Bergföhre. (Bild: Chris.urs-o, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Kirche Schweiz

Wie ein Weih­nachts­baum Schü­lern das Lesen beibrachte

Eine Weih­nachts­ge­schichte, die sich tat­säch­lich im Gros­sen und Gan­zen so zuge­tra­gen hat.

Es ist schon einige Jahrzehnte her, als im Appenzellerland ein äusserst spezieller Weihnachtsbaum seinen Platz bei einer Krippe erhielt. Es war eine kleine Bergföhre, die nur etwa einen Meter hoch war. Sie wurde auf wundersame Weise von seinem idyllischen Plätzchen hoch oben im Alpstein entfernt und gelangte als adventliches Geschenk in die schmucke Stube einer Lehrerin. Nun muss man wissen, dass die Bergföhre, lateinisch «pinus mugo» genannt, ein paar spezielle Eigenschaften besitzt. Die Nadeln sind aussergewöhnlich lang und die Äste überhaupt nicht ausladend wie bei einer Fichte oder Weisstanne. Die Bergföhre müsste eher als Weihnachtsbusch denn als Weihnachtsbaum bezeichnet werden. Daher konnten nur wenige Kerzen die Bergföhre zieren und die bunt glänzenden Kugeln hingen nicht im Lot an den Zweigen, sondern baumelten wegen der langen Nadeln zur Seite. Trotzdem hatten alle ihre helle Freude an diesem «Weihnachtsbusch».

Am Heiligen Abend wurde gefeiert, «Stille Nacht» und «O Du fröhliche» gesungen wie in jedem Jahr. Viele Besucher kamen und gingen. Wenn sie den unkonventionellen Weihnachtsbaum erblickten, schmunzelten sie. Und auch die Kinder strahlten, wenn sie das aussergewöhnliche Exemplar dieses Weihnachtsbaumes bestaunten.

Nun hat die Bergföhre noch eine weitere spezielle Eigenschaft. Das zeigte sich über Neujahr und Dreikönig. In dieser Zeit verlor sie nämlich keine einzige Nadel. Bergföhren kommen mit ganz wenig Wasser aus. Fichten hingegen verlieren ständig Nadeln, schliesslich etwa ein Drittel, wenn man sie durch die Stube zum Balkon schleift, ein weiteres Drittel geht verloren, wenn sie aus dem zweiten Stock in den Garten fliegen und ein Drittel bleibt vielleicht noch am dürren Geäst hängen. Dieses Schicksal blieb dem «Weihnachtsbusch» erspart.

Es kam der 2. Februar, Maria Lichtmess oder Darstellung des Herrn, wie man dieses Fest auch nennt. Da denken wir daran, wie Maria und Josef das Jesuskind in den Tempel brachten. Das ist der Zeitpunkt, an dem früher die Weihnachtszeit definitiv zu Ende war. Und damit auch das Ende des «Weihnachtsbusches»? Nein! Die Lehrerin dachte darüber nach, ob der Weihnachtsbusch, der die jährliche Weihnachtsfreude in bewundernswerter Hartnäckigkeit ohne Nadelausfall verkündete, einem anderen edlen Zweck zugeführt werden könnte. Sie nahm den kleinen Zwerg, trug ihn auf den Balkon − nein, was denkt ihr auch! Der sollte nicht wie die Fichten in den Garten fliegen. Sie stellte ihn hin, holte eine Spraydose mit Silberfarbe und in kürzester Zeit war die grüne Bergföhre in einen silbernen Busch verwandelt. Die Spuren dieser spontanen Verwandlungsaktion waren noch Jahre später an der Mauer zu sehen.

In einer Nacht- und Nebelaktion landete der Silberbusch schliesslich im Schulzimmer der Lehrerin. Die kleinen Erstklässler bestaunten das Bäumchen und hatten fragende Gesichter. «Was ist denn das?» «Ein verzaubertes Prinzesschen», antwortete die Lehrerin. «Wenn ihr artig lesen lernt und euch Mühe gebt, dann könnte ihr das lange Sprüchlein lesen, welches das Prinzesschen entzaubert!»

Noch selten war der Eifer der Kleinen so gross. Tagtäglich glitzerte das verzauberte Prinzesschen den Schülern entgegen und motivierte sie, die Buchstaben zu lernen, die Wörter zu buchstabieren und schliesslich ganze Sätze vorzulesen. Nach einiger Zeit kam es, wie es kommen musste. Tagtäglich bestürmten die Kinder nun die Lehrerin, ob sie nicht endlich das Prinzesschen mit dem Sprüchlein entzaubern dürften. Das brachte die Lehrerin nicht wenig in Verlegenheit. «Was soll ich auch machen», klagte sie im Bekanntenkreis. Nun, so wundersam, wie die Bergföhre in die Stube gekommen war, so geheimnisvoll war sie nach den Frühlingsferien aus dem Schulzimmer entschwunden. Und so hatte ein Weihnachtsbaum tatsächlich einer ganzen Klasse von Abc-Schützen das Lesen beigebracht.


Roland Graf
swiss-cath.ch

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Dr. Roland Graf ist Pfarrer in Unteriberg und Studen (SZ). Er hat an der Universität Augsburg in Moraltheologie promoviert und war vor seinem Theologiestudium als Chemiker HTL tätig.


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