Der Gründe für den Glauben sind viele. Da gibt es die alltägliche, existenzielle Erfahrung, dass der Mensch vertrauen, also glauben können muss, um überhaupt leben, ja überleben zu können. Der Patient vertraut darauf, dass ihm der Arzt den richtigen Ratschlag für seine gesundheitlichen Probleme gibt. Die Braut vertraut darauf, dass das Versprechen des Bräutigams auf lebenslange Treue ernst gemeint ist. Glauben ist also aus dem Leben des Menschen nicht wegzudenken. Auch Form und Intensität des Glaubens sind vielfältig.
Warum sage ich: «Ich glaube, es geschah im Jahr 1983?» statt einfach zu sagen: «Es geschah im Jahr 1983?» Weil ich nicht über genügend Gründe verfüge, um apodiktisch sagen zu können: «So war es.» Glauben in diesem Sinne bedeutet «vermuten», «meinen» oder «einfach mal schätzen».
Dann gibt es Glauben als persönlich sicheres Vertrauen einer Person gegenüber: als Ausdruck echten Überzeugtseins und der sich von da herleitenden Haltung, sich auf jemanden zu verlassen. Um diese zweite Form des Glaubens geht es im Folgenden. Analysiert werden soll die Haltung bzw. Einstellung eines Menschen, der das, was ein anderer sagt, für wahr hält, weil der Andere es sagt.
Auf die Fragen «Warum glaubt ihr Christen?» und «Wo liegen die Gründe für euren Glauben?» wäre eigentlich die beste Antwort: «Komm und sieh!» oder anders ausgedrückt: «Mach deine Erfahrung mit der Wirklichkeit der christlichen Mysterien!»
Ein wesentlicher Grund, weshalb der Glaube im Leben des Menschen nicht wegzudenken ist, ist die zeitliche Verfasstheit seiner Existenz. Wir gehen je und je in die Zukunft hinein, die noch nicht da ist und nicht im Voraus verifiziert werden kann. Wir schreiten also mit jedem Atemzug in eine nicht geprüfte Zukunft, ins Noch-Nicht-Bekannte hinein. Wie schaffen wir das? Durch den Glauben: Es kommt schon gut. Das mir Zukommende, zu meinem Schicksal Werdende kommt in einem lebensermöglichenden Sinne mir und meinen wirklichen Bedürfnissen und Anliegen entgegen. «Entgegenkommen» ist das Wesen von Gnade. Folglich ist der existenzermöglichende Glaube an den Sinn der nicht durchschaubaren Zukunft implizit religiös.
Was aber, wenn der das Dasein ermöglichende Glaube ans Leben und seine sinngenerierende Grunddynamik fehlschlägt, wenn sich Risse und Abgründe zwischen Erwartung und Realität auftun? Im Scheitern innerzeitlich-innerweltlicher Hoffnungen erweist sich die Not-Wendigkeit des expliziten Gottesbezugs und damit des Betens – des ausdrücklich Sich-Hin-Beziehens auf den schöpferischen und alles tragenden und alles umfassenden Urgrundes von Sein und Leben, Gott genannt. Sünde und Not bedeuten, dass für den Menschen Sein und Sinn, Realität und Ideal auseinanderbrechen. Wenn das geschieht, kann der Mensch, dessen Leben danach strebt, auf die Einheit von Sein und Sinn zusteuern zu können, nicht darauf verzichten, Zuflucht zu nehmen bei dem, der die Einheit von Sein und Sinn, von Realität und Ideal in Person ist und darum imstande ist, den erlebten Bruch von Sinn und Sein zu heilen, zu Gott. Expliziter Gottesbezug bedeutet demzufolge auch, dass wir uns an den wenden, der wirklich und wesentlich Gott ist – und von dem wir hoffen, dass er sich als Gott erweise.
Brüche und Risse im Sinngefüge des Daseins: Was nimmt man durch sie wahr? Nichts oder Gott? Das ist hier die entscheidende Frage, die Frage schlechthin. Der Bezug zum eigenen Selbst ist von innen her und somit in gewisser Weise notwendig mit dem Bezug zur Transzendenz, zu Gott verknüpft. Das Interesse an der eigenen Wahrheit lässt sich durch das Eigene nicht zu erfüllen (vgl. Jan-Heiner Tück, Was fehlt, wenn Gott fehlt?). Wenn Gott fehlt, fehlt die Erfüllung des Blicks auf das eigene Leben als Ganzes. Das Ganze, das im unmittelbaren Wahrnehmen des eigenen Selbst gründet und zugleich auf die Wirklichkeit Gottes und seines Blicks verweist. Der Gedanke des ewigen Lebens entstammt nicht irgendwelchen Theorien, Fabeln, Mythologien, sondern ist der Existenzerfahrung des Daseins in unausweichlicher Weise inhärent.
Würde und Sinn
Zudem gilt: Es besteht eine unaufhebbare Spannung zwischen «Würde» und «Sinn». Würde: Ich bin eine Wirklichkeit immer auch für mich selbst. Sinn: Ich bin immer auch eine Wirklichkeit für Andere und Anderes. Beides existiert zugleich und in Einem. Sobald diese Synthese von Würde und Sinn zerbricht, sind auch die Würde selbst und der Sinn selbst gefährdet, bedroht, gebrochen, verunmöglicht.
Individualismus: Ich = Gott – Freiheit ohne Ordnung, Würde ohne Sinn, da für nichts und niemanden da. Der sich absolut setzende Individualismus verhindert gerade durch sinn-auschliessende Insistenz auf Würde die Strahlkraft der Würde. «Würde geht nur mich etwas an.» Soll sie aber von andern respektiert werden können, muss sie von diesen anderen als Sinn erfahren werden können. Sinnlose Würde aber ist würdelose Würde.
Kollektivismus: Ordnung ohne Freiheit; Sinn ohne Würde (Ernst Blochs rote Märtyrer) verhindert gerade den Sinn; denn Sinn ist immer Sinn für jemanden als Träger von Würde. Wenn es auf diesen Jemand nicht ankommt, dann ist auch Sinn ortlos und wirklichkeitsfremd. Würdeloser Sinn ist sinnloser Sinn.
Für beide, Individualismus und Kollektivismus gilt: Selbst wenn diese ideologischen Konstrukte eine bessere Gesellschaft, eine bessere Welt zu schaffen vermöchten, würde das vergangene Elend, das millionenfache Leid von Menschen, die durch Kriege, Verfolgung, Hunger und Umweltkatastrophen ihr Leben verloren haben, innerweltlich nicht wieder gut gemacht werden können. Einen «unbedingten Sinn ohne Gott zu retten, ist eitel» (Max Horkheimer).
Die Alternative lautet: Personalismus, verstanden als vollkommene Persönlichkeit in einer vollkommenen Gemeinschaft. Dieser Vision im Sinne einer Einheit von Sinn und Würde eignet intrinsisch eine transzendente Dimension, genauerhin eine transzendente Hinordnung auf Gott.
Gott lässt sich wissenschaftlich nicht beweisen, aber die mit der menschlichen Existenz untrennbar verknüpfte Frage nach einem unbedingten Sinn kommt an der Gottesfrage nicht vorbei.
Weitere Vorträge in der Reihe «Gott und Mensch» von Pater Markus Schulze:
(Jeweils um 19.15 in der Schutzengelkapelle gegenüber der Kathedrale St. Gallen)
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12. Mai 2023: Zufall oder Gott – wer steuert die Schöpfung?
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26. Mai 2023: Der Mensch im Ganzen der Schöpfung?
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9. Juni 2023: Zeit und Ewigkeit – was erwartet uns nach dem Tod?
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