(Friedrich Preller d. Ä., Der_Bärenführer, 1824 @ Schlossmuseum Weimar) Bild ausgewechselt am 8. Februar 2024, 15:14.

Kommentar

Der Bären­dienst der Rita Famos

Die Stu­die zur sexua­li­sier­ten Gewalt in der Evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land stellt auch die Refor­mierte Kir­che in der Schweiz vor die Gret­chen­frage, wie sie mit der Miss­brauchs­the­ma­tik umge­hen soll. Der Vor­schlag von Rita Famos, der obers­ten Pro­tes­tan­tin der Schweiz, diese The­ma­tik lan­des­weit nach ein­heit­li­chen Kri­te­rien auf­zu­ar­bei­ten, stiess auf hef­tige Kri­tik aus den eige­nen Rei­hen – zu Unrecht.

Es war ein geradezu perfektes Timing, ein theologischer Kairos sozusagen: Am 31. Januar hatte ich in der Rubrik «Mit spitzer Feder» auf den unwiderstehlichen Drang reformierter Pfarrerssöhne hingewiesen, «Catholica» ihre besondere Aufmerksamkeit und Anteilnahme angedeihen zu lassen. Die Rede war von Hugo Stamm, Peter Rothenbühler und Simon Hehli. Als Alternative schlug ich ihnen vor, nach der Publikation der 800 Seiten umfassenden Studie zur sexualisierten Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland analog die Missbrauchsthematik in der protestantischen Kirche in der Schweiz unter die Lupe zu nehmen.

Der ehemalige Chefredaktor von Ringier-Medien wie «Die Schweizer Illustrierte» und «Le Temps» liess sich nicht lange bitten. Bereits einen Tag später, am 1. Februar 2024, meldete er sich in seiner Weltwoche-Kolumne zu Wort. Titel: «Liebe Frau Rita Famos». Sie, die oberste Schweizer Protestantin, konnte einem leid tun. In unheiligem, nicht mehr zu bändigendem Zorn fiel er über seine reformierte Mitschwester her. Zum Verhängnis wurde ihr ein Satz, den sie unlängst in einem «SoBli»-Interview geäussert hatte: «Das Zölibat der Katholiken ist nicht das eigentliche Problem. Viele protestantische Pfarrer waren verheiratet und begingen trotzdem Missbrauch.» Eine schmerzliche Erkenntnis, zu der sich Rita Famos durchgerungen hat, erschüttert dieser Fakt doch das protestantische Selbstverständnis («Wir doch nicht, Ihr aber schon») ebenso wie das von so manchen «Reform-Katholiken» zementierte Feindbild vom Zölibat als der Ursache schlechthin von sexuellen Missbräuchen im kirchlichen Umfeld.

Rita Famos hatte sich bei ihrer Aussage auf den «Freund und Feind» überraschenden Befund der Expertenstudie zur sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche in Deutschland gestützt, demzufolge 75 Prozent der eines sexuellen Vergehens beschuldigten Pfarrpersonen bei der Ersttat verheiratet waren. Davon waren wiederum 99,6 Prozent Männer. Die Tatsache, dass in dieser Studie das protestantische Pfarrhaus als besonderer Risikofaktor ausgemacht wurde, dürfte den Pfarrerssohn Rothenbühler noch zusätzlich in Rage gebracht haben.

Argumente portofrei ins Haus geliefert
Wie sehr er sich durch die Aussage von Rita Famos bis ins Mark getroffen fühlte, geht aus dem aus seiner Sicht höchst schwerwiegenden Vorwurf hervor, sie liefere damit der katholischen Kirche portofrei Argumente ins Haus. Aha! Ein Argument, und sei es noch so stichhaltig, darf nicht zur Sprache gebracht werden, wenn es der «Gegenseite» nützen könnte. Und doch irgendwie nachvollziehbar: denn so droht ihm – und nicht nur ihm – das vielgeschmähte Lieblingsfeindbild namens «Zölibat» abhanden zukommen und damit zugleich auch die Deutungshoheit über den Primärfaktor sexueller Verfehlungen im kirchlichen Umfeld.

Im Ton um einiges moderater, in der Sache aber ebenso erbost reagierte das von den reformierten Kantonalkirchen der Deutschschweiz und der Evangelisch-Methodistischen Kirche der Schweiz getragene Nachrichtenportal ref.ch auf die Äusserungen von Rita Famos. Im Beitrag «Der Sache einen Bärendienst erwiesen» wird das Ergebnis der Studie für die evangelische Kirche in Deutschland als «erschütternd» bezeichnet. Das Postulat einer analogen Studie für die Schweizer Reformierten liegt förmlich in der Luft. Rita Famos hatte folgerichtig den Schluss gezogen, dass jetzt auch für die reformierte Kirche in der Schweiz Aufklärung unausweichlich und dazu eine Studie nach landesweit einheitlichen Kriterien das geeignete Mittel sei. Damit jedoch, warf ihr ref.ch vor, habe sie die hiesigen Landeskirchen vor ein fait accompli gestellt. Letzteren bliebe nun nichts anderes mehr übrig, als sich volens nolens hinter die Forderung einer Studie zum sexuellen Missbrauch in ihren Reihen zu stellen. Zusätzlich geärgert hat sich ref.ch, weil der persönliche Mitarbeiter von Rita Famos noch die Präzisierung nachgeschoben hatte, dass kein Weg an einer Studie vorbei führe, wenn die Anliegen der Betroffenen wirklich ernst genommen werden sollten. Es wäre ein Zynismus gegenüber den Betroffenen, würde diese Forderung zu einem kirchenpolitischen Zankapfel im Richtungsstreit zwischen dezentralen und zentralen Organisationen.

Föderal-dezentrale Struktur als Hemmschuh für die Aufklärung
Pikant die Reaktion von ref.ch: Damit würden die für die reformierte Kirche charakteristische föderalistische, basisdemokratische und dezentrale Organisationsform umgangen.

Pikant deshalb, weil der Expertenbericht zur sexualisierten Gewalt in der Evangelischen Kirche Deutschlands ausgerechnet deren föderal-dezentrale Struktur als wesentlichen Faktor für die Verzögerung und Verschleppung bei der Aufarbeitung ausgemacht hatte. Wie das mit der Studie beauftragte Forschungsteam bekannt gab, wurden ihm längst nicht alle vertraglich zugesicherten Daten abgeliefert. Nur eine einzige der 20 Landeskirchen hielt sich an die getroffenen Abmachungen zwischen dem Forschungsteam und der EKD. Gemäss einem Bericht des News-Portals «Zeit Online» gehen die Studienexperten davon aus, dass im Verlauf des dreijährigen Forschungsprojektes relevante Personalakten von den Landeskirchen absichtlich zurückbehalten oder gar vernichtet wurden. Ein Umstand, der zwar nicht unmittelbar die Qualität der Studie, wohl aber die Glaubwürdigkeit der involvierten Landeskirchen schwer beschädigt. Die reformierte Kirche in der Schweiz könnte aus diesen gravierenden Fehlern lernen und durch die landesweite Aufarbeitung der eigenen Missbrauchsgeschichte nach einheitlichen Kriterien nur gewinnen, dies wäre auch im wohlverstandenen Interesse einer glaubwürdigen Verkündigung des Evangeliums über den konfessionellen Binnenraum hinaus. Dass dabei von liebgewonnenen Vorstellungen Abschied genommen werden muss, ist gewiss schmerzhaft, aber für einen Schritt in eine glaubwürdige Zukunft unabdingbar. Dazu gehört die Selbsttäuschung, dass es in einer hierarchiefreien «Kirche der Geschwisterlichkeit» so etwas wie ein strukturelles Machtgefälle und damit Machtmissbrauch per definitionem gar nicht geben könne. Die von der Bundesregierung eingesetzte «Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs» hat in einer Pressemitteilung vom 6. Februar 2024 zu den Ergebnissen der Studie zur sexualisierten Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland ausführlich Stellung genommen. Darin heisst es: «Selbstwahrnehmung weiter Teile der evangelischen Kirche als progressiv und liberal und ein von ‹Harmoniezwang› und Konfliktunfähigkeit dominiertes Milieu der ‹Geschwisterlichkeit› haben zum Mythos geführt, die evangelische Kirche sei ein sicherer Ort.» Die Glaubwürdigkeit und Zukunft der evangelischen Kirche, so die Kommission weiter, hänge entscheidend davon ab, dass sie die eigenen Fehler und Mängel anerkenne, dafür Verantwortung übernehme und die gebotenen Konsequenzen unverzüglich umsetze.

Wie stark das Narrativ der sexuellen Verfehlungen im Sinne eines Allleinstellungsmerkmals der katholischen Kirche in so manchen reformierten Köpfen immer noch nachwirkt, belegt der genannte Beitrag «Der Sache einen Bärendienst erwiesen»: Am Schluss enthält er einen Link – nicht zum Forschungsprojekt vom 25. Januar 2024 über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche in Deutschland, sondern zur Pilotstudie vom 12. September 2023 über sexuelle Missbräuche im Umfeld der katholischen Kirche in der Schweiz.

Vom Narrativ zur Paranoia
Wie sehr sich ein solches Narrativ geradezu zur Paranoia auswachsen kann, belegt das vom Bio-Deutschen Simon Spengler initiierte Meldesystem «Kirche schaut hin» der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Es bringt schier Überirdisches zustande, sprich die Quadratur des Kreises, gelingt es ihm doch, Meldungen «anonym (!) entgegen zu nehmen und zu triagieren, um Opfer unabhängig vom Interesse der Institution Kirche zu unterstützen – und gleichzeitig die Informationen systemintern zu nützen.» So jedenfalls, wenn man den Ausführungen von Veronika Jehle im Pfarrblatt forum Nr. 2/2024 Glauben schenken will. Ihr Beitrag trägt den entlarvenden Titel «Lieber einmal zu viel als zu wenig.» Ob Missbräuche tatsächlich passiert sind oder nur auf Einbildung beruhen, allenfalls gar auf Verleumdung, ist einerlei: Hauptsache, es wird gemeldet. Es ist evident: Mit der Devise «Lieber einmal zu viel als zu wenig» werden generelles Misstrauen und Verdacht auf Vorschuss buchstäblich systemimmanent. Bezeichnenderweise findet sich dieser Artikel in einem Medium, das wie kein anderes die Missbrauchsthematik in der katholischen Kirche hochgekocht hat. In diesem Milieu hat die Pilotstudie vom 12. September 2023 den Status der Zehn Gebote, ist quasi gottgegeben. Dies, obwohl in der Pilotstudie, von wenigen Einzelfallbeschreibungen abgesehen, kein einziger der von ihr behaupteten 1002 Missbrauchsfälle belegt wird.

Nicht minder bezeichnend: Die Studie über sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland wird in diesem Pfarrblatt bis dato totgeschwiegen. Dies, obwohl – oder gerade weil – sie auch für die katholische Kirche in der Schweiz relevant ist, entlarvt sie doch zentrale Axiome der Pilotstudie wie die Behauptung von katholischen Sonderfaktoren als weitgehend obsolet. Die Initiative «Neuer Anfang» hat es bündig auf den Punkt gebracht: «Die Missbrauchsstudie von evangelischer Kirche (EKD) und Diakonie hat das Dauernarrativ des Synodalen Weges, nach welchem Missbrauch systemische Ursachen spezifisch katholischer Prägung habe, endgültig vom Tisch gefegt.»


Niklaus Herzog
swiss-cath.ch

E-Mail

Lic. iur. et theol. Niklaus Herzog studierte Theologie und Jurisprudenz in Freiburg i. Ü., Münster und Rom.


Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

You have reached the limit for comments!

* Diese Felder sind erforderlich.

Bemerkungen :

  • user
    Daniel Ric 08.02.2024 um 07:41
    Die Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland zwingt nun dazu, Farbe zu bekennen. Wem es wirklich um die Opfer geht und darum, zukünftige Übergriffe zu verhindern, muss ideologiefrei anerkennen, dass es sich bei den Missbrauchsfällen um keine katholische Eigenheit handelt, sondern um ein flächendeckendes Problem. Der einzige Grund, weshalb man immer nur über die katholische Kirche redet, ist derjenige, dass die katholische Kirche als einzige Institution Aufarbeitung betrieben hat, währenddem andere Religionsgemeinschaften und säkulare Vereine und Institutionen bisher untätig blieben. Würde man solche Studien in Sportvereinen oder in der Schule durchführen, würden wohl ganz ähnliche, wenn nicht sogar gravierendere Resultate herauskommen. Kürzlich hat die englische "Sun" über die Zustände im Schweizer Sex-Gewerbe geschrieben. Auch wenn die Artikel reisserisch daherkamen, so ist doch festzustellen, dass hier ein gravierendes gesellschaftliches Problem vorliegt, über das in unserer Öffentlichkeit nicht diskutiert wird. Die harmonische freie Erotik, die von vielen propagiert und als Gegenmodell zur katholischen Sexualmoral verstanden wird, sieht in der Realität oft so aus, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene ausgebeutet und instrumentalisiert werden.
    • user
      Kurt Vogt 08.02.2024 um 13:30
      "Der einzige Grund, weshalb man immer nur über die katholische Kirche redet, ist derjenige, dass die katholische Kirche als einzige Institution Aufarbeitung betrieben hat, währenddem andere Religionsgemeinschaften und säkulare Vereine und Institutionen bisher untätig blieben." - Dieser Aussage ist nur bedingt zuzustimmen.
      Denn die Problematik der röm.kath. Kirche ist, was irgendwo auf der Welt geschieht (Irland, Südamerika, Nordeuropa, usw.) wird als Problem der röm.kath. Kirche gesehen, nicht im spezifischen Land, Kanton oder Gemeinde - und so wird auch fast überall berichtet! Die Schlagzeilen lauten dann auf röm.kath. Kirche - nicht auf Kirchgemeinde/Pfarrei XY oder Land z usw.
      Bei der ev.ref. Kirche, bei Institutionen, bei Vereinen, Schulen usw. wird unterschieden in: Kirche im Kanton x, Verein y des Dorfes z usw.
      Es ist bedenklich, dass hier diesbezüglich fast nie jemand etwas moniert und man sich nicht dagegen wehrt. - Und noch absurder wird es, wenn in den Medien von Sachverhalten dermassen berichtet wird, wie wenn sie heute geschehen sind und nicht vor 30 oder gar mehr Jahren.
      - Eine weitere Tragik ist, dass röm.kath. Medien so schreiben und ständig das Haar in der Suppe sehen und das "Kinde mit dem Bade ausschütten." (Andere Medien zitieren dann die röm.kath. Medien - also Selbstbeschmutzung im höchsten Grade)