Scheuklappen im Bistum Chur? (Bild: JACLOU-DL/Pixabay)

Hintergrundbericht

Zwi­schen Anspruch und Wirk­lich­keit: der Umgang mit Miss­brauch im Bis­tum Chur

«Der Schutz von Min­der­jäh­ri­gen und hil­fe­su­chen­den Erwach­se­nen muss über allem ande­ren ste­hen.» So äus­serte sich Bischof Joseph Maria Bon­ne­main im Inter­view im «Sonn­tags­blick» vom 10. Sep­tem­ber 2023. Das fol­gende Bei­spiel weckt erheb­li­che Zwei­fel an der Ernst­haf­tig­keit die­ser heh­ren Worte des Bischofs.

Am 26. September 2024 erhält die Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, Elena Furrer, von Daniel Müller* eine Meldung über mögliche Grenzverletzungen durch den Priester Franz M*. Dieser ist privat an einem Projekt für Jugendliche beteiligt. Gemäss zuverlässiger Quelle soll er öfters zusammen mit den Jugendlichen Ausflüge unternehmen und dabei auch in einem See baden. Es muss davon ausgegangen werden, dass er allein mit den Jugendlichen unterwegs ist. Schwerer wiegt, dass er Jugendliche in seine privaten Ferien mitnimmt. Ja, er besteht sogar darauf, dass mindestens ein Jugendlicher mitkommen muss. Wenn sich diese weigern, macht er Druck, bis sein Wille erfüllt wird. Anscheinend soll ein am Projekt beteiligter Sozialarbeiter mindestens in einem Fall einem Jugendlichen 100 Franken angeboten haben, damit dieser mitkommt.

In der genannten Meldung gibt Daniel Müller* auch gleich die entsprechenden Stellen aus dem Verhaltenskodex an, die – sollten die Vorwürfe zutreffen – verletzt wurden:

  • 4 c. Wie den kirchlichen Auftrag vom Privatleben trennen?
  • 4 e. Wie Zweiersituationen in der Seelsorge achtsam gestalten?
  • 4 g. Wie emotionale Nähe angemessen gestalten?
  • 4 h. Wie körperliche Nähe sorgsam gestalten?
  • 4 j. Wie pädagogische Arbeit mit Minderjährigen gestalten?
  • 4 h. Wie die Privatsphäre rund um Schlafräume achten?

Am Schluss der Meldung wird darauf hingewiesen, dass der Schutz der Jugendlichen Priorität haben muss.

Die Präventionsbeauftragte antwortet noch am gleichen Tag: «Die Anschuldigungen wiegen schwer, weshalb ich einige Zusatzinformationen benötige um zu wissen, wie in diesem Fall vorgegangen werden muss.»

Am 28. September folgt ein entsprechender Brief, in welchem die Meldungen detaillierter ausgeführt werden. Es wird nochmals explizit auf die Notwendigkeit des Schutzes der Jugendlichen hingewiesen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. «Bei den Schulungen zum Verhaltenskodex wurde immer stark betont, dass, sobald Beschuldigungen vorliegen, der Beschuldigte bis zur Klärung des Sachverhalts in den Ausstand treten müsse.» Ob das nicht auch für Franz M.*. gelte?

Danach herrscht Funkstille. Auf die Nachfrage von Daniel Müller* vom 18. November 2024 antwortet Elena Furrer am folgenden Tag: «Soeben ging ich auf der [sic] Suche nach dem besagten Brief und habe ihn ungeöffnet im Generalvikariat gefunden (wir von der Prävention haben dort offenbar auch ein Postfach – von dem wusste ich bislang jedoch nichts – bitte entschuldigen Sie!)»
Sie werde den Brief nun mit Bischof Joseph Maria Bonnemain besprechen. Sie empfiehlt aber, den «Fall» bei dem Onlinetool «Kirche schaut hin» zu melden, obwohl dieses von der Zürcher Kantonalkirche aufgebaute Onlinetool nur für das Gebiet des Kantons Zürich zuständig ist und sich dieser Fall nicht im Kanton Zürich abgespielt hat. Gleichwohl wird eine Meldung über die genannten Verdachtsfälle beim Zürcher Onlineportal deponiert.

Am 29. November (also zwei Monate nach der Erstmeldung!) erhält Daniel Müller* folgende E-Mail von der Präventionsbeauftragten:
«Unterdessen konnte ich den Brief mit dem Bischof besprechen. […] Leider muss ich Sie aber auch darauf hinweisen, dass wir als Präventionsstelle in diesem Fall nichts unternehmen können: Wir sind für die Schulungen zuständig, um solche schlimmen Geschichten möglichst zu verhindern.
Sobald Unrecht geschehen ist, sind die Stellen der Intervention gefragt. Diese wären einerseits die Strafbehörden (Polizei) und andererseits das Fachgremium ‹Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Kontext›. Ich möchte Ihren Bekannten bitten, bei einer der beiden vorstellig zu werden, sodass diese über die weiteren Schritte und über allfällige Sofortmassnahmen entscheiden können.»

In einem weiteren Brief wird nachgefragt, warum sie (Elena Furrer) nicht gleich zu Beginn darauf hingewiesen habe, dass sie nicht zuständig sei und warum sie die Angelegenheit nicht proaktiv an die zuständigen Stellen weiterleite. «Es ist frustrierend, ständig selbst aktiv werden zu müssen, statt dass das Bistum Verantwortung übernimmt. Ihr Verhalten erweckt nicht den Eindruck eines ernsthaften Aufklärungswillens, sondern vielmehr den einer Vertuschung.» Eine Antwort auf diesen Brief gibt es nicht.

Anscheinend blieb auch die Meldung beim Onlinetool «Kirche schaut hin» folgenlos: Franz M.* arbeitet jedenfalls weiterhin im Bistum und ist nach wie vor am Projekt mit den Jugendlichen beteiligt.

Schwarzer Peter-Spiel
Dieser Fall vermittelt den Eindruck eines Schwarzer Peter-Spiels, bei dem keine der mit Missbrauch befassten Stellen die Verantwortung übernehmen will, sondern an den «Schwarzen Peter», sprich Daniel Müller*, zurückgibt.

Auf der Webseite des Bistums Chur erscheint unter der Rubrik «Missbrauch in der Kirche & Prävention» als erste Person die Präventionsbeauftragte Elena Furrer. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass die Meldung an diese Person gelangte. Sie hätte die Meldung auch gleich selbst weiterleiten müssen, wie dies in allen Behörden Usus ist. Stattdessen will sie mehr Informationen erhalten und erweckt den Eindruck, dass sie die Angelegenheit verfolgen wird. Peinlich berührt ihre Aussage, dass sie nicht wusste, dass die Präventionsstelle ein Postfach im Generalvikariat hat. (Und warum ist den Angestellten des Generalvikariats nicht aufgefallen, dass der Brief wochenlang im Postfach der Präventionsstelle liegen geblieben ist?)

Nichts hätte Bischof Bonnemain daran gehindert, angesichts der Schwere der Vorwürfe mit dem involvierten Priester direkt Kontakt aufzunehmen und allfällig kirchenrechtlich gebotene (Vorsichts-) Massnahmen zu ergreifen. Stattdessen schieben er und die Präventionsbeauftragte die Verantwortung an den Absender Daniel Müller* ab.

Auch das Verhalten des Sozialarbeiters käme einem schweren Verstoss gegen seine Berufspflichten gleich, sollten die Vorwürfe stimmen. Das Bistum ist in seinem Fall nicht zuständig, hätte aber aufgrund der gravierenden Anschuldigungen zumindest die entsprechende staatliche Behörde informieren müssen, vor allem da es sich bei den Betroffenen um besonders schutzbedürftige Personen handelt.

Schliesslich ist es nicht das erste Mal, dass «swiss-cath.ch» auf die mehr als fragwürdige Praxis des Bistums Chur bei Fällen offensichtlicher Grenzüberschreitungen hinweisen muss – allen gegenteiligen Beteuerungen der Bistumsleitung zum Trotz (vgl. «Nulltoleranzstrategie: Wie ernst nimmt es damit Bischof Bonnemain?»). Kommt erschwerend hinzu, dass Bischof Bonnemain handkehrum bei vergleichbarem Sachverhalt unverzüglich zu Disziplinarmassnahmen greift, wenn es ihm kirchenpolitisch opportun erscheint.

* Name von der Redaktion geändert.

 


Redaktion


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Bemerkungen :

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    Martin Meier-Schnüriger 28.06.2025 um 14:35
    Der letzte Satz des Artikels ist von besonderer Brisanz und zeigt, wozu der "Codex" in Tat und Wahrheit gemacht wurde, nämlich um missliebige, weil kirchlich denkende Priester kalt zu stellen. Im Paragraphendschungel dieses Codexes lässt sich immer etwas finden, was man einem kirchentreuen Priester anhängen kann, wogegen man geflissentlich wegschaut, wenn ein fortschrittlich-synodaler Seelsorger sich etwas zu schulden kommen lässt.
  • user
    Damian Müller 26.06.2025 um 23:42
    Es überrascht nicht, dass es genau so rauskam.
    Die Kompetenzen der Präventionsverantwortlichen im Bistum Chur sind klar abgesteckt Prävention. Intervention wird nur suggeriert, wie der Artikel sehr treffend aufzeigt.
    Und auch bei der Prävention ist bei Elena Furrer so etwas wie Kompetenz formal nicht ersichtlich. Schade wenn man einem anderen Bistum Mitarbeitende abwirbt, könnte man erwarten, dass unter Brüdern ein Gespräch stattfinden kann.

    Keine aktiven Handlungen des Bistums obwohl mehrere Straftaten möglich sind... Von der Bezahlung gar nicht zu reden.

    Dann ist es wohl besser in Chur auf dem Platz sich selbst zu loben.