Im Vorgriff auf das am 1. Januar 2002 in Kraft getretene eidgenössische Heilmittelgesetz schuf sie die legislatorische Voraussetzung für die Etablierung einer kantonalen Ethikkommission, die allgemein für die Beratung in gesundheitsethischen Fragen und vor allem für die Bewilligung aller klinischen Versuche mit Arzneimitteln und Medizinprodukten zuständig sein sollte.

Auf die öffentliche Ausschreibung eines Geschäftsführers dieser kantonalen Ethikkommission habe ich mich gemeldet, aus echtem Interesse, aber auch einfach als Versuchsballon, rechnete ich mir doch infolge meiner «schwarzen Biographie» keine grossen Chancen aus (Notar beim Interdiözesanen Schweizerischen Kirchlichen Gericht, Geschäftsführer der Nachrichtenagentur KIPA, Chefredaktor von «Christian Solidarity International»). Zu meiner Überraschung erhielt ich den Zuschlag. Mitgespielt haben dürfte dabei auch ihr freikirchlich-affiner Hintergrund.

Offenheit und Interesse gegenüber ebenso oft verdrängten wie unausweichlichen ethisch-weltanschaulichen Fragestellungen (Stichwort «Sterbehilfe») zeichneten sie während ihrer gesamten politischen Tätigkeit aus. Ich glaube sagen zu dürfen, dass wir beide das gegenseitige Ja aller gelegentlichen, unvermeidlichen Dissonanzen zum Trotz nie bereut haben, im Gegenteil.

Eine Herkulesaufgabe
Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit landete eine Herkulesaufgabe erster Ordnung auf ihrem Tisch. Die exponentiell steigenden Kosten im Gesundheitswesen drohten aus dem Ruder zu laufen. Gestützt auf das neue Krankenversicherungsgesetz pflügte sie die Zürcher Spitallandschaft um, sieben Spitäler fielen ihrem platingestählten Skalpell zum Opfer. Verena Diener hatte diese Operation sozusagen am offenen Herzen vorgenommen, nicht aus Lust an schierer Machtausübung, sondern aus «Einsicht in die Notwendigkeit». Es brauchte damals Mut, grossen Mut, diese kurzfristig sehr unpopulären Massnahmen durchzuziehen. Gesundheitsdirektorinnen und Gesundheitsdirektoren anderer Kantone, die ähnliche, teils weit weniger einschneidende Projekte planten, wurden vom Stimmvolk allesamt mit der Abwahl bestraft, sei es Anton Grüninger im Kanton St. Gallen, Stephanie Mörikofer im Kanton Aargau, Veronica Schaller im Kanton Basel-Stadt oder Philippe Pidoux im Kanton Waadt.

Es bedurfte eines gerüttelten Masses an Mut, Standhaftigkeit und Durchsetzungswillen, um die schliesslich erfolgreiche, später von vielen Kantonen übernommene Spitalpolitik gegen mannigfache, oft erbitterte Widerstände in die Tat umzusetzen. Es wäre dies selbstredend alles nicht möglich gewesen, wenn sich Verena Diener dabei – was zuallermeist vergessen geht – nicht auf hervorragend qualifizierte Fachleute hätte abstützen können.

Sie selbst sprach von einem Politbereich, in welchem «viel Macht, Geld und Partikularinteressen im Spiel sind»: eine zurückhaltende Formulierung. Tatsächlich ist die Pharmaindustrie im Verbund mit der Ärzteschaft die wirkmächtigste und oft rücksichtsloseste Lobby im schweizerischen Politbetrieb.

Dies ist vor dem Hintergrund einer durch und durch materialistischen, geldgetriebenen Gesellschaft auch nicht weiter erstaunlich. Als ich im Jahre 1998 die Stelle als Geschäftsführer der Kantonalen Ethikkommission Zürich antrat, kostete das Gesundheitswesen rund 26 Milliarden Franken. Heute verschlingt eben dieses Gesundheitswesen rund 95 Milliarden Franken: Ein Zuwachs weit über dem Wachstum des Bruttoinlandprodukts. Während die ökonomische Wertschöpfung in anderen Sektoren der Schweizer Volkswirtschaft stagniert, steigt sie im Gesundheitswesen unaufhörlich. Was Wunder, dass diese «monetäre Goldgrube» auf kurzfristige Profitmaximierung geeichte Exponenten aus Finanz und Wirtschaft geradezu magisch anzieht.

Wie verbissen und erbittert da um die fetten Pfründe gekämpft wird, illustriert der jahrelange Streit zwischen Ärzten und Apothekern im Kanton Zürich. Zankapfel war das in den Städten Zürich und Winterthur den Apothekern vorbehaltene Recht auf Abgabe von Medikamenten. Nach mehreren Anläufen setzten sich die Ärzte in der finalen Abstimmung schliesslich durch. Inskünftig konnten auch sie in diesen Städten Medikamente nicht nur verschreiben, sondern auch verkaufen.

Im Abstimmungskampf hatten die Ärzte mit massiv irreführender Propaganda operiert. Ein beherzter Jus-Student zog mit einer Stimmrechtsbeschwerde bis vors Bundesgericht. Dieses gab ihm recht, bezeichnete die Abstimmungs-Kampagne der Ärzteschaft ebenfalls als wahrheitswidrig und krass irreführend, wollte aber gleichwohl keine Wiederholung der Abstimmung anordnen, weil die Propaganda der Ärzte für das Endresultat schliesslich nicht ausschlaggebend gewesen sei ...

Kräfteraubende Skandalbewältigung
Kräftezehrend waren in diesem Haifischbecken namens Gesundheitswesen nicht nur die finanzpolitischen Herausforderungen, sondern auch skandalträchtige Vorgänge in der Spitzenmedizin. Erwähnt sei eine am Universitätsspital Zürich durchgeführte Hautkrebsstudie. Im Jahre 2003 wandten sich interne Kritiker mit Insiderinformationen an die Medien, weil im Rahmen dieser Studie eine viel zu hohe, nicht belegbare Heilungs- bzw. Regressionsrate des schwarzen Hautkrebses propagiert wurde.

Die höchsten Wellen warf der «Fall Voser». Um im erbarmungslosen Konkurrenzkampf zwischen den Uni-Spitälern im Bereich der Spitzenmedizin die Nase vorn zu haben, wurde am Universitätsspital Zürich 2004 einer Frau ein Spenderherz mit einer falschen Blutgruppe implantiert. Die herzkranke Patientin überlebte die Transplantation nicht. Es wird kolportiert, im Transplantationsteam habe man um die falsche Blutgruppe des Spenderorgans und der damit verbundenen Risiken gewusst, aber niemand habe es gewagt, den Klinikdirektor und Chefchirurgen darauf anzusprechen. Letzterer wurde schliesslich zusammen mit zwei weiteren Herzspezialisten wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

Beide Fälle hatten enorme politische Verwerfungen zur Folge, die unter Beanspruchung substantieller Personalressourcen jeweils die Gesundheitsdirektion ausbaden durfte.

Mit den Mechanismen der Macht vertraut
Die Politik spielt sich nicht im luftleeren Raum ab, ist kein Proprium staatsphilosophischer Standardwerke. Um Politik, zumal erfolgreiche Politik, auf Dauer zu betreiben, bedarf es auch der Kenntnis und Beherrschung der Mechanismen der Macht, einen Schuss Machiavelli also. Dies in Abrede stellen oder negieren zu wollen, wäre unehrliche Augenwischerei. Schnell zeigte sich, dass Verena Diener auch auf dieser Klaviatur souverän zu spielen wusste. So, als das Pflegepersonal eine höhere Lohneinstufung verlangte, vergleichbar jener der Polizeiangestellten. Zunächst trug Verena Diener die ablehnende Haltung des Regierungsrates aus finanzpolitischer Verantwortung heraus voll mit. Als in der Folge das Verwaltungsgericht die Beschwerde des Pflegepersonals guthiess, ergriff sie flugs die Flucht nach vorn und pries tags darauf eben dieses Urteil als Sieg der Frauen auf dem Weg der Gleichberechtigung.

Nach ähnlichem Muster endete die jahrelange Auseinandersetzung betreffend Muslimfriedhof. Das Bundesgericht hatte entschieden, dass ein separates Grabfeld ausschliesslich für eine bestimmt Religionsgemeinschaft auf einem öffentlichen Friedhof nicht erlaubt ist. Dieses höchstrichterliche Urteil hielt jedoch Exponenten aus linken Kreisen, vor allem aus der Partei der Grünen, damals ihre eigene Partei, nicht davon ab, weiterhin penetrant nach Kräften zu lobbyieren, um dieses linke Desiderat doch noch contra legem durchzudrücken. Verena Diener knickte schliesslich ein und liess die Bestattungsverordnung entsprechend revidieren. Die ihr in den Nachrufen der NZZ und des «Tages-Anzeiger» vorbehaltlos attestierte Prinzipienfestigkeit gilt es jedenfalls im Lichte vorstehender Ausführungen ehrlicherweise zu relativieren.

Umgekehrt gebührt Verena Diener vorbehaltloser Respekt, als es um die Verankerung des Rechts auf Seelsorge im kantonalen Patientengesetz ging. Dank ihrer Unterstützung konnte darin der Satz festgeschrieben werden, dass «die Spitalseelsorge die Patientinnen und Patienten unaufgefordert besuchen kann». Dieser Satz erleichtert die Spitalseelsorge enorm, ohne deswegen das Recht von Patienten, keine Seelsorge zu wollen, zu beeinträchtigen. Einen Versuch der Justizdirektion, diese Bestimmung nachträglich im Rahmen der Revision der Kirchengesetzgebung durch die Hintertür wieder zu streichen, blockte sie souverän ab.

Verena Diener hat mir im persönlichen Gespräch anvertraut, dass sie die von ihr selbst 2003 öffentlich gemachte Brustkrebserkrankung auf die mit ihrem Amt als Gesundheitsdirektorin verbundenen aussergewöhnlichen Belastungen zurückführte. Eine durch und durch plausible Erklärung einer Krankheit, die sie mit vorbildlicher Tapferkeit und bewundernswertem Durchhaltewillen gemeistert hat.

Verena Diener darf sich des Dankes der Bevölkerung für ihre herausragenden, nachhaltigen Leistungen im Dienste der Volksgesundheit gewiss sein.


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


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  • user
    Meier Pirmin 09.07.2024 um 10:36
    Herr Herzog, kann Ihnen für diesen Artikel, der für Ihre auch weltanschauliche Breite spricht, so auf Anhieb nicht zugetraut hätte, nur gratulieren. Lernte Frau Diener als eidg. Delegierter CVP kennen, als sie in Brig 1988 mal bei einer Delegiertenversammlung als Gastreferentin sprach und kam damals zum Schluss, dass "wir" unter unseren Frauen keine Politikerin dieses Formats hätten. Dies war auch der Grund, warum ich dann vor ca. 15 Jahren bei der Gründungsversammlung der Grünliberalen Luzern dabei war, dummerweise von der Presse sogar fotografiert, dabei war es für mich als Lehrer der Staatskunde ohnehin selbstverständlich, dass ich mich stets nie nur aus der Zeitung informierte. Erhalte noch heute die entsprechenden News-Letter der Partei, deren sog. "fortschrittlichen" gesellschaftspolitischen Vorstellungen und auch "Europa" betreffend nicht auf Analyse beruhen, sondern aus dem Bestreben, um jeden Preis zeitgemäss zu sein.

    Dabei habe ich aber Frau Diener immer als eine realistische Umweltschützerin eingeschätzt, was übrigens auf seiten der politischen Rechten jedoch auch für den von mir durch Nachruf gewürdigten Valentin Oehen galt, im Einzelfall bedeutete dies für mich aber nie, alles zu unterschreiben, was diese Politiker machten oder vorschlugen. Galt auch nicht für Bundesrat Furgler, weil grundsatzpolitische Übereinstimmung nicht bedeuten muss, in der praktischen Politik diese Grundsätze genau gleich auszulegen. So kannten vor 50 Jahren noch praktisch alle mir bekannten CVP-Spitzenpolitiker die päpstlichen Sozialenzykliken, z.B. Populorum progressio von Papst Paul VI., aber auch noch Rerum novarum und dergleichen, jedoch eher als langfristige Orientierung, weniger als politische Rezeptsammlung. So sah ich es auch selber für die praktische Politik. Mit der Preisgabe aber einer solchen langfristigen Orientierung zugunsten einer schwammigen Mitte , die von dem her bestimmt wird, was ohnehin in der Politik geschieht, verlor die Partei ihren Orientierungswert. Was noch übrig geblieben ist, sind alte Netzwerke und in den Kantonen LU, SG, AG, VS, SO stammt das Führungspersonal nun mal aus alten CVP-Familien, auch ist die Partei immer noch zum Teil unentbehrliche "Lieferantin" von brauchbaren Kommunalpolitikern u- Politikerinnen.