Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert weibliche Genitalverstümmelung («Female Genital Mutilation», kurz «FGM») als teilweise oder vollständige Entfernung der äusseren weiblichen Genitalien ohne medizinischen Grund. FGM wird meist an Mädchen bis 15 Jahren durchgeführt – oft ohne Betäubung und mit unhygienischen Instrumenten wie Rasierklingen oder Messern.
Die FGM verstösst gegen Artikel 3 der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» («Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person») und gegen die UN-Kinderrechtskonvention, welche die Unterzeichnerstaaten verpflichtet, «alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmassnahmen [zu treffen], um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung […] zu schützen» sowie «alle wirksamen und geeigneten Massnahmen [zu treffen], um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen».
Seit 2003 wird am 6. Februar auf diese Menschenrechtsverletzung aufmerksam gemacht; trotzdem wird diese Tortur weiter praktiziert. Weltweit sind über 230 Millionen Frauen und Mädchen von FGM betroffen: 144 Millionen in Afrika, 80 Millionen in Asien, 6 Millionen im Nahen Osten.
Gemäss «Terre des Femmes» wird FGM traditionellerweise in 32 Ländern Afrikas, auf der Arabischen Halbinsel und in einigen Ländern Asiens sowie in einigen Ländern Südamerikas ausgeübt. Darüber hinaus gibt es mindestens 60 weitere Länder, in denen FGM dokumentiert worden ist.[1]
In Afrika sind die Zahlen von Land zu Land sehr unterschiedlich. Es gibt immer noch Länder, in denen weibliche Genitalverstümmelung fast überall vorkommt; dort sind mindestens 9 von 10 Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren beschnitten (z. B. in Somalia oder Guinea). In Kamerun oder Uganda hingegen ist nicht mehr als 1 Prozent der Mädchen und Frauen davon betroffen.
FGM ist in erster Linie kulturell bedingt. Sie wird damit begründet, dass unbeschnittene Mädchen später nicht in der Gesellschaft akzeptiert werden. So kommt es, dass sich auch christliche Mädchen und Frauen dieser schmerzhaften Prozedur unterziehen: Sie wurde bei koptischen Christinnen in Ägypten, orthodoxen Christinnen in Äthiopien sowie Protestantinnen und Katholikinnen im Sudan und in Kenia festgestellt. Überwiegend wird die weibliche Genitalverstümmelung jedoch von Muslimen praktiziert.
In der Schweiz noch immer ein blinder Fleck
Die EU-Kommission spricht von 600 000 Opfern weiblicher Genitalverstümmlung, die in Europa leben; die meisten sind Migrantinnen. In sogenannten Diaspora-Gemeinden – diese bestehen aus Familien mit dem gleichen Identitätshintergrund, die im Ausland gut vernetzt leben – werden die Traditionen und Bräuche des Heimatlandes gepflegt.
Die Zahl betroffener und gefährdeter Mädchen und Frauen hat sich in der Schweiz durch die Zuwanderung von Menschen, die aus Ländern kommen, in denen FGM üblich ist, in den letzten Jahren erhöht. Das «Bundesamt für Gesundheit» gibt die Zahl aktuell mit 24 600 an.
Vor zwölf Jahren führte die Schweiz ein strenges Gesetz gegen Genitalverstümmelung ein (siehe Infobox unten). Bisher gab es aber nur eine einzige Verurteilung im Kanton Neuenburg: Ein Mann zeigte seine aus Somalia stammende Ehefrau an, weil sie die gemeinsame Tochter hatte verstümmeln lassen. Die Mutter wurde zu einer achtmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt.
Simone Giger, Projektverantwortliche beim «Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz», gab an, dass der Schuldspruch in der somalischen Gemeinschaft der Schweiz für grosse Verunsicherung gesorgt habe (NZZ vom 1. Oktober 2024).
Trotz der erlittenen Schmerzen und Beschwerden würden die Frauen die Genitalien ihrer Töchter ebenfalls verstümmeln lassen, erklärte Bella Glinski, Leiterin der Anlaufstelle gegen Mädchenbeschneidung in St. Gallen. Die Beschneidungen werden mehrheitlich durch Frauen durchgeführt, auch hier in Europa. Wanderfrauen aus Frankreich oder Grossbritannien ziehen durch Europa, sammeln Mütter mit ihren Mädchen in Privatwohnungen und nehmen die Beschneidung vor.[2]
Mittlerweile haben die meisten Kantone eine Anlaufstelle für Betroffene, doch viele betroffene Frauen sprechen aus kulturellen Gründen nicht mit einer Schweizerin über dieses tabuisierte Thema. Gemäss ihrem Jahresbericht 2023 bearbeitete die nationale Anlaufstelle im Jahr 2023 rund 130 Anfragen. «Meist erfolgte eine erste Kontaktaufnahme durch Fachpersonen, seltener durch die Direktbetroffenen selbst. Vielfach stand eine mögliche Gefährdung einer minderjährigen Person im Vordergrund, vorwiegend in Zusammenhang mit einer bevorstehenden Auslandsreise.»
Die Schweiz gibt Familien aus betroffenen Ländern einen Schutzbrief ab. Darin wird bestätigt, dass weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz strafbar ist.
Doch auch hier in der Schweiz wird das Thema noch immer tabuisiert; dies zeigt die Tatsache, dass es bisher nur ein Urteil zu FGM gegeben hat, obwohl es ein Offizialdelikt ist, d. h. eine Straftat, welche die Strafverfolgungsbehörde von Amts wegen verfolgen muss.
Während Simone Giger vom «Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz» eine generelle Meldepflicht gegenüber der Kinderschutzbehörde kritisch sieht, würde die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli eine härtere Ahndung dieser Straftaten begrüssen. Die SVP-Politikerin hat 2024 im Kanton Zürich eine Anlaufstelle für Betroffene eröffnet.
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