Rund 400 katholische russische Jugendliche hatten sich am 25. August 2023 in der Katharinenbasilika in St. Petersburg versammelt. Per Videobotschaft wurde auch Papst Franziskus zugeschaltet. Darin äusserte er sich u. a. wie folgt: «Ihr seid Erben des grossen Russlands, gross, aufgeklärt, ein Land mit grosser Kultur und grosser Menschlichkeit, gebt dieses Erbe niemals auf, ihr seid Erben des grossen Russlands der Heiligen, der Könige, des Russlands von Peter dem Grossen und von Katharina II. Vergesst niemals dieses Erbe.»
Die Worte des Pontifex lösten in der ukrainischen Bevölkerung Entsetzen und Abscheu aus. In der Tat: Mitten im Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine empfiehlt der Papst jungen russischen Katholiken Peter den Grossen und Katarina II. als Vorbilder. Es sind dies just zwei Namen, welche wie ganz wenige andere beispielhaft sind für die imperialistische, bis heute andauernde Grossmachtpolitik Russlands.
«L'église, c'est moi»
Peter der Grosse (1672–1725) hatte Russland mit äusserster Brutalität modernisiert und zur russischen Grossmacht gepusht. Allein der Bau der im Sumpf der Newa aus dem Boden gestampften Stadt St. Petersburg mussten zehntausende Zwangsarbeiter mit ihrem Leben bezahlen. Als Feind seiner rücksichtslosen Modernisierungspolitik hatte Peter der Grosse die russisch-orthodoxe Kirche ausgemacht. Das Moskauer Patriarchat schaffte er ab und unterstellte die Kirche der Staatsverwaltung mit dem «Heiligsten regierenden Synod» an der Spitze: eine Zwangseinverleibung, wie sie den deutschen Kaisern all die Jahrhunderte hindurch mit der Katholischen Kirche nie gelang. Für Peter den Grossen galt, wie ein Zeitgenosse anmerkte, nicht nur die Devise «L'état, c'est moi», sondern in Personalunion gleich auch noch «L'église, c'est moi». An der staatlichen Bevormundung der Kirche hat sich bis heute nichts geändert. Auch Putin instrumentalisiert die russisch-orthodoxe Kirche als Legitimationsvehikel für seine Grossmachtpolitik.
Als historischer Ignorant geoutet
Einer veritablen Groteske kommt es gleich, wenn ausgerechnet ein Jesuiten-Papst als Vorbild einen russischen Zaren anpreist, unter dessen Herrschaft die Jesuiten aus Russland vertrieben wurden. Statt sich als historischen Ignoranten zu outen, hätte der Papst besser getan, sich bei seinem Mitbruder, Pater Robert Hotz, sozusagen aus erster Hand über die Kirchengeschichte Osteuropas kundig zu machen. Der renommierte Osteuropaexperte Robert Hotz hat in mehreren Publikationen die unterschiedlichen Entwicklungen im Verhältnis von Kirche und Staat in Ost- und Westeuropa seit Beginn des Christentums bis in unsere Tage ebenso scharfsichtig wie kenntnisreich nachgezeichnet.
Besonders verhasst waren die Ukrainer der späteren Nachfolgerin von Peter dem Grossen, Zarin Katharina II. (1729–1796). Zu einer Zeit, als andernorts die Leibeigenschaft abgeschafft wurde, hatte sie Millionen von Ukrainern in die Leibeigenschaft gezwungen und die Russifizierung rücksichtslos vorangetrieben, indem sie die ukrainische Sprache und den ukrainischen Buchdruck verbot.
Der Grund für ihren in Kreisen der russischen Elite bis heute andauernden Ukrainerhass: Im Jahr 1596 hatten russisch-orthodoxe Bischöfe auf dem Gebiet der heutigen Ukraine ihre Beziehungen zur russisch-orthodoxen Kirche abgebrochen und sich der Katholischen Kirche mit dem Papst an der Spitze angeschlossen; dies unter Beibehaltung der slawisch-byzantinischen Liturgie und kirchlichen Disziplin (sogenannte Union von Brest). Es war ein schwerer Schlag für die russisch-orthodoxe Kirche, die damit zahlreiche Pfarreien, Territorien und Geld verlor.
Eben diese nunmehr mit der Katholischen Kirche verbundenen ukrainischen Gläubigen zahlten dafür einen enorm hohen Preis. Keine christliche Denomination wurde während der Diktatur des Kommunismus und insbesondere unter Stalin derart gnadenlos verfolgt. Sämtliche Mitglieder der Hierarchie wurden entweder in den Gulag verschleppt oder an Ort und Stelle liquidiert.
Und ausgerechnet diesen Treuesten aller Treuen, den mit Rom unierten Ukrainern, fällt der Papst nun ein weiteres Mal in den Rücken. Denn bereits wenige Monate nach dem Beginn des russischen Überfalls verstieg sich der Pontifex in einem Interview mit dem «Corriere della sera» zur Behauptung, die Nato habe durch lautes Bellen an den Grenzen Russlands Putin provoziert (vgl. swiss-cath.ch-Bericht «Jahrestag eines barbarischen Aggressonskrieges» vom 24. Februar 2023). Im Nachhinein war dem Papst seine eigene Relativierung der Kriegsschuldfrage wohl selbst nicht mehr geheuer. Sein Versuch, das ramponierte Bild in der Öffentlichkeit zu korrigieren, ging jedoch gründlich schief. In einem seiner unsäglichen «Spontaninterviews», dieses Mal in der amerikanischen Jesuitenzeitschrift «America», machte er primär muslimische Truppenteile für die von der russischen Armee in der Ukraine begangenen Massaker verantwortlich: «Die grausamsten Soldaten der russischen Armee sind vielleicht jene, die zu Russland gehören, aber nicht zur russischen Tradition, wie etwa die Tschetschenen, die Burjaten und so weiter.» Das Staatssekretariat des Vatikans sah sich in der Folge veranlasst, beim russischen Aussenministerium eine beschwichtigende Note zu deponieren.
Es spricht Bände, dass der Kremel-Sprecher Dimitri Peskow die aktuelle Wortmeldung des Papstes umgehend begrüsste und die staatsoffizielle Nachrichtenagentur TASS das Originalvideo der Papstansprache ebenfalls umgehend verlinkte, wohingegen gemäss KNA-Meldung vom 29. August 2023 die Vatikan-Medien die Videobotschaft ihres eigenen Dienstherren nicht aufschalteten!
Doch wie reagieren nun die direkt Betroffenen auf die neueste Brüskierung durch Papst Franziskus?
Mit grossem Schmerz und grosser Sorge
«Mit grossem Schmerz und grosser Sorge» reagierte das Oberhaupt der mit Rom verbundenen ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, Grosserzbischof Swjatoslaw Schewtschuk. In einer schriftlichen Erklärung wies er auf die «tiefe Enttäuschung» hin, welche die Worte des Papstes in der ukrainischen Bevölkerung verursacht hatten. Im übrigen war man auf der höchsten Hierarchiestufe um Schadensbegrenzung bemüht. Zu gross ist verständlicherweise die Angst angesichts des autoritären, unberechenbaren Führungsstils des gegenwärtigen Papstes.
Kein Blatt vor den Mund nahm hingegen Pater Nazar Zatorsky, Bischöflicher Delegierter der Ukrainer in der Schweiz. Gegenüber «swiss-cath.ch» äussert er sich wie folgt: «Beide von Papst Franziskus genannten Monarchen Russlands zeichneten sich durch besondere Verfolgung der mit Rom Unierten Ukrainischen Kirche (heute Ukrainisch Griechisch-katholische Kirche) aus. Peter der Grosse hat eigenhändig mehrere unierte Basilianermönche in Vilnius erstochen und befohlen, ihre Leichen zu verbrennen und die Asche zu verwehen, damit man sie nicht als Märtyrer verehren kann. Und Katharina die Grossen hat über 2300 unierte Pfarreien mit mehreren Millionen Gläubigen in die Russisch-orthodoxe Kirche zwangsintegriert. Alle, die sich widersetzten, wurden verfolgt. Ist der Lobpreis für diese russischen Monarchen die angemessene päpstliche Art und Weise, die mit Rom unierten Ukrainerinnen und Ukrainer öffentlich zu ohrfeigen? Keine Ahnung, aber mich als ukrainischen griechisch-katholischen Priester ekelt es an.»
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
Noch interessant, dass es auch in Russland eine Liturgie-Reform war, welche die Gläubigen über Generationen spaltete, nämlich das Kreuzzeichen mit zwei Fingern oder dasjenige mit drei Fingern, nämlich wahrer Gott und wahrer Mensch, zwei Finger, oder die Betonung der Dreifaltigkeit, drei Finger. Unter den westlichen katholischen Philosophen war es zumal Franz von Baader, der zur Zeit der Heiligen Allianz, also dem Zaren Alexander I., den Dialog zwischen Katholiken und Russisch-Orthodoxen suchte, weswegen er jedoch dann in St. Petersburg als Spion eingeschätzt wurde, genau so wie der Fürst Gallizin. Unter meinen russischen Gewährspersonen, darunter hervorragendste Kenner der Kirchengeschichte, ist keiner ein Putin-Anhänger, aber noch viel weniger von Selensky. Ein ukrainisches Volk gibt es etwa so, wie es einst ein sowjetisches Volk gegeben hat, zumindest innerhalb der Grenzen, wie sie incl.. Krim von Chruschtschew gesetzt wurden. Dabei ist aber die von Putin arrangierte Volksabstimmung unter absolut sowjetischem "Demokratieverständnis" erfolgt. Diese Abstimmung müsste nach möglichen Friedensverhandlungen unbedingt wiederholt werden. Traditionell dachte man in der Schweiz freilich schon beim Krimkrieg von 1857 eher russlandfeindlich, zumal 3000 Schweizer Söldner bei den Engländern meistenteils als Reservisten eingeteilt waren. (Die Verfassung von 1848 hat bekanntlich für Frankreich, England und noch andere Länder alte Verträge vorbehalten.) Wahr ist aber , dass die deutsche Wehrmacht in Teilen der heutigen Ukraine damals durchaus als Befreierin bejubelt wurde. Unter den Schweizer Bundesräten hatte noch vor 2 Jahren kaum einer eine Ahnung von der Ukraine, weswegen man ganz allgemein schon weil man kein eigenes Wissen hat und auch Experten fast immer parteiisch sind, am besten neutral bleiben würde.
Implizieren Sie also, es gebe kein ukrainisches Volk? Wiederholen Sie Putins Propaganda, dass die Ukrainer Russen seien, und dass die Ukraine immer zu Russland gehört habe? Wenn man historisch argumentiert, könnte man z. B. auch sagen, die Slowakei müsse wieder zu Ungarn gehören. Ausserdem hat ein grosser Teil der Ukraine länger zu Polen-Litauen als zu Russland gehört. Die Krim wurde 1783 von Russland annektiert, hat also nicht einmal 200 Jahre zu Russland gehört. Der Westen der Ukraine um Lemberg hat nie zu Russland gehört, sondern zuerst zu Polen-Litauen, dann bis zum ersten Weltkrieg zu Österreich-Ungarn, dann bis zum zweiten Weltkrieg zu Polen, vom zweiten Weltkrieg bis zur ukrainischen Unabhängigkeit war er Teil der ukrainischen Sowjetrepublik. Historische Argumente sind allgemein problematisch, nur schon in Europa gibt es viele Gebiete, die im Lauf der Geschichte zu allen möglichen Staaten gehört haben.
Warum soll es kein ukrainisches Volk geben? Halten Sie sich an die russische Behauptung, auf der Krim und im Osten der Ukraine würden Russen leben, die zu Russland gehören müssten? Warum müssen alle russischsprachigen Gebiete zu Russland gehören? Dann müssten auch Liechtenstein und Österreich zu Deutschland, die Westschweiz zu Frankreich, Brasilien zu Portugal, Peru, Mexiko, Guatemala, Argentinien etc. wieder zu Spanien gehören.
Übrigens fand am 1. Dezember 1991 in der ganzen Ukraine eine Abstimmung statt. Die Wahlberechtigten wurden gefragt, ob sie die Unabhängigkeit der Ukraine unterstützten oder nicht. Landesweit unterstützten 90.30 % die Unabhängigkeit. Auch in allen russischsprachigen Gebieten gab es eine Mehrheit für die Unabhängigkeit. Auf der Krim stimmten 54.19 % für die Unabhängigkeit, in Sewastopol 57.07 %, in Donezk 83.90 %, in Odessa 85.38 %. Zumindest zu diesem Zeitpunkt wollte also die Mehrheit der Ukrainer, die an der Abstimmung teilnahmen, unabhängig sein. Das spricht doch dafür, dass es ein ukrainisches Volk gibt.