Le Suicidé von Édouard Manet, um 1877, Sammlung Emil Bührle, Zürich.

Kommentar

Der euro­päi­sche Weg zu ster­ben – Michel Hou­el­l­e­becq kämpft gegen die Nor­ma­li­sie­rung der Euthanasie

Johan­nes der Täu­fer trug einen gro­ben Man­tel aus Kamel­haar und ass Heu­schre­cken und wil­den Honig, wäh­rend er sei­nen Zeit­ge­nos­sen ins Gewis­sen redete. Nicht weni­ger wider­bors­tig und aneckend for­dert Michel Hou­el­l­e­becq seit Jahr­zehn­ten den kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Betrieb Euro­pas heraus.

Der 66-jährige französische Autor löst mit jedem neuen Roman Empörung aus. Er ist eine wandelnde Herausforderung für jeden gesellschaftlichen Konformismus. Kettenrauchend steht er inmitten einer Welt, die obsessiv auf Selbstoptimierung geeicht ist. Menschenfeind, Frauenhasser, Rassist – scheinbar jedes diffamierende Etikett wurde ihm bereits angehängt. Nun hat sich der ewige Gottsucher, der nicht glauben kann – jedenfalls nicht länger als für die Dauer einer Messe – in einem Artikel im «Harper`s Magazine»1 erneut zu Euthanasie und assistiertem Suizid geäussert.

Moralischer Relativismus und grenzenloses Mitgefühl
Scheinbar mühelos werden gegenwärtig moralische Schranken überwunden, solange dies aus Mitgefühl geschieht. Houellebecq hält im Artikel fest, dass die Idee eines gültigen moralischen Gesetzes, wie wir es etwa bei Immanuel Kant oder der katholischen Naturrechtslehre finden, seinen Zeitgenossen vermehrt undurchsichtig und fremd erscheint. In dieser Situation des moralischen Relativismus kann juristisch Ungeheuerliches gefordert werden, solange es aus Mitgefühl und einem Ideal der maximalen persönlichen Freiheit heraus geschieht. Houellebecq beschreibt diese doppelte Dynamik im Artikel mit Abscheu: In einer infantilen Geste der Unterwerfung gebe man einem Arzt oder einer Ärztin das Recht, einen zu töten; gleichzeitig behaupte man damit ein Ideal der vollkommenen persönlichen Autonomie. Eine Zivilisation, so schreibt er in einem anderen Artikel2 zur Thematik, verliere jedes Recht auf Respekt, wenn sie Euthanasie legalisiere. Der aktuelle Artikel ist ebenfalls keine distanziert kühle Analyse, sondern ein aufgewühlter Appell an eine Gesellschaft, die das Dystopische an sich selbst nicht mehr als solches wahrnimmt. Wenn das Töten zum Aufgabenbereich von Ärztinnen und Ärzten wird, die den Hippokratischen Eid geschworen haben, so ist etwas nicht mehr im Lot, selbst wenn das Prozedere noch so euphemistisch als Akt des Mitgefühls und Bewahrung der Würde daherkommt.
 


«Wie würde ich mich fühlen?»
Einer der Hauptpunkte des Artikels ist der Aufruf Houellebecqs, existenzielle Aspekte des Lebens nicht an Ämter und Dienstleistungsstellen auszulagern. Die Frage «Wie würde ich mich/würden Sie sich fühlen?» taucht immer wieder im Text auf. Houellebecq beobachtet besorgt, wie die Schranke zur Selbsttötung stetig gesenkt wird, bis der Suizid für die Suizidalen, wie für diejenigen, die ihnen das Gift verabreichen, eine beängstigende Niederschwelligkeit erreicht. Houellebecq schreibt gegen diese hygienische und entlastende Entfremdung an. Er stellt die Frage, ob man selbst einem Freund das Gift geben würde und wie man sich fühlen würde, wenn er es schliesslich nähme. Er zieht eine Parallele zur Todesstrafe und zum Fleischkonsum. Wie würde ich mich fühlen, jemanden umzubringen, der gesellschaftlich sein Recht auf Leben verwirkt hat? Wie würde ich mich fühlen, wenn ich das Tier, das ich essen will, zu töten hätte? Die Gesellschaft kennt vielerlei Mechanismen, das Individuum vor diesen harten Realitäten abzuschirmen und ihm gleichzeitig den Zugang zu deren Vorteilen zu ermöglichen. Das Schockierende liegt für ihn nicht im Wunsch eines Leidenden, sich das Leben zu nehmen, sondern in der gesellschaftlichen Praxis, wie diesem Wunsch begegnet wird.

Das unwerte Leben
Houellebecq endet bei einigen Beispielen aus der Science-Fiction Literatur, in denen mit eindrücklicher Weitsicht bereits Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts über diese Thematik reflektiert wurde. Seine Befürchtungen sieht er in der Kurzgeschichte «Die Prüfung» (1954) von Richard Matheson am treffendsten dargestellt: Dem Problem der Überbevölkerung und der Überalterung der Gesellschaft begegnet man damit, dass alle über achtzig regelmässig getestet werden. Wer die physischen und psychischen Anforderungen nicht mehr erfüllt, wird durch eine Injektion getötet. Es war keine leichte Entscheidung, dieses Gesetz zu implementieren, doch die gesellschaftlichen Herausforderungen liessen scheinbar keine Alternative zu. Seither bewährt es sich. Sauber, egalitär und fair liess sich die Überbevölkerung in den Griff bekommen. Ein Mann sitzt mit seinem betagten Vater zusammen und lernt für den Test. Es wird klar, dass der Vater ihn nicht bestehen wird. Am nächsten Tag wartet die Familie schweigend auf das Resultat. Houellebecq rät eindringlich dazu, diese Kurzgeschichte zu lesen, denn sie sage alles, was es zur Thematik zu sagen gibt.

Die Stimme eines Predigers in der Wüste
In christlichen Kreisen ist es weit verbreitet, die Entwicklungen im Umgang mit dem assistierten Suizid und Euthanasie mit Sorge zu betrachten und sich dagegen zu wehren. Mit Michel Houellebecq hat sich eine starke säkulare Stimme dazugesellt. Wer weiss, ob die Stimme eines Predigers in der moralisch-spirituellen Wüste heutzutage nicht mit zerzausten Haaren, Zigarette im Mund und einem übergrossen Winterparka daherkommen kann?
 

Michel Houellebecq, 1958 in La Réunion (Frankreich geboren), ist seit seinem Erstlingsroman «Ausweitung der Kampfzone» eine wichtige, wenn auch polarisierende Stimme im Literaturbetrieb. In Romanen, Essays, Gedichten und Artikeln widmet er sich den existenziellen Herausforderungen des postmodernen Menschen: Einsamkeit, Glaubensverlust, Kapitalismus, Gentechnik, Politik, Sex, Entfremdung, Liebe. In seinen Werken finden gnadenlose Gesellschaftskritik und ein tiefer Humanismus zusammen. Das irritiert, berührt und fordert die Leserschaft immer wieder aufs Neue. Sein letztes grosses Werk «Vernichten» erschien im Januar 2022.

 


1 Michel Houllebecq, «The European Way to Die», «Harper’s Magzine, Februar 2023, https://harpers.org/archive/2023/02/the-european-way-to-die-euthanasia-assisted-suicide-michel-houellebecq/, abgerufen am 8. Februar 2023.
2 Michel Houellebecq, «Une civilisation qui légalise l’euthanasie perd tout droit au respect», «Le Figaro», 5. April 2021. https://www.lefigaro.fr/vox/societe/michel-houellebecq-une-civilisation-qui-legalise-l-euthanasie-perd-tout-droit-au-respect-20210405

 


Silvan Beer

Silvan Beer studiert gegenwärtig Theologie und Philosophie in Freiburg i. Ü.


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  • user
    Daniel Ric 09.02.2023 um 13:38
    Sehr guter Artikel. Erstens deswegen, weil er die Problematik der Sterbehilfe auf den Punkt bringt. Die Autonomie, welche die Moderne propagiert, hat oft nichts Befreiendes, sondern etwas Erbarmungsloses und die Würde der Person Negierendes an sich. Da ein in der Gesellschaft verankertes Wesen nie über gänzliche Autonomie verfügt, wird durch die Absenz strikter Normen, welche das katholische Naturrecht verlangt, jede Frage anhand utilitaristischer Kriterien beantwortet. Es ist nicht die Freiheit, welche einen älteren oder kranken Menschen dazu bringt, sich das Leben zu nehmen, sondern die Gesellschaft, die ihm vermittelt, er habe keinen Wert mehr.
    Zweitens macht es die Katholiken darauf aufmerksam, über den Tellerrand zu blicken. Es gibt sehr viel gute säkulare Philosophen und auch Anhänger anderer Religionen, mit denen man sich für die gemeinsame Sache stark machen kann. Beispielsweise teilen sehr viele Moslems und auch säkulare Denker die Kritik der Katholischen Kirche an der Genderideologie. Es gilt sich zu vernetzen und dort gemeinsam zu wirken, wo man Gutes bewirken kann. Dies wurde in den letzten Jahren verpasst.