Collage von «swiss-cath.ch». Fahne der Europäischen Union von Pixabay.

Kommentar

«Welt­wo­che» als Sprach­rohr pro­tes­tan­ti­scher Geschichtsklitterung

Der pro­tes­tan­ti­sche Theo­loge Peter Ruch arg­wöhnt, die katho­li­sche Mehr­heit im Bun­des­rat könnte bei der Taufe des soeben mit der EU abge­schlos­se­nen Abkom­mens Pate gestan­den haben. Dabei schreckt er auch vor mas­si­ven Geschichts­klit­te­run­gen nicht zurück.

Antikatholische Vorurteile und Clichés haben die merkwürdige Eigenschaft, weit über ihre Halbwertszeit hinaus in den Köpfen der Zeitgenossen herumzuschwirren – und wie! Beredtes Beispiel: der Protestant Peter Ruch, Hoftheologe von Roger Köppels «Weltwoche». Auf «weltwoche daily» vom 31. Dezember 2024 platzierte er einen Beitrag mit dem Titel «Ist die Brüsseler EU-Kurie eine Art Vatikan? Gedanken eines Theologen zur Frage, ob die Konfessionen die Schweizer Europapolitik beeinflussen.»

Darin konstatiert er – oh Schreck! – eine «katholisch geprägte Mehrheit im Bundesrat». Was ihn gleich zur bangen Frage verleitet, ob eben diese katholische Bundesratsmehrheit «das Heil in Analogie zur römischen Kurie bei einer abgehobenen Zentrale sucht». Ruch spielt damit auf den am 20. Dezember 2024 bekannt gemachten materiellen Abschluss der Verhandlungen des Bundesrates mit der Europäischen Union (EU) an – und greift stante pede zum rhetorischen Zweihänder: Die EU gleiche einem Raubtier, das für die Jagd nicht mehr fit sei und deshalb alles fresse, was es gerade erwische.

Ein solches Schicksal droht laut Ruchs geradezu apokalyptischem Szenario der Schweiz. Das darf nicht sein! Denn schliesslich, räsoniert Ruch, waren die Väter der Bundesverfassung «Liberale im 19. Jahrhundert und gehörten der Freisinnig-demokratischen Partei an. Die Schweiz zählte zur Gruppe der protestantisch geprägten Länder, die sich deutlich von der Ständegesellschaft absetzten und die politischen Befugnisse in die Hände der Bürger legten.»

Historische Ignoranz
Damit outet sich Ruch als Ignorant historischer Fakten. Denn exakt für das Ursprungsland der Reformation, sprich Deutschland, gilt das pure Gegenteil. Luther misstraute dem «tumben Volk» zutiefst, übertrug die Befugnisse der Bischöfe auf die Fürsten, sakralisierte damit die weltliche Macht und schuf so die geistige Grundlage für den Obrigkeitsstaat deutscher Prägung. Wilhelm Hegel, wirkungsmächtigster Repräsentant des Idealismus, transferierte dieses theologische Paradigma drei Jahrhunderte später auf die philosophische Ebene («Ich bin ein Lutheraner und durch Philosophie ebenso ganz im Luthertum befestigt»)[1].

Erst in seiner, Hegels Philosophie, gelangt Gott zum Bewusstsein seiner selbst, sie ist die Ermöglichung der Selbstwerdung Gottes. Diese wiederum konkretisiert sich im Staat: «Der Staat ist die machthabende Allgemeinheit als Quelle allen Rechts», so Hegel. Alles, «allen Wert, alle geistige Existenz» verdanke der Mensch dem Staat. Als sich selbst realisierender göttlicher Wille vollbringe der Staat das Erlösungswerk Christi. Ein Erlösungswerk, das dem «nordischen Prinzip der germanischen Völker zu vollführen übertragen wurde». Mit dem Begriff «Staat» meinte Hegel folgerichtig den germanisch-preussischen Staat. Vergöttlichung des Staates bzw. Verstaatlichung Gottes: Auf diese Kurzformel lässt sich die Rechtsphilosophie Hegels auf den Punkt bringen.

Glückwunschtelegramm an Adolf Hitler
Mit dieser Verabsolutierung der Macht in den Händen des Staates legte Hegel die rechtsphilosophische Basis für eine Entwicklung, welche in den Totalitarismen des Kommunismus und Nationalsozialismus ihre historisch beispiellose Ausformung erlangte. Karsten Krampitz hat in seinem Buch «Jedermann sei untertan – Deutscher Protestantismus im 20. Jahrhundert» anhand zahlreicher Quellentext und Zeitdokumente aufgezeigt, welch verheerende Auswirkungen dieses Staatsverständnis in der neueren deutschen Geschichte zur Folge hatte. Sein Befund: Kein anderes Sozialmilieu zeigte sich für die Ideologie des Nationalsozialismus so aufnahmebereit wie das kleinbürgerlich-evangelische. Den Widerstand der «Bekennenden Kirche» im Dritten Reich entlarvt er als Lebenslüge der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ein erschütterndes Dokument ist der im Buch von Krampitz enthaltene Abdruck des Telegramms des lutheranischen Landesbischofs und Mitbegründers der «Bekennenden Kirche», August Maraharens, in welchem er Adolf Hitler zum Überall auf die Sowjetunion beglückwünscht.

Es ist dies nicht die einzige Geschichtsklitterung, die Peter Ruch in seinem «Weltwoche»-Beitrag für seine Leserschaft bereit hält: «Der Rückzug unzähliger Katholiken aus weltlichen Institutionen wie Parteien, Turnvereinen, Krankenkassen und Gewerkschaften sowie die Gründung eigener – eben katholischer – Gefässe war Ausdruck dafür, dass sie die Wahrheit nicht einem Bürgertum zutrauten, sondern dass sie anderswo – im Vatikan – gehütet werde. Diese Haltung wirkte über mehrere Generationen fort.»
Einigermassen dreist, wie da Ruch Opfer zu Tätern macht. Abgesehen davon, dass es die von Ruch genannten Krankenkassen und Gewerkschaften im Gefolge des Sonderbundkrieges noch gar nicht gab, wurden die Katholiken damals nach Strich und Faden drangsaliert und marginalisiert. Es blieb ihnen (wie übrigens auch den Sozialisten) gar nichts anderes übrig, als zivilrechtliche Selbsthilfeorganisationen aufzubauen, wollten sie in dem vom Freisinn monopolisierten Staat nicht ihre Identität verlieren. Als Beispiel erwähnt sei die erst 1899 in St. Gallen erfolgte Gründung der Christlichsozialen Krankenkasse (heute «CSS» genannt), welche vom Bund 1914 als Krankenkasse mit Tätigkeitsgebiet in der ganzen Schweiz anerkannt wurde.

Tröstlich immerhin, feststellen zu können, dass es Ruch bei seiner historischen Irrfahrt offensichtlich selbst nicht geheuer war. So räumte er in einer Art von «lucidum intervallum» ein: «Vermutlich ist der Glaube an zentralistische Autoritätsspitzen nicht unter Katholiken, sondern unter säkularen Zeitgenossen am stärksten verbreitet. Sie leiden unter den Unzulänglichkeiten und suchen die Wahrheit instinktiv in einer entrückten Dunkelkammer.»

Hoffnung auf Besserung ist also durchaus berechtigt. Dies umso mehr, als just der Papst das soeben begonnene Jahr unter das Motto «Hoffnung» gestellt hat.

 


[1] Dieses sowie die weiteren Zitate Hegels sind dem Buch von Alma von Stockhausen «Der Glaube allein – Luthers Theologie – eine Autobiographie» entnommen.


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


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Bemerkungen :

  • Willy Zweifel 10.01.2025 um 23:17
    Sehr geehrter Herr Herzog, Ihren Beitrag "«Weltwoche» als Sprachrohr protestantischer Geschichtsklitterung" finde ich glänzend. Warum bitten Sie Herrn Köppel nicht, Ihren Beitrag als Gegendarstellung zu publizieren? Das tut er immer wieder, denn Herr Köppel betont jeweils, dass ihm Rede und Gegenrede wichtig sind.
  • user
    Martin Meier-Schnüriger 08.01.2025 um 13:28
    Peter Ruch hätte sich zunächst die Frage stellen müssen, wie katholisch die "katholischen" Mitglieder des Bundesrates effektiv sind. Wirklich katholische Bundesräte, wie es etwa Kurt Furgler noch war, gibt es längst nicht mehr. Bei welcher Partei soll heute ein wirklich katholisch denkender und handelnder Mensch überhaupt mitmachen? Und ohne Parteibüchlein in den Bundesrat zu gelangen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
  • user
    carus 08.01.2025 um 08:57

    Das erstaunt nicht. Der Protestantismus ist eine der zentralen bzw. dominanten Deutekategorien in westlichen Gesellschaften (gewesen) so in den USA, UK; Deutschland, Niederlande, der Schweiz, die nordischen Länder ... was natürlich auch die Geschichtsauffassung beeinflusst. Dazu gehört die Abwertung des "katholischen" Mittelalters, populärer Aufhänger sind Hexenverbrennung, welche in der frühen Neuzeit stattfanden und bes. in protestantischen Gebieten wüteten, die Inquisition (zumindest die kirchliche war ein wichtiger Entwicklungsschritt zu einem modernen Prozessrecht, so wurde erstmals ein Strafverteidiger eingeführt) oder Vorurteile ggü den "südlichen" Ländern produziert, auf spanisch nennt man es die Leyenda negra, ein antispanisches und oft auch antikatholisches, propagandistisch überzeichnetes Geschichtsbild welches heute noch in den Köpfen herumschwirrt (z. B fleissige Nordländer ggü faulen Südeuropäern). Im Grunde braucht es also nicht nur wie heute gefordert eine Enkolonialiserung der Geschichtswissenschaften, sondern auch eine Entprotestantisierung.

    • user
      Martin Meier-Schnüriger 08.01.2025 um 13:34
      ... bzw. eine Entliberalisierung. Unser Geschichtsbild, das auch in den Schulbüchern fleissig gepflegt wird, ist dasjenige der Aufklärung. In diesem Geschichtsbild existiert die katholische Kirche in erster Linie als Machtfaktor und nicht so sehr als Glaubensgemeinschaft.
  • user
    Hansjörg 04.01.2025 um 13:37
    Die Konfession oder Religionszugehörigkeit ist jetzt wohl wirklich kein Kriterium für die gegenseitigen Verträge mit der EU. Darf ich daran erinnern, dass die grösste Gruppe in der Schweiz aus konfessionslosen Menschen besteht.

    Aktuelle Verträge mit der EU sind aber zwingend notwendig, da die Schweiz inmitten der EU liegt. Stromtrassen, Personen- und Warenaustausch, militärische Zusammenarbeit, Bildungssysteme und Forschung, sowie vieles mehr müssen vertraglich geregelt werden. Zudem müssen diese Verträge laufend wieder auf den neusten Stand gebracht werden.
    Die Schweiz ist keine Insel.
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      Daniel Ric 04.01.2025 um 14:21
      Dass die Schweiz keine Insel ist und es Regelungen und Verträge für die internationale Zusammenarbeit braucht, ist sicherlich richtig. Ich würde es aber begrüssen, lieber Hansjörg, wenn Sie diese internationale Sichtweise auch auf die Kirche übertragen würden. Auch die Schweizer Kirche sollte keine Insel sein, sondern die Regeln der Weltkirche übernehmen. Dies bedeutet konkret, dass man in den Pfarreien ordentliche Leitungen mit Pfarrern anstatt Laientheologen hat, die Eucharistiefeier nicht durch Wortgottesdienste verdrängt und auch eine lehramtstreue Verkündigung betreibt. Auch sollte man sich überlegen, ob man die Kirchensteuer nicht abschaffen möchte und die Kirche durch Spenden finanzieren lässt, wie dies in den allermeisten anderen Ländern der Welt der Fall ist. Ich freue mich, wenn Sie sich ebenfalls für all diese Anliegen einsetzen, um das Insel-Dasein der (vor allem Deutschschweizer) Kirche zu beenden.
      • user
        Hansjörg 04.01.2025 um 17:24
        Lieber Herr Ric
        Betreffs Kirchensteuer teile ich Ihre Meinung, ich würde eine italienische oder spanische Lösung vorziehen, wo alle verpflichtet sind einen Obolus zu bezahlen, aber auch alle entscheiden können an welche Organisation das Geld geht.

        Beim Einsatz von Pfarrern gilt es schon noch zu berücksichtigen, ob ein Laientheologe aus der näheren Umgebung, der die Sprache der Gläubigen spricht und deren Kultur kennt, nicht sinnvoller ist, als ein eingeflogener Pfarrer aus Indien oder Afrika, der radebrechend hinter dem Altar steht.

        Ihrer Aussage, dass die Schweiz innerhalb der Kirche eine Insel sei, kann ich nicht zustimmen, ich stelle jedoch vermehrt ein grosses Nord- Süd Gefälle fest. Das insbesondere weil Frauen bei uns die Gleichberechtigung einfordern, während dem die kath. Kirche zuschaut, wie in Teilen von Afrika polygame Familien Modelle gelebt werden.
        • user
          Daniel Ric 05.01.2025 um 13:43
          Lieber Hansjörg, ich bin ebenfalls für die italienische Lösung der Kirchenfinanzierung.
          Was den Einsatz von Priestern anbelangt, da glaube ich, dass Sie auch nicht dafür wären, die Schwyzerdütsch sprechende Krankenschwester eine Operation machen zu lassen, sondern eher den dafür ausgebildeten Chirurgen aus Indien oder dem afrikanischen Kontinent. Weshalb sollte es in der Kirche anders sein? Zudem ist die katholische Bevölkerung in der Schweiz sehr heterogen, was die Kultur anbelangt. Die Zeiten, wo jeder jeden im Dorf kannte und vielleicht noch miteinander verwandt war, sind vorbei. Es leben sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund in der Schweiz, die keine rassistischen Vorurteile gegenüber ausländischen Priestern haben. Ich erachte ausländische Priester als grossen Segen in der Schweiz.
          Ich bin froh, dass Sie gegen Polygamie sind. Auch ich glaube, dass die katholische Lehre zur Sexualität und Ehe die richtige ist.
          Was den Wunsch nach Gleichberechtigung von einigen Schweizer Frauen anbelangt, so glaube ich, dass der Wegfall von Steuergelder dazu führen wird, dass der Wille vieler Frauen, "Priesterinnen" zu werden, massiv geschwächt wird. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
  • user
    Daniel Ric 04.01.2025 um 09:07
    Vielen Dank für diesen Kommentar. Ich teile zwar nicht die Kritik an Hegel, da er und viele der Denker, die wir zum Deutschen Idealismus zählen, für mich zu den grossartigsten Denkern gehören, welche die letzten 200 Jahre vorgebracht haben. Es ist aber offensichtlich, dass die Geschichte des Protestantismus und des modernen Staates nicht diejenige einer zunehmenden Freiheit des Individuums ist, sondern der Glaube an Gott durch den Glauben an die Volksgemeinschaft, die Rasse, die Klasse oder die Nation ersetzt wurde. Bei aller berechtigter Kritik, die man an der EU äussern darf, soll nicht vergessen werden, dass die Gründerväter allesamt gläubige Katholiken waren. Auch sehr wichtig finde ich den Hinweis, dass Katholiken in der Schweiz lange Zeit ausgegrenzt wurden. Ich glaube, dass dies auch eine Erklärung dafür liefert, weshalb heutzutage so viele Schweizer Bischöfe, Priester und Laien unbedingt dem Mainstream angehören wollen und die CVP sogar ihr C weggestrichen hat. Anstatt den Staat mit der jetzigen katholischen Mehrheit auch wirklich katholisch zu prägen (gesellschaftlich, sozialpolitisch, etc.), lässt man umgekehrt zu, dass die katholische Kirche sich der reformierten und dem säkularen Staat angleicht.