(Bild: Matt Kieffer/flickr, CC BY-SA 2.0 Deed)

Kommentar

Den Papier­ti­ger besie­gen – Stra­te­gien im Umgang mit dem Syn­oda­lis­mus­do­ku­ment aus Chur

Noch bevor die Bischofs­syn­ode in Rom, auf der bera­ten wurde, wie Syn­oda­lis­mus in der Katho­li­schen Kir­che ver­wirk­licht wer­den kann, zu Ende ging, preschte eine hand­ver­le­sene Kom­mis­sion im Bis­tum Chur vor und ver­öf­fent­lichte ein Doku­ment mit dem Titel «Hand­rei­chung für eine syn­odale Kirche».

Auf vierzehn A-4-Seiten, in sieben Kapiteln und in 61 Abschnitten wird in einer Sprache, die derjenigen des «Verhaltenskodex» gleicht, dargestellt, wie sich die Kirche im Bistum Chur künftig auf den «synodalen Weg» begeben will. Dass auch hier – wie schon im erwähnten «Verhaltenskodex» – in mancherlei Hinsicht von der Lehre und der Struktur der Katholischen Kirche Abschied genommen wird, ist tragisch. Das neuste Dokument aus Chur teilt eine weitere Eigenschaft mit dem «Verhaltenskodex»: Statt sich auf ein paar wesentliche Punkte zu beschränken, will es jede Kleinigkeit regeln und wird dadurch zum Papiertiger, der sich in der Praxis gar nicht durchsetzen lässt.

Im Folgenden soll anhand einiger besonders brisanter Abschnitte aus der «Handreichung» gezeigt werden, wie man als treu gläubiger Priester oder Laie den Papiertiger besiegen und den Text im Licht der authentischen Lehre der Katholischen Kirche auslegen kann.

In seiner Einleitung schreibt Bischof Joseph Maria Bonnemain: «Unser Weg muss unbedingt auch zu jenen führen, mit denen sich Christus in besonderer Weise solidarisiert und identifiziert: Kranke, Hungrige, Obdachlose (vgl. Mt 25,31–46).»
Zwar unerwähnt – wie übrigens im gesamten Dokument (!) –, aber doch wohl eingeschlossen in diese Gruppe der Benachteiligten, sind die schwächsten Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, die ungeborenen Kinder und die Sterbenden. Sie und alle, die sich für sie einsetzen, dürfen aus diesen Worten des Bischofs seine Unterstützung für ihre Anliegen herauslesen.

Weiter schreibt der Churer Oberhirte: «Jesus Christus ist der Immanuel – Gott mit uns –, um allen Menschen die Frohbotschaft des Heils zu verkünden. Die echte Synodalität verwirklicht sich in Folge dessen in der Evangelisierung. So werden wir mit allen und für alle lebendiges Evangelium.»
Mit diesem Satz sind der «Synodalität» im Sinn einer Wahrheitsfindung mittels Diskussion und Mehrheitsbeschluss enge Grenzen gesetzt: Jesus Christus ist nicht nur derjenige, der die Wahrheit verkündet, sondern er ist selbst die Wahrheit.

Abschnitt 1.3 postuliert: «Wir leben eine Kirche[1], die alle Menschen willkommen heisst und wertschätzt. Alle werden, unabhängig von Geschlecht, Sexualität, Lebensform, sozialem Status, Nationalität, Kultur oder der je eigenen Einstellung zum Glauben, vorurteilsfrei geachtet.»
Gute Nachricht also für alle, die sich z. B. der ausserordentlichen Form des römischen Ritus oder einer charismatischen Bewegung innerhalb der Kirche zugehörig fühlen: ihre Einstellung zum Glauben wird vorurteilsfrei geachtet.

Im Abschnitt 1.4 heisst es: «Wir verwirklichen eine offene und transparente Kommunikationskultur. Wir ermutigen dazu, frei von Angst vor Sanktionen zu sprechen und eigene Erfahrungen, Fragen und Positionen einzubringen. Dabei respektieren wir die Beiträge der anderen, auch wenn die verschiedenen Meinungen Konflikte erzeugen oder sichtbar machen.»
Auf diesen Abschnitt können sich all jene berufen, die sich treu zum Depositum Fidei der Katholischen Kirche bekennen. Wurde ihnen noch im «Verhaltenskodex» mit Sanktionen bis zum Berufsverbot gedroht, so dürfen sie in diesen Zeilen eine Garantie dafür sehen, dass auch ihre Ansichten und Meinungen respektiert werden.

Abschnitt 1.8 geht auf ein «heissen Eisen» ein: «In unserer Verkündigung, gerade was die Lehre der Kirche und die Sexualmoral anbelangt, setzen wir uns mit den Erfahrungen der Menschen sowie mit Erkenntnissen wissenschaftlicher bzw. empirischer Forschung auseinander. Dabei bringen wir die pastoralen Grundhaltungen des nachsynodalen Schreibens AMORIS LAETITIA von Papst Franziskus (2016) zur Geltung.»
In der ganzen «Handreichung» fällt auf, dass, wenn überhaupt weltkirchliche Dokumente oder Verlautbarungen beigezogen werden, es sich immer nur um solche von Papst Franziskus handelt. Dass darunter die Enzyklika «Amoris laetitia» einen besonderen Stellenwert erhält, verwundert nicht. Es braucht einen als treu gläubigen Katholiken aber auch nicht zu beunruhigen, den «Amoris laetitia» enthält, mal abgesehen von der berüchtigten Fussnote 351, durchaus wegweisende Aussagen, von denen man sich durchaus wünscht, dass sie zur Geltung gebracht werden.

So etwa «Amoris laetitia» 297: «Selbstverständlich kann jemand, wenn er eine objektive Sünde zur Schau stellt, als sei sie Teil des christlichen Ideals, oder wenn er etwas durchsetzen will, was sich von der Lehre der Kirche unterscheidet, nicht den Anspruch erheben, Katechese zu halten oder zu predigen, und in diesem Sinn gibt es etwas, das ihn von der Gemeinschaft trennt (vgl. Mt 18,17). Er muss erneut der Verkündigung des Evangeliums und der Einladung zur Umkehr Gehör schenken.»
Wenn Bischof Bonnemain diesen Passus umsetzt, kann man ihm dazu nur gratulieren. Die Konsequenzen wären allerdings gravierend: Er müsste sämtlichen in irregulären Verhältnissen lebenden kirchlichen Mitarbeitern die Missio entziehen und darauf achten, dass im Verkündigungsdienst (Predigt, Religionsunterricht, kirchliche Medienarbeit) keine Ansichten verbreitet werden, die der Lehre der Kirche widersprechen.

«Amoris laetitia» 251 ist noch brisanter: «Was die Pläne betrifft, die Verbindungen zwischen homosexuellen Personen der Ehe gleichzustellen, gibt es keinerlei Fundament dafür, zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen, auch nicht in einem weiteren Sinn.»
Damit ist den Segnungen von homosexuellen Lebensgemeinschaften und anderen Formen von «Regenbogengottesdiensten» jegliche Grundlage entzogen.

Generell zur Sexuallehre der Katholischen Kirche äussert sich «Amoris laetitia» 153: «Denn wir können nicht darüber hinwegsehen, dass die Sexualität oft entpersönlicht und durch Pathologien belastet wird, so dass sie immer mehr zu einer Gelegenheit und einem Werkzeug der Bestätigung des eigenen Ich und der egoistischen Befriedigung der eigenen Begierden und Instinkte wird. In dieser Zeit wird es sehr gefährlich, dass die Sexualität auch von der giftigen Mentalität des ‹Gebrauchens und Wegwerfens› beherrscht wird. Häufig wird der Körper des anderen gehandhabt wie ein Gegenstand, den man behält, solange er Befriedigung bietet, und verschmäht, wenn er seine Attraktivität verliert. Kann man etwa die ständigen Formen von Herrschaft, Arroganz, Missbrauch, Perversion und sexueller Gewalt ignorieren oder vertuschen, die von einer Abirrung der Bedeutung der Geschlechtlichkeit verursacht werden und die die Würde der anderen und die Berufung zur Liebe unter einer schmutzigen Eigensucht begraben?»
Hier wird der Kern dessen angesprochen, was die katholische Sexualmoral schützen will, nämlich eine selbst- und bedingungslose Liebe, die sich in der körperlichen Hingabe ausdrückt.

Die angesprochene «Erfahrung der Menschen», die man sich gemäss «Handreichung» zunutze machen will, darf sich demnach nicht auf die Erfahrung von Leuten beschränken, die ihre eigene irreguläre Situation zur gültigen Norm erheben wollen, sondern müsste auch – und vor allem – jene berücksichtigen, die sich von der Kirche eine hilfreiche Begleitung auf ihrem nicht leichten Weg erhoffen, ihre sexuelle Orientierung mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung zu bringen. Es gibt nämlich tatsächlich Menschen, die ihre homosexuelle Veranlagung keineswegs – wie etwa der Expriester und Buchautor Pierre Stutz in seiner Selbstbiographie zum 70. Geburtstag – als Geschenk Gottes anpreisen, sondern unter dem offensichtlichen Widerspruch zwischen ihrer Veranlagung und Gottes Willen leiden. Ihnen ist mit einer Uminterpretation oder gar einer «Abschaffung» der Gebote Gottes nicht geholfen, da sie ein solches Unterfangen als das ansehen, was es ist, nämlich als einen Etikettenschwindel; was sie brauchen, ist eine auf sie zugeschnittene Pastoral, die diesen Namen verdient. In diesem Punkt könnte sich Bischof Bonnemain in Nordamerika kundig machen, wo man in diversen Pfarreien einfühlsam und doch ganz der Lehre der Katholischen Kirche folgend die «Same Sex Attracted People» begleitet.[2]

In die gleiche Richtung wie 1.4 zielt auch Abschnitt 2.3.4 der «Handreichung»: «Wir überwinden die monologische Kommunikation zugunsten einer dialogischen. Das Gespräch miteinander, über je eigene Glaubens- und Lebenserfahrungen (Freude und Hoffnung, Trauer und Angst, Zweifel und Zuversicht), aber auch über Zuständigkeiten und Funktionen, hat darin einen festen Platz. Von besonderer Bedeutung ist dabei das gegenseitige Zuhören.»
So dürfen also beispielsweise Priester, die gewisse von ihnen verlangte Handlungen (Segnen von homosexuellen Beziehungen, Kommunionausteilung an zivil wiederverheiratete Geschiedene usw.) mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, darauf hoffen, dass man ihre seelische Not respektiert und sie nicht zwingt, der Lehre der Kirche untreu zu werden.

Abschnitt 2.4.7 lautet: «Es wird empfohlen, die Vielfalt approbierter eucharistischer Hochgebete zu nutzen und passend zum Thema des Gottesdienstes zu wählen.»
Damit wird impliziert den liturgischen Eigenkreationen ein Riegel geschoben; die Gläubigen können unter Verweis auf diesen Abschnitt von ihren Seelsorgern eine Eucharistiefeier einfordern, die den liturgischen Vorschriften entspricht.

Abschnitt 2.5.1 befasst sich mit der Kompetenzabgrenzung zwischen kirchlichen und staatskirchenrechtlichen Amtsträgern: «Im dualen System sind die vom Bischof ernannten oder beauftragten Personen für die pastorale Leitung der Kirche verantwortlich. Auch die staatskirchenrechtlichen Behörden auf kantonaler oder kirchgemeindlicher Ebene üben im Rahmen ihrer Zuständigkeit Leitung aus. Synodalität verlangt, dass man gemeinsam auf dem Weg ist, einander zuhört, miteinander plant und handelt und gemeinsam zu Entscheiden gelangt.»
Besonders der erste Satz ist von grösster Wichtigkeit, wendet er sich doch gegen das übergriffige Verhalten vieler staatskirchenrechtlicher Behörden, die sich als eine Art paralleles Lehramt verstehen und in die pastorale Leitung der Kirche eingreifen wollen.

Zum Dialog mit anderen christlichen Gemeinschaften äussert sich Abschnitt 2.7.4 wie folgt: «Ökumene ist weiter gefasst als der Austausch zwischen der evangelisch-reformierten und der römisch-katholischen Kirche. Im Bistum Chur leben auch viele Christinnen und Christen anderer Konfessionen – wie beispielsweise orthodoxe, christkatholische, freikirchliche Gläubige. Wo es noch nicht Usus ist, werden auch sie in den ökumenischen Dialog einbezogen.»
Die Feststellung, dass der Dialog etwa mit den orthodoxen Kirchen genauso wichtig ist wie derjenige mit den protestantischen Denominationen, ist in der Schweiz noch immer nicht selbstverständlich und wird wohl auch deshalb gerne verschwiegen, weil von orthodoxer Seite keine Unterstützung einer Kirchenentwicklung in Richtung Verweltlichung zu erwarten ist. So würde etwa die Einführung des Frauenpriestertums die Beziehungen zu den orthodoxen Mitchristen massiv erschweren. Dankbar dürfen wir deshalb erkennen, dass die «Handreichung» dem Dialog mit den Kirchen des Ostens eine grosse Wichtigkeit beimisst.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die «Handreichung» durchaus Spielraum offen lässt, sie sozusagen gegen ihren synodalen Strich zu bürsten und für kirchentreue Gläubige Möglichkeiten bereit hält, mit diesem Papier zu leben. Wer weiss – vielleicht war das sogar das geheime Ziel von Bischof Joseph Maria, der nicht ungern als Versöhner oder, um einen viel zitierten Begriff zu verwenden, «Brückenbauer» in die Annalen des Bistums Chur eingehen möchte.

 


[1] Wie man an dieser Formulierung sehen kann, ist «Neusprech» auch schon in kirchliche Dokumente vorgedrungen. Das Verb leben kann in korrektem Deutsch nicht mit einem Akkusativobjekt verwendet werden, es sei denn in der figura etymologica ein Leben leben.

[2] Beispiele hierfür sind zu finden unter Pastoral Ministry to Young People with Same-Sex Attraction (catholiceducation.org) oder Pastoral Care for Those With Same-Sex Attraction | EWTN. Empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang auch das Buch Frauen lieben - eine lesbische Suche nach Gott von Teresa Frei, einer in der LBTQ+-Szene aktiven Frau, die zum katholischen Glauben ihrer Kindheit zurückfand.


Martin Meier-Schnüriger


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    Gabriela Ulrich 08.11.2023 um 14:25
    Den Text im Licht der autentischen Lehre der katholischen Kirche auslegen, bringt überhaupt nichts. Denn "die Handreichung für eine Sydonale Kirche" dient der Kirche nicht. Wenn sie sich nicht an die Lehre der katholischen Kirche halten, verdienen solche Papiertiger keine Beachtung. Die Handreichung ist ungültig, weshalb sie keine Rechtswirkkraft haben.
    • user
      Martin Meier-Schnüriger 09.11.2023 um 12:47
      Leider können wir dieses Papier nicht aus der Welt schaffen, aber wir können versuchen, das Beste daraus zu machen.
  • user
    Don Michael Gurtner 08.11.2023 um 14:02
    Ich finde auch den Hinweis in Fußnote 1 sehr wichtig und habe mich gefreut endlich einmal diese völlig korrekte und notwendig gewordene Feststellung zu lesen.

    Ich sage dasselbe auch immer wieder, und zwar in alle Richtungen.
    Man kann auch nicht "das Evangelium" leben oder "die Nächstenliebe" oder Ähnliches, sondern nur gemäß dem Evangelium, etc.
    "Kirche leben" macht irgendwie keinen Sinn und hört sich sehr schief an.
  • user
    Stefan Fleischer 08.11.2023 um 08:10
    Ganz grundsätzlich:
    Wir brauchen wieder gottzentrierte Gottesdienste,
    wir brauchen wieder eine gottzentrierte Religion,
    damit die Menschen wieder lernen,
    ein gottzentriertes Leben zu führen.
  • user
    Daniel Ric 08.11.2023 um 07:18
    Herr Meier-Schnüriger zeigt sehr gut auf, wie man die Handreichung aus Chur auslegen sollte. Als Gläubiger sollte man die Texte der einzelnen Bistümer genauso eigenwillig interpretieren, wie es sogenannt progressive Kreise - darunter leider auch Schweizer Bischöfe - mit Texten aus Rom getan haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang an eine Vatikanische Instruktion erinnern, die 2020 herauskam und forderte, dass man überall Priester als Pfarreileiter einsetzt und auch Modelle abschafft, bei denen die Pfarrverantwortung geteilt ist. https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2020-07/vatikan-wortlaut-instruktion-pastorale-umkehr-pfarrgemeinden-deu.html. Die Instruktion wurde total ignoriert. Unsere Schweizer Bischöfe, die einer entleerten Ortskirche vorstehen, beanspruchen eine Autorität, die sie der Weltkirche absprechen. Unter diesem Widerspruch leidet unsere hiesige Kirche. Wenn es wirklich unser Anspruch ist, eine synodale Kirche aufzubauen, müssen wir dies im Einklang mit der Weltkirche tun. Zudem dürfen wir auf diesem Weg nicht Christus links liegen lassen, sondern ihm aktiv folgen. Es wäre auch einmal notwendig zu betonen, dass der Weg, auf dem wir als Christen gehen, ein schmaler und kein breiter ist. Natürlich muss die Kirche alle Menschen, die redlich versuchen, diesen Weg zu bestreiten, unterstützen. Aber mir scheint, dass einzelne Bischöfe sich das Leben einfach machen möchten und nun einfach jeden Weg als den richtigen erklären wollen, um ihrer Hirtenaufgabe nicht gerecht werden zu müssen.
  • user
    Marquard Imfeld 07.11.2023 um 17:53
    Sehr positive Auslegung des Synodalismus-Dokumentes von Martin Meier-Schnüriger. So sollen es die Glaubenstreuen proaktiv verkündigend machen.