Zwinglidenkmal vor der Wasserkirche in Zürich. (Bild: Niklaus Herzog/swiss-cath.ch)

Hintergrundbericht

Zwingli: Droh­brief als Exportschlager?

Vor 500 Jah­ren, am 29. Januar 1523, fand die Zür­cher Dis­pu­ta­tion statt. Sie gilt als Geburts­stunde der Schwei­zer Refor­ma­tion. Damit sei zugleich der Grund­stein für die demo­kra­ti­sche Debat­ten­kul­tur der Neu­zeit gelegt wor­den, war unlängst in den Medien zu ver­neh­men. Die Fak­ten­lage sieht anders aus.

Der Beginn der Reformation in der Schweiz wird gemeinhin auf den 29. Januar 1523 datiert: den Tag, an dem die erste Zürcher Disputation stattfand, und in deren Gefolge sich die Stadtzürcher Regierung der Lehre Zwinglis anschloss. Exakt 500 Jahre sind seither vergangen: Ein historisches Datum, das es verdient, sich in angemessener Weise daran zu erinnern. Doch ausgerechnet bei der 500. Wiederkehr dieses denkwürdigen Ereignisses wollten die Zürcher Reformierten nicht so lange warten: In einer Art «ejaculatio praecox» begingen sie die Gedenkfeiern zur Geburtsstunde der Reformation fünf Jahre früher – zeitgleich mit den deutschen Protestanten, die den Thesenanschlag Luthers vom 31. Oktober 1517 als Ursprung der Reformation für sich reklamieren. Schliesslich wollten die Zürcher gemäss Selbstdeklaration nicht als diejenigen dastehen, die mit ihrer Erinnerungskultur «schon wieder zu spät kommen».

Dieser Kotau vor den Glaubensbrüdern im Norden sagt einiges über das Selbstverständnis des heutigen Protestantismus hierzulande aus. Immerhin: Einige wenige Unentwegte wollten gleichwohl historisch korrekt zum Jahresbeginn 2023 an diese Zeitenwende ersten Ranges erinnern. So liess Martina Läubli in der «NZZ am Sonntag» vom 29. Januar 2023 den Berner Historiker Fabrice Flückiger ausgiebig zu Wort kommen. Sein Befund unter Bezugnahme auf die Zürcher Disputation: «Zürich hatte ein Modell gefunden, wie man sich vernünftig mit einem religiösen Konflikt auseinandersetzen konnte.» Judith Wipfler, die aus Deutschland zugewanderte Fachredaktorin Religion bei Radio SRF, setzte noch einen oben drauf: 1523 habe Zwingli die Grundlage der modernen Diskussionskultur gelegt, belehrte sie die Zuhörerschaft vom Schweizer Radio, und damit zugleich «Selbstbestimmung und Debattenkultur gefördert».

Grossmünsterpfarrer Martin Rüsch verstieg sich gar zur Behauptung, die erste Zürcher Disputation dürfe für sich das Prädikat «Exportschlager» in Anspruch nehmen.

«Vogel friss oder stirb»
Dies alles ist selbstredend Nonsens. Mit Demokratie und Debattenkultur hatte die Zürcher Disputation wenig bis gar nichts zu tun. Es ging vielmehr, wie der zitierte Historiker Flückiger zu Recht bemerkt, hüben und drüben um das Seelenheil der Gläubigen; der Kampf um die Wahrheit stand im Zentrum, die jede Seite exklusiv für sich beanspruchte. Hingegen revolutionär war an der Zürcher Disputation in der Tat der Umstand, dass nicht wie in den 15 Jahrhunderten zuvor Bischöfe und Päpste über den Inhalt der christlichen Glaubenslehre und damit den Kirchenbegriff bestimmten, sondern eine weltliche Macht, sprich die Zürcher Stadtregierung. Die Versuchung, über den Glauben ihrer Untertanen befinden zu können, sollte sich in der Folge als nur zu verlockend erweisen: Die Disputation endete mit einem Sieg Zwinglis. Allerdings: Ebenso aufschlussreich wie erhellend ist die Tonalität der von Zwingli inspirierten, vom Zürcher Rat verfassten Einladung zur Disputation vom 29. Januar 1523. Gleich zu Beginn heisst es da, dass nur mit «wahrhaft göttlicher Schrift in deutschen Zungen und deutscher Sprache» argumentiert werden dürfe. Man sei guter Hoffnung, dass Gott alle, die das «Licht der Wahrheit also ernstlich suchen», mit demselben «gnädiglich erleuchten» werde. Wer sich der Heiligen Schrift nicht beuge, müsse mit schweren Sanktionen rechnen. Man werde mit ihm so umgehen, «dess(en) wir lieber entlan sin wöllen». Der reformierte Historiker und Theologe Frank Jehle, dessen Buch «Ludwig Hätzer (1500–1529) – der ‹Ketzer› aus Bischofszell» die vorstehenden Zitate entnommen sind, räumt denn auch ein: «Das Resultat der Disputation wurde streng genommen bereits in der Einladung vorweg genommen.» Nicht gerade das, was man unter einer gleichberechtigten Debattenkultur zu verstehen pflegt. Schon eher eine Art Drohbrief nach dem Motto «Vogel friss oder stirb».

In der Tat: Wer sich wie Zwingli ausschliesslich auf die Bibel als einzige Quelle für Gottes Wort berief, daraus aber andere Schlüsse zog als der Zürcher Reformator, lief Gefahr, seinen Freimut mit dem Leben bezahlen zu müssen. So die Wiedertäufer Jakob Falck und Heini Reimann: Sie wurden in der Limmat ertränkt. Mit einem für damalige Begriffe «ehrenvollen Tod» kam Ludwig Hätzer, seines Zeichens immerhin Protokollführer der zweiten Zürcher Disputation, davon. Der zum Täufertum konvertierte Hätzer wurde am 4. Februar 1529 in Konstanz enthauptet. Zwingli hatte dabei seine Hand im Spiel.

Das Gegenteil einer Debatten- und Diskussionskultur
Wie wenig Zwingli an einer Debatten- und Diskussionskultur im heutigen Sinne gelegen war, sollte sich in den Folgejahren auf drastische Weise zeigen. Als im Jahr 1528 die Berner Disputation bevorstand, musste auch Zwingli partout mit von der Partie sein. Denselben Drang verspürten ebenso acht Täufer. Sie wurden jedoch unter anderem auf Betreiben Zwinglis nicht zur Disputation zugelassen, sondern gleich an Ort und Stelle verhaftet – verbunden mit der Aufforderung, Stadt und Land zu verlassen, ansonsten sie mit dem Tod bestraft würden. Drei von ihnen kehrten gleichwohl zurück, wurden prompt verhaftet und noch im Juli 1529 in der Aare ertränkt.
 


Am 8. Juni 1529 erklärte Zürich den fünf katholisch gebliebenen Innerschweizer-Ständen den Krieg. Er endete unblutig. Der Friedensvertrag begünstigte die Reformation, weil darin das sogenannte Gemeindeprinzip für die gemeinsamen Untertanengebiete festgeschrieben wurde: Jede Gemeinde konnte durch Mehrheitsbeschluss selbst über Ablehnung oder Annahme der Reformation entscheiden. Sozusagen krönender Abschluss des unblutigen 1. Kappelerkrieges war die legendäre «Kappeler Milchsuppe»: Die katholischen Stände sorgten für die Milch, die reformierten Stände für das Brot. Ein klassischer, gut eidgenössischer Kompromiss möchte man sagen. In der Folge breitete sich die Reformation weiter aus.
Doch dies ging Zwingli alles nicht schnell genug. Er setzte die Zürcher Regierung unter Druck, drohte mit Rücktritt für den Fall, dass den Innerschweizer Orten nicht der Krieg erklärt würde. Dazu wollte sich Zürichs weltliche Obrigkeit nicht hergeben, denn es war weit und breit keine Begründung auszumachen, mit der sich eine solche Kriegserklärung politisch oder moralisch rechtfertigen liess. Vielmehr beliess man es bei einer verschärften Weiterführung der Kornsperre, in der Hoffnung, damit den «Schwarzen Peter» der Gegenseite in die Schuhe schieben zu können. Wohlwissend, dass den Innerschweizer Ständen nichts anderes übrig blieb, wollten diese nicht sehenden Auges auf eine Hungerkatastrophe zusteuern. Und so kam es dann auch.

Zwingli zog mit dem Schwert bewaffnet an der Spitze der Zürcher Truppen den Innerschweizern entgegen. Es kam am 11. Oktober 1531 in Kappel am Albis zur Schlacht, die mit einer vernichtenden Niederlage der Zürcher endete. Zwingli selbst fand zusammen mit zahlreichen Prädikanten den Tod. Der St. Galler Reformator Vadian kommentierte den Ausgang dieses Gefechts mit den Worten, mit dieser Strafe habe Gott wohl angezeigt, dass «die diener des Wortz nit zuo krieg, sonder zuo frieden richten sölind» (zitiert in: Marianne und Frank Jehle, Kleine St. Galler Reformationsgeschichte). Noch strenger ging Luther mit Zwingli ins Gericht: Für ihn war Zwinglis Tod ein Gottesurteil, ein Zeichen des gerechten göttlichen Zorns.

Fazit: Zwingli als Taktgeber, ja als Initiant der modernen Diskurs- und Debattenkultur hochzustilisieren, ist angesichts seines Lebens und Wirkens schlicht grotesk.

Und – nur so nebenbei: «Die Reformation erwirkte wie jede Revolution eigene, schärfere Gesetze» (Peter Kamber, Nur immer Gottes Willen tun, in: Neue Zürcher Zeitung vom 28. September 2019). Dies äusserte sich u. a. darin, dass Ehebruch beim fünften Mal mit dem Tod bestraft wurde (ebd.).


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

You have reached the limit for comments!

* Diese Felder sind erforderlich.

Bemerkungen :

  • user
    Martin Meier-Schnüriger 15.02.2023 um 11:19
    Leider werden in gängigen Darstellungen solche Fakten unterschlagen, ebenso in den Schulbüchern zum Fach Geschichte. Will man als Lehrer das Geschichtsbuch in dieser Hinsicht ergänzen, muss man mit dem Vorwurf rechnen, man wolle die Schüler "indoktrinieren". An sich ist schon der Begriff "Reformation" falsch, denn es handelte sich bei der Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert nicht um eine Wiederherstellung (reformatio) eines alten Zustandes, sondern um das Schaffen einer neuen kirchlichen Gemeinschaft, der vieles fehlt, was die Kirche Jesu Christi ausmacht. Die aktuellen Ereignisse in der katholischen Kirche im deutschsprachigen Raum erinnern in fataler Weise an die Zeit vor 500 Jahren ...
  • user
    Claudio Tessari 11.02.2023 um 10:53
    Zwinlig war ein Häretiker und Antisemit wie auch es Luther war. Während man in den Medien alle Schandtaten einiger Kirchenmänner der Vergangenheit hervorhebt, werden die Schandtaten der angeblichen Reformatoren still geschwiegen.