Agil Raju (Bild: zVg)

Interview

«Die Kir­che muss Chris­tus wie­der in die Mitte stellen»

Am kom­men­den Sams­tag, dem 14. Okto­ber, darf Agil Raju in Chur die Dia­ko­nen­weihe emp­fan­gen. Er sprach mit «swiss​-cath​.ch» über seine Beru­fung, die ers­ten Pfar­rei­er­fah­run­gen und die Zukunft der Kir­che in Europa.

Sie kommen ursprünglich aus Indien. Wie kommt es, dass Sie in der Schweiz studiert haben?
Ich bin in Südindien geboren, habe dort studiert und gearbeitet. Mein Bischof war mit dem damaligen Bischof Vitus Huonder gut befreundet, und als er hörte, dass es in der Schweiz wenige Seminaristen hat, entschloss er sich, mich zum Deutschstudium zu schicken und mich dann als Seminarist für die Diözese Chur weiterstudieren zu lassen. So kam ich 2017 in die Schweiz.

Haben Sie Ihre Berufung zum Dienst als Priester schon früh gespürt?
Das Priestertum war für mich als Kind und später auch als Jugendlicher kein Thema – ich wollte immer eine Familie gründen. Aber als 17-Jähriger hatte ich eine Phase der Orientierungslosigkeit. Da ich Ministrant war, war es einfach, mit dem Heimatpfarrer darüber zu reden. Er empfahl mir, eine Auszeit im Priesterseminar zu nehmen und Exerzitien zu machen. Das hat mir geholfen, diesen Weg zu gehen. Nach dieser Auszeit habe ich noch einige Zeit gewartet und mein Studium der Philosophie und der Sozialwissenschaften weitergeführt. Der Schritt zum Eintritt ins Seminar war nicht leicht. Doch dann musste ich mich entscheiden und habe es gewagt. Heute bin ich froh, diesen entscheidenden Schritt gemacht zu haben. Ich bin zufrieden und glücklich.

Sie sind nun seit einem Jahr in einer Pfarrei tätig. Was macht Ihnen in der konkreten Pfarreiarbeit am meisten Freude?
Ich habe als Seelsorger im Pastoralkurs begonnen, in der Pfarrei zu arbeiten. Da ist man überall dabei, schaut hin, sammelt Erfahrung usw. Während dieses Jahres habe ich gelernt, dass die Kirche vielen Menschen Halt bietet, auch wenn sie sich vielleicht nicht als praktizierende Christen bezeichnen würden. In meinem Dienst habe ich an der Ministrantenarbeit, an der Begleitung von Erwachsen, an der Gestaltung von Kindergottesdiensten und an Seelsorgegesprächen Freude; ich fühle mich dabei richtig wohl. Ich bin am richtigen Ort!

Gab es auch Erfahrungen, mit denen Sie nicht gerechnet haben?
Die Seelsorge kann man nicht mathematisch berechnen oder planen. Wir haben mit echten Menschen zu tun: Der Mensch ist ein Schatz und ein Reichtum und jeder ist einzigartig. Daher muss ich als Seelsorger die Bereitschaft haben, spontan und gelassen zu sein. Vor allem bei Kondolenzgespräche oder bei normalen Seelsorgegesprächen gibt es Situationen, in denen man keine Antwort hat. Vielleicht ist das auch die Schönheit der Seelsorge. Es wird nie langweilig und es gibt viele Überraschungen.

Aktuell ist die Situation in der Katholischen Kirche für Priestern schwierig. Sie seien weltfremd und hätten keinen Bezug zum Alltag der Menschen, so ein Vorwurf. Wie ist Ihre Erfahrung? War die Ausbildung im Seminar wirklichkeitsfremd?
Ich hatte nie den Eindruck, dass die Ausbildung im Seminar und an der Hochschule weltfremd war. Es wurde uns immer beigebracht, dass man gelernte Theorien von der Praxis unterscheiden muss. Wie ich vorhin gesagt habe, haben wir es mit Menschen zu tun und nicht mit Robotern. Daher kann man kein fixes Rezept vom Seminar oder der Hochschule erwarten. Jeder Seminarist tritt mit seiner Biografie und seinem Charakter ins Seminar ein – und diese bleiben. Nur weil jemand im Seminar ist, heisst das nicht, dass er seine Identität verleugnen muss. Schlussendlich, egal ob man Priester oder Laienseelsorger wird: Wir alle sind einfache Menschen mit unseren Schwächen und Stärken.

Was bedeutet Ihnen der Dienst des Diakons?
Der Diakon ist in erster Linie der Diener des Wortes Gottes, das heisst Verkünder des Evangeliums. Zugleich assistiert der Diakon dem Priester in der Eucharistiefeier. In meinem Leben hat die Eucharistiefeier einen hohen Stellenwert, da ich meinen Glauben, den ich als Jugendlicher verloren hatte, durch den Besuch der Eucharistiefeier wiedergefunden habe. Daher freue ich mich, durch den Dienst als Diakon in der heiligen Messe am Altar mitwirken zu dürfen. Zu den Aufgaben des Diakons gehören auch der Dienst an den Kranken und Bedürftigen, den ich, so weit ich kann, ausüben möchte. Als Diakon darf ich das Sakrament der Taufe spenden und bei der Trauung assistieren. Ich freue mich schon sehr darauf, die Menschen bei diesen besonderen Gelegenheiten als Diakon begleiten zu dürfen.

Was erhoffen Sie sich für Ihren Dienst als Diakon und später als Priester?
Ich hoffe sehr, dass ich den Willen Gottes erfüllen kann. Ich werde Priester für Gott und seine Kirche und nicht für mich. Darum muss ich immer unterscheiden, ob ich für Gott und seine Kirche wirke oder nur nach meinem eigenen Willen handle. Hier hilft mir immer die Bitte im Vaterunser: «Dein Wille geschehe». Daher lasse ich mich von Gott überraschen und werde wirken, wo und wie Er mich braucht. Als Priester werde ich auch die Sakramente der Beichte und der Krankensalbung spenden sowie die heilige Messe feiern dürfen. Darauf freue ich mich sehr.

Sie kommen wie bereits erwähnt aus Indien und haben entsprechend den Vorteil, dass Sie eine Aussenperspektive mitbringen. Die Kirche in Indien blüht, die Kirche in Europa bricht auseinander. Sehen Sie Gründe dafür?
Ich komme aus einer Gegend, wo die Kirche arm und missionarisch ist. Wir haben dort mit echten Problemen wie Armut, Hunger und Dürre zu tun. Die Kirche ist dann der einzige Halt für uns. Wir haben das Gefühl, dass wir Kirche sind, und wir leben es. So ist in meiner Heimat die Kirche Teil unserer Familie. Wie man auf Deutsch sagt «Keine Feier ohne Meier», so ist es in Indien: Keine Feier ohne Kirche. Solange ich davon überzeugt bin, dass die Kirche und ich zusammengehören, blüht die Kirche, sobald ich mich von der Kirche trenne und sie nur als Institution betrachte, kann Kirche keine Rolle mehr in meinem Leben spielen.
Ich denke, dass die Kirche in Europa aufhören sollte, um sich selbst zu kreisen. Die Kirche kreist um sich, wenn sie institutionelle Reformfragen und die Abschaffung von jahrhundertelangen Traditionen in den Mittelpunkt stellt. Als Christen müssen wir uns an Christus orientieren: Er ist der Weg, nicht wir. Ich habe oft den Eindruck, dass die Kirche in Europa ihr eigentliches Zentrum – Christus – vergessen hat und nun eine Kirche bauen will, wie sie ihnen gefällt. Nur wenn wir wieder lernen, Christus in den Mittelpunkt zu stellen, wird die Kirche auch in Europa wieder blühen. Er sagt es ja selbst, dass wir nur dann Frucht bringen, wenn wir in Ihm bleiben (vgl. Joh 15,1–8). Wenn die Kirche nicht mehr blüht, ist es meines Erachtens darauf zurückzuführen, dass wir mit unserem Ursprung, mit dem Sohn des lebendigen Gottes, nicht mehr wirklich verbunden sind.

Was wünschen Sie sich für die Kirche?
Nur eines: Dass wir eins werden, wie Jesus mit Gott dem Vater und mit seinen Jüngern war und ist. «Ich bete für sie alle, dass sie eins sind, so wie du und ich eins sind, Vater – damit sie in uns eins sind, so wie du in mir bist und ich in dir bin […]» (Joh 17,21). Nur durch die Einheit im Glauben können wir die Frohe Botschaft Jesu verkünden. Solange wir diese innerkirchliche Ruhe nicht haben, können wir auch nicht Gott treu dienen.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Werden Sie als Diakon ein Kollarhemd tragen und somit als geweihte Person erkennbar sein?
Ja, das werde ich. Ich finde es wichtig, als Kleriker erkennbar zu sein. Ich möchte Priester werden, um ein Zeuge des Reiches Gottes zu sein. Ich habe keine Angst, dass mich die Menschen auf das Kollarhemd ansprechen, im Gegenteil, ich freue mich, wenn sie es tun, denn so kann ich ihnen Zeugnis geben, von der Hoffnung, die mich erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15).

 

Agil Raju wurde am 19. Juli 1993 in Karnataka in Indien geboren. Seit seiner Kindheit ist er durch seine Familie mit dem Glauben vertraut. Er schloss sein Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften mit dem Bachelor in Indien ab, wo er bereits Seminarist war. 2017 kam er in die Schweiz und schloss das Theologiestudium und die Seminarausbildung in Chur ab. Das Pastoraljahr absolvierte er in der Seelsorgeeinheit Höchst-Gaissau in der Diözese Feldkirch in Vorarlberg. Dort wird er auch nach der Diakonenweihe weiterhin als Seelsorger wirken.


Rosmarie Schärer
swiss-cath.ch

E-Mail

Rosmarie Schärer studierte Theologie und Latein in Freiburg i. Ü. Nach mehreren Jahren in der Pastoral absolvierte sie eine Ausbildung zur Journalistin und arbeitete für die Schweizerische Kirchenzeitung SKZ.


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  • user
    don Martino 17.10.2023 um 15:14
    Namaste - lieber Agil. gut, klar, offen, treu, ehrlich, fundiert, …. glaubwürdig und katholisch, überzeugt und anspornend Dein Zeugnis und Bericht. Solche berufene Menschen, Männer hat Gott geschaffen. Es hat viele, genügend! Nur Vertrauen fehlt, Mut, Persönlichkeit, Intelligenz und Demut, Frömmigkeit und Gehorsam. In einem Wort: Glaube und Liebe!
    Glaube schwindet, Liebe niemals… auch in der CH
  • user
    Don Michael Gurtner 12.10.2023 um 13:09
    Eine hervorragende, auf den Punkt getroffene und sehr klarsichtige Analyse der derzeitigen Situation der Kirche, welche ich nur teilen kann.
    Wenn man das erst einmal erkannt hat -und viele haben es eben gerade nicht-, dann gibt es wirklich Grund zur Hoffnung, daß diese Situation doch noch einmal korrigiert und Christus wieder in das Zentrum gestellt wird.

    Dem Weihekandidaten bereits auf diesem Wege Gottes reichste Segensfülle für sein Wirken im Steinbruch des Herrn