Geburtskirche in Betlehem. Betlehem liegt in den Palästinensischen Autonomiegebieten. (Bild: Berthold Werner/Wikimedia)

Weltkirche

«Von der Ver­trei­bung haben sie sich nie erholt»

Paläs­ti­nen­si­sche Chris­ten sind und waren inte­gra­ler Bestand­teil der paläs­ti­nen­si­schen Natio­nal­be­we­gung im Kampf um die Befrei­ung Paläs­ti­nas. Zu die­sem Schluss kommt der in Chile gebo­rene paläs­ti­nen­si­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Xavier Abu Eid am Don­ners­tag im Inter­view der Katho­li­schen Nachrichten-​Agentur (KNA).

Der Sohn einer christlichen Familie aus Beit Jala ist Berater des «Negotiations Affairs Department» der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Mit «Rooted in Palestine» (dt. «Verwurzelt in Palästina») veröffentlichte er kürzlich die erste englischsprachige Untersuchung zum Thema aus palästinensischer Feder.

Herr Abu Eid, wie sah das christliche Palästina bis 1917 aus, als die Briten den Juden in der Balfour-Erklärung eine «nationale Heimstätte» in Palästina zusicherten?
Palästina vor der Balfour-Erklärung kannte keine internen Grenzen. Christinnen und Christen hatten freien Zugang zu ihren heiligen Stätten. Das Land war vergleichbar mit dem Rest der Region, die sich in Richtung nationale Unabhängigkeit bewegte. Gleichzeitig expandierten christliche Gemeinden trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Wir sprechen hier von der Wiege der Christenheit. Ein gutes Beispiel ist das Lateinische Patriarchat von Jerusalem, das in alle Landesteile expandierte. Als die Briten Palästina im Ersten Weltkrieg einnahmen, machten Christen rund neun Prozent der Bevölkerung aus.

Was hat sich mit der Balfour-Erklärung geändert?
Balfour war eine Zeitenwende. Die Briten versprachen unser Land Menschen, die nicht von hier waren. Gleichzeitig änderte die Erklärung die logische Bewegung Palästinas in Richtung Freiheit und Unabhängigkeit, in die sich die anderen Länder der Region bewegten.

Welche Rolle spielten Christen in der palästinensischen Nationalbewegung?
Sie spielten verschiedene Rollen in verschiedenen Zeiten. Bis 1948 waren Christen im Kampf um die nationale Befreiung Palästinas vor allem an der Front. Dann kam die Nakba, die Katastrophe der Vertreibung von hunderttausenden Palästinenserinnen und Palästinensern nach der Gründung Israels, ohne deren Verständnis sich die Geschichte nach 1948 nicht verstehen lässt. Die Nakba war ein beinahe tödlicher Schlag für die Christen in Palästina, von der sie sich nie erholt haben.

Warum?
Sie zielte auf die Lebensfähigkeit der christlichen Präsenz. Über 50 Prozent der palästinensischen Christen wurden über Nacht zu Flüchtlingen. Familien wurden getrennt, christliche Einrichtungen geschlossen, darunter Kirchen. 1948 lebten die meisten Christen nicht in Bethlehem oder Ramallah, sondern in Westjerusalem, Jaffa, Akka, Nazareth, in Dörfern Galiläas. Sie wurden als Christen nicht anders behandelt als andere Palästinenser.

Oft heisst es, Christen könnten wegen ihrer Gewaltfreiheit eine Brücke im Konflikt sein. Stimmt das?
Christen waren als Palästinenser Teil aller Phasen der palästinensischen Nationalbewegung, einschliesslich des bewaffneten Widerstands. Es stimmt, dass der bewaffnete Kampf zu einer theologischen Debatte geführt hat. Teile der Christen sahen in der Gewalt eine Abkehr von der christlichen Botschaft. Die gewaltfreien Aktionen im überwiegend christlichen Beit Sahour im Westjordanland während der beiden Intifadas sind Beispiele für erfolgreichen friedlichen Widerstand.

In Ihrem Buch beschreiben Sie Spannungen zwischen ausländischen Kirchenleitungen und einheimischen Christen in der Haltung zur palästinensischen Frage.
Nicht alle ausländischen Kirchenführer hatten dieselbe Position. Es gab unter ausländischen Klerikern unzählige, die an der Seite ihrer palästinensischen Gläubigen standen. Aber Menschen sind mit unterschiedlichen Zielen nach Palästina gekommen, manche von ihnen mit mythischen Ideen. Ihnen lag mehr am Schutz der heiligen Stätten als an den Menschen. Anderen ging es um Pilger, und hier muss man sagen: westliche Pilger. Bis 1948 und 1967 waren die meisten Pilger arabische Christen. Heute haben sie nicht die Freiheit zu kommen. Diese Abriegelung ist ein weiterer Punkt, der das nationale Wachstum und die natürliche Struktur der Christen in der Region zerstört. Ein weiterer Aspekt ist die Frage von Kircheneigentum. Wenn eine Kirche ihr Land den Zionisten überlässt, sendet sie die Botschaft an ihre Gemeinde: «Es gibt für uns hier keine Zukunft».

Eine Zeit lang gab es eine Arabisierung der Kirchenführungen.
Michel Sabbah (1988–2008) war als erster palästinensischer Lateinischer Patriarch von Jerusalem ein Wendepunkt in jeder Hinsicht. Es ist ihm gelungen, nicht nur Katholikinnen und Katholiken eine Stimme zu verleihen, sondern die christliche Präsenz für alle wiederzubeleben. Mit seiner Art, sich an die Seite der Unterdrückten zu stellen, hat er viele von der Auswanderung abgehalten. Nach seiner Emeritierung haben sich die Kirchenführer jedoch wieder zurückgezogen. Heute konzentrieren sie sich im Wesentlichen auf zwei Dinge: den Schutz ihrer Rechte im Sinne des Status quo sowie den Steuerstreit mit Israel. Wenn sie sich in seltenen Fällen mit anderen Anliegen befassen, wie etwa im Fall des Jaffators, wo Siedler sich Kircheneigentum aneignen, sieht man, dass sie doch Stärke zeigen können, wenn sie zusammenstehen.

Sehen Sie eine christliche Zukunft in Palästina?
Oft wird auf die Abwanderung von Christen fokussiert. Dies mag im Sinne jener sein, die zeigen wollen, dass Christinnen und Christen nicht von hier stammen und hier keine Zukunft haben. Aber was ist mit den Tausenden, die trotz allem hiergeblieben sind? Mit Tausenden palästinensischen Christen, die gerne wiederkommen würden, und Israel lässt sie nicht? Man kann Christen nicht vom Rest der Palästinenser abkoppeln. Unsere Rechte als Palästinenser zu erlangen, ist eine Grundvoraussetzung, ohne die es nicht geht. Ohne ein Ende der Besatzung und die Verwirklichung unserer Rechte ist die Lebensfähigkeit einer christlichen Präsenz schwierig. Und ohne eine christliche Präsenz fehlt die Essenz Palästinas.

Das Interview führte Andrea Krogmann.

© KNA. Alle Rechte vorbehalten


KNA Katholische Nachrichten-Agentur


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    karl stadler 05.12.2022 um 18:42
    Als Beispiel diene die Stadt Bethlehem. Um die Mitte des letzten Jahrhunderts betrug der Anteil christlicher Bewohner um die 80 %. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 stellte die israelische Armee den Anteil an christlichen Bewohnern mit 46% fest. Bis anfang der 1990 Jahre schien sich wieder eine christliche Mehrheit der Bewohner zurückgebildet zu haben. Im Zuge der Osloer Verhandlungen übergab der Staat Israel Bethlehem im Januar 1995 den Palästinensern zur Selbst-Verwaltung. Bethlehem stand also nicht mehr unter israelischer Verwaltung. Im Jahre 2016 wurde der Anteil an Christen noch auf 12 Prozent geschätzt.
    Die Nakba vollzog sich nicht aus heiterem Himmel. Kaum hatte Ben Gurion Israel zum unabhängigen Staat erklärt, wurde es von mehreren arabischen Staaten bereits Tage danach mit massivster militärischer Gewalt angegriffen, wobei der militärische Ausgang dieses Krieges anfänglich völlig unsicher war. Auch viele Palästinenser nahmen daran teil. In der Folge dieses Krieges wurden in der islamisch-arabischen Welt und im Iran sehr viele jüdische, teils sehr alte Gemeinden, dem Untergang zugeführt, indem um die 850'000 Juden flüchten und Hab und Gut zurücklassen mussten. Also eher mehr als palästinische Flüchtlinge. Von der jüdischen Nakba spricht heute schlichtweg niemand. Israel und die USA haben diese Flüchtlinge aufgenommen und integriert und sie nicht einfach in Flüchtlingslager gesteckt, um sie im Nachhinein politisch zu instrumentalisieren. Alle diese jüdischen Flüchtlinge konnten ebenfalls nicht in ihre angestammte Heimat zurückkehren und in manchen islamischen Ländern gibt es inzwischen praktisch keine jüdischen Gemeinden mehr und jüdisches Leben ist vollkommen erloschen.
  • user
    Claudio Tessari 05.12.2022 um 07:48
    Ein Problem gibt es aber schon. Dazumal waren die Muslime allgemein toleranter, weil sie noch nicht so viele und so mächtig waren. Ebenfalls hatte der politische Islam nicht die Stärke wie heute. Aber heute werden die Christen überall verfolgt, wo die Muslime eine absolute Mehrheit haben. Das sind Fakten. Ein Sprichwort sagt: Der Islam ist tolerant, wo er in der Unterzahl ist, er kennt keine Tolerant wo er in der Mehrheit ist.