Symbolbild. (Bild: Claudio Schwarz/Unsplash)

Kommentar

Das Lachen der Kantonalkirchen

Die Ver­drän­gung der öko­no­mi­schen Seite der Kirche.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat im Rahmen seiner Religionssoziologie einen kurzen Text mit dem Titel «Das Lachen der Bischöfe» verfasst, der auch heute noch sehr lesenswert ist. Bourdieu zeigte auf, dass das französische Episkopat dazu neigt, die ökonomische Seite der Kirche zugunsten der religiösen zu negieren. Durch Euphemismen werden wirtschaftliche Begriffe verklärt, damit die Kirche nicht den Anschein erweckt, überhaupt eine pekuniäre Seite zu besitzen. Um es in den Worten Bourdieus auszudrücken: «Die Wahrheit des religiösen Unternehmens ist, dass es zwei Wahrheiten besitzt: die ökonomische Wahrheit und die religiöse Wahrheit, die jene verneint.»

Zart besaitete Katholikinnen und Katholiken werden sich an diesen Worten stören, da sie darin einen Angriff auf die übernatürliche Verfassung der Kirche erblicken und den impliziten Vorwurf heraushören, dass es den religiösen Akteuren nicht so sehr um das Seelenheil wie um Geld und Macht geht. Der französische Soziologe macht jedoch klar, dass er diese Interpretation ablehnt. Ihm geht es nur darum, die Diskrepanz zu benennen zwischen objektiven, von aussen feststellbaren ökonomischen Tatsachen und dem inneren Erleben und Beschreiben der in der religiösen Sphäre wirkenden Akteuren. Ein Atheist mag diese Diskrepanz als eine bewusste Verschleierung des Machtwillens deuten, für glaubenstreue Katholiken ist es hingegen die Gnade Gottes, die dem Menschen hilft, nicht primär in weltlichen Kategorien zu denken und zu handeln.
Das Problem des konsequenten Atheisten ist es jedoch, nicht bei der Kirche haltmachen zu können, sondern auch andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens daraufhin analysieren zu müssen, ob sie mit Euphemismen versuchen, die objektive Realität zu verschleiern. Aber fast kein Atheist – mir ist zumindest keiner bekannt – wird sein Weltbild, das zumeist von einem infantilen Fortschrittsglauben geprägt ist, infrage stellen, indem er Politik, Kultur und Wissenschaft der gleichen rigorosen Kritik unterzieht. Denn am Schluss müsste er zugeben, dass auch der Verdacht naheliegt, demzufolge demokratische Politiker nicht den Volkswillen erfüllen wollen, sondern eigene Macht anstreben, Künstler nicht der Ästhetik verpflichtet sind, sondern ihrem eigenen Ruhm und Wissenschaftler die Adjektive wahr und falsch nur bemühen, um zu kaschieren, dass sie Geld, Erfolg und Prestige erstreben.

Raus aus der Komfortzone
Auch der glaubenstreue Katholik wird seine Komfortzone aufgrund der Erkenntnis, dass die ökonomische Basis einen Einfluss hat, verlassen müssen, möchte er seinen Glauben reifen lassen und dadurch in den Stürmen des Lebens standhaft bleiben. Die feste Überzeugung, dass der Glaube über den materiellen Dingen steht, sollte nicht dazu führen, die ökonomische Seite gänzlich zu negieren. Gott ist nicht nur Schöpfer des Himmels, sondern auch der Erde. Dies impliziert, dass wir den Beschränkungen, die uns die irdische Welt aufbürdet, nicht enthoben sind, sondern die Gesetze unseres Hauses («oikos-nomos») – der Erde – zu akzeptieren haben. Die Abneigung vieler Katholiken, über die wirtschaftliche Seite der Kirche zu reden, ist daher ein eklatantes Zeichen mangelnder Reife. Und diese Unreife ist zurzeit in unserer Schweizer Kirche besonders manifest.
Durch das duale System gibt es eine Trennung zwischen der religiösen Sphäre und der ökonomischen Sphäre der Kirche. In der Theorie ein gutes System, da es die Verwendung von Euphemismen und Verschleierungstaktiken seitens des Klerus obsolet machen soll, da alle monetären Fragen durch die staatskirchenrechtlichen Körperschaften abgehandelt werden. Wenn nun aber in der Praxis die Kantonalkirchen, deren Existenz einzig und allein dem Zwecke dient, die wirtschaftlichen Angelegenheiten der Kirche zu regeln, ebenfalls scheuen, Klartext in pekuniären Fragen zu reden, dann ist etwas grundlegend faul am System. Die Kirchgemeinden verwalten Hunderte Millionen von Franken Kirchensteuern, mit denen sie Löhne auszahlen, Bauaufträge vergeben und sonstige Projekte finanzieren. Die Vermögen der Kirchgemeinden belaufen sich auf mehrere Milliarden Franken, wobei eine genaue Quantifizierung äusserst schwierig ist. Durch den Umstand, dass viele Immobilienwerte der Kirchgemeinden als sogenanntes Verwaltungsvermögen in den Bilanzen auftauchen, die zumeist auf Null bzw. auf den Pro-memoria-Franken abgeschrieben wurden, wird dem Aussenstehenden oft nicht klar, über wie viel tatsächliches Vermögen eine Kirchgemeinde verfügt. Denn die gleichen Pfarrhäuser, Pfarrsäle, Grundstücke und Kirchen, die in der Buchhaltung als Verwaltungsvermögen wertlos erscheinen, sind als Finanzvermögen Millionen von Franken wert. Da die Steuereinnahmen durch die Kirchenaustritte stark rückläufig sind, haben viele Kirchgemeinden die verborgenen Schätze der Kirche entdeckt und fangen an, Immobilien ins Finanzvermögen zu verschieben bzw. als solches zu deklarieren, damit diese im grossen Stil verpachtet und allenfalls auch verkauft werden können. All die rechtlichen und ökonomischen Fragen, die damit zusammenhängen, werden der Öffentlichkeit vorenthalten.

Das Vermögen, welches nun aufgebraucht werden soll, um das marode duale System am Leben zu erhalten, wäre im Falle einer Abschaffung der Kantonalkirchen der Grundstock, auf dem die neue kirchliche Struktur entstünde. Wenn nun im grossen Stil Pfarrhäuser, andere Liegenschaften und teilweise sogar Kirchen verkauft werden, um damit kirchliches Personal und Funktionäre zu alimentieren, die zumeist gar nicht am Kernauftrag der Kirche – der Spendung der Sakramente und der Seelsorge – mitwirken, dann werden spätere Generationen von Katholiken der Grundlagen beraubt, auf denen sie eine Kirche ohne Kirchensteuern neu aufbauen müssen. Auch stellt sich die Frage, inwiefern ein Katholik, der jahrzehntelang Kirchensteuern gezahlt und damit mitgeholfen hat, das Vermögen der Kirche zu äufnen, bei seinem Austritt nicht ein Anrecht hat, einen Teil davon zurückzuerhalten.

Natürlich erscheint dieser Gedanke auf den ersten Blick skurril, jedoch sind dies alles rechtliche Fragen, die sich in der Zukunft stellen werden, wenn die staatskirchenrechtlichen Körperschaften dazu übergehen werden, einen immer grösseren Teil ihrer Ausgaben nicht mehr über laufende Kirchensteuereinnahmen, sondern über die Bewirtschaftung des Anlagevermögens zu finanzieren. Die von den Kantonalkirchen und ihren Anhängern vorgebrachten Euphemismen, die heutzutage diese notwendige Diskussion unterdrücken, indem über Gemeinwohl, öffentlichen Nutzen der Kirchen, Systemrelevanz usw. geredet wird, anstatt konkret zu hinterfragen, wer von diesem System profitiert, führen die Öffentlichkeit in die Irre.

Konkrete Nutzniesser dieses Systems
Um hier ein konkretes Beispiel zu nennen: Kampagnen wie «Kirchensteuer-sei-dank» oder «Kirchensteuer wirkt» sollen die Gläubigen motivieren, weiterhin in den Kantonalkirchen zu verbleiben, indem darauf verwiesen wird, dass ein Grossteil der Steuern vor Ort eingesetzt wird. Dieses dem Föderalismus schmeichelnde Argument, das die Herzen jedes Schweizers höherschlagen lässt, sagt natürlich sehr wenig über die Verwendung der Gelder aus. Ein genauer Blick auf die Ausgaben einer Kirchgemeinde zeigt, dass die Nutzniesser der kirchlichen Ausgaben die Angestellten sind, die sich zumeist aus nicht geweihten Seelsorgern, Kirchenmusikerinnen, Sakristanen, Sekretärinnen und anderen Verwaltungsfunktionären zusammensetzen. Bei der Vergabe von Aufträgen, seien diese im Bereich der Liegenschaften, Informatik oder Versicherungen, wird oft das lokale Gewerbe berücksichtigt, wobei das Orwellsche Bonmot gilt, wonach die Gleichbehandlung aller Bewerber nicht ausschliesst, dass einige Bekannte und Freunde gleicher behandelt werden. Wenn wir den Empfängerkreis der Steuergelder in Relation setzen zur Gesamtpopulation einer Kirchgemeinde, stellen wir fest, dass das meiste Geld nicht nur vor Ort bleibt, sondern genau genommen in die Taschen von einem im Promille-Bereich liegenden Teil der Bevölkerung fliesst. Die Entschleierung solcher Tatsachen ist wichtig, um einen ehrlichen Diskurs über die Existenzberechtigung der Kantonalkirchen zu führen.

Das Schweigen über Entschädigungszahlungen
Jüngst kamen in Baden nach einem Gottesdienst in der reformierten Kirche die Ständerätin Marianne Binder, die ehemalige Ständerätin Christine Egerszegi und der Aargauer Kirchenratspräsident, Luc Humbel, zusammen, um mit dem reformierten Pfarrer und einer Sexologin über den Missbrauch in den Kirchen zu reden. Aus den Zeitungsberichten konnte die Leserschaft entnehmen, dass alle Podiumsteilnehmer die Auffassung teilen, der Zölibat müsse abgeschafft und die Frauenordination eingeführt werden. Auch waren alle der Ansicht, man müsse den Opfern zuhören und ihr Leid anerkennen. Beide Voten befremden aus unterschiedlichen Gründen. Dass Politikerinnen, ein protestantischer Pfarrer, eine Sexologin und der Präsident der Kantonalkirche Aargau die Bedingungen der Katholischen Kirche für die Weihe von Priestern meinen dekretieren zu müssen, ist fehl am Platz. Noch grotesker ist es, dass im Zusammenhang mit Missbräuchen über Weihevoraussetzungen just zu einem Zeitpunkt debattiert wird, als wenige Wochen zuvor in Deutschland eine Studie erschien, die aufzeigt, dass in der Evangelischen Kirche trotz Frauenordination und verheirateten Pfarrern die Missbrauchsproblematik im exakt gleichen Ausmass vorhanden ist wie in der Katholischen Kirche. Wenn ein protestantischer Schweizer Pfarrer, dessen Kirche noch keine Schritte in Richtung Missbrauchsaufklärung unternommen hat, sowie ehemalige und jetzige Vertreterinnen der Politik, die auch nichts unternommen haben, um Missbrauch in staatlichen Institutionen aufzuarbeiten und diesen vorzubeugen, über lehramtliche Fragen der Katholischen Kirche diskutieren bzw. ihre vorgefasste Meinung dem Publikum auf Auge drücken, ist der Vertreter der katholischen Kantonalkirche der lachende Dritte.

Es ist auffallend, dass bei allen Diskussionen, die in den letzten Monaten zur Missbrauchsproblematik geführt wurden, niemand über die Verantwortung der Kantonalkirchen sprach, finanziell für diese Übergriffe geradezustehen. Das Votum, man müsse den Opfern zuhören und ihr Leid anerkennen, verpufft ins Leere, wenn diejenigen, die über die monetäre Seite der Kirche verfügen, jede Diskussion über potenzielle Entschädigungszahlungen abwürgen. Während in Bourdieus Gesprächen mit dem französischen Episkopat die Euphemismen der Bischöfe und ihre Weigerung, über die ökonomische Seite der Kirche zu reden, aus der übertriebenen Furcht entstanden, kirchliche Tätigkeiten zu profanieren, wenn pekuniären Aspekte zu sehr mitberücksichtigt werden, stellt die chronisch-obsessive Beschäftigung der Kantonalkirchen mit theologischen Themen den gezielten und unentschuldbaren Versuch dar, von allen finanziellen, organisatorischen und rechtlichen Fragen abzulenken, die allein in den Verantwortungsbereich der staatskirchenrechtlichen Seite fallen.

Wenn Exponentinnen und Exponenten der Kantonalkirchen immer wieder darauf aufmerksam machen, dass der Grossteil der Steuergelder in die lokalen Gemeinden fliesst, dann muss auch dort die Verantwortung für Übergriffe getragen werden. Zurzeit ist es die Schweizer Bischofskonferenz, die über Entschädigungszahlen entscheidet, wobei der Höchstbetrag, der einem Opfer ausbezahlt wird, fünfmal kleiner ist als derjenige in Deutschland (Fr. 20 000 in der Schweiz gegenüber Euro 100 000 in Deutschland, wobei in einem besonders schweren Fall sogar Euro 300 000 ausbezahlt wurden). Diese Diskrepanz lässt sich leicht erklären: Die Kompetenz der deutschen Bischöfe, über die Verwendung von Steuergeldern zu entscheiden, ist um ein Vielfaches grösser als in der Schweiz. Die Verbissenheit der Vertreter der hiesigen Kantonalkirchen, ausschliesslich über lehramtliche Fragen zu diskutieren, hängt mit dem Unwillen zusammen, das eigene System durch die Zahlung von Entschädigungsleistungen zu gefährden. Krampfhaft möchte man, auch wenn jüngste Studien einen Zusammenhang als obsolet erweisen, die katholische Lehre für Übergriffe verantwortlich machen und nicht das Versagen der einzelnen Behörden. Jahrelang profitierte man vom reichlichen Fluss der Steuergelder und baute eine Organisation auf, die Tausenden von Angestellten und Funktionären ein Einkommen generierte. Nun, nachdem man die negativen Seiten des Systems tragen müsste, wird jeder Gedanke einer monetären Verantwortungsübernahme negiert. Dass Politikerinnen und die Vertreter der reformierten Kirche hier freudig mitmachen, ist kein Zufall, sondern den gleichen Motiven geschuldet. Wenn es um das Portemonnaie der eigenen Klientel geht, sinkt das Bestreben, Genugtuung für die Opfer und Glaubwürdigkeit der Institutionen herzustellen, auf ein Mindestmass.

Konsequenzen
Für glaubenstreue Katholikinnen und Katholiken ist es an der Zeit, sich diesen Tatsachen zu stellen. Viele von ihnen waren über Jahrzehnte hinweg froh, dass die Kantonalkirchen die finanzielle Seite der Kirche regelten. Man musste nicht über Geld reden und konnte so das Bild einer Kirche aufrechterhalten, in der der Glaube an Gott im Mittelpunkt steht. Jeder, der in einer staatskirchenrechtlichen Behörde mitgewirkt hat, weiss, dass dieser Schein trügt. Die institutionelle Verdrängung pekuniärer Fragen durch das duale System hat nicht zu einer Kirche geführt, in der Geld eine untergeordnete Rolle spielen würde, sondern ganz im Gegenteil den Einfluss des Geldes noch stärker verschleiert und ihm dadurch noch mehr Macht verliehen, als dies in früheren Zeiten der Fall war. Mündige Gläubige werden anerkennen müssen, dass Geld und Macht Faktoren darstellen, die in der Kirche wirken und die man als Gegebenheiten akzeptieren muss, ohne gleich den eigenen Glauben infrage zu stellen.

Nachdem in den letzten Jahrzehnten sichtbar wurde, dass die Kantonalkirche ihr Geld verwenden, um Druck auf die Bischöfe auszuüben und um Aktivitäten zu finanzieren, die nichts mit dem Grundauftrag der Kirche zu tun haben, ist die Unschuld verloren, die viele Menschen für sich in Anspruch genommen haben, als sie weiterhin treu ihre Kirchensteuern entrichteten. Weder sind die staatskirchenrechtlichen Gremien fähig und noch willens, die Probleme, die in den kommenden Jahren durch geringere Kirchensteuern entstehen werden, durch eine Senkung der Ausgaben zu lösen, noch sind sie bereit, für die Missbrauchsproblematik, die vor allem auch durch das Wegschauen lokaler Behörden begünstigt wurde, finanzielle Verantwortung zu übernehmen. Das Lachen der Kantonalkirchen hat dadurch einen Zynismus angenommen, den glaubenstreue Katholikinnen und Katholiken mit dem Austritt aus der staatskirchenrechtlichen Körperschaft quittieren müssen oder aber mit dem politischen Einsatz, das marode duale System von Grund auf neu zu gestalten. Sicherlich wird dieser Neuanfang schwierig sein, jedoch ist ein Ende mit Schrecken besser als der derzeitige Schrecken ohne Ende.


Daniel Ric


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Bemerkungen :

  • user
    Michael 15.02.2024 um 11:19
    Manch einer wird akzeptiert, solange er den anderen auch akteptiert. Wenn man wegen ein paar Schwarzer Schafe die Abgesandten Christi und mehr noch ihren Glauben pauschal verwirft, braucht man sich über das Ergebnis nicht zu wundern.