Der Turm von Babel von Lucas van Valckenborch, 1594, Louvre Museum Paris.

Kommentar

Die Post­mo­derne als reli­giöse Grabräuberin

Vor zwei Jah­ren war ich feri­en­hal­ber mit mei­ner Frau in Ita­lien am Meer. Die Strand­pro­me­na­den weck­ten in mir Erin­ne­run­gen an meine Kind­heit, als ich zum ers­ten Mal am Meer war. Damals staunte ich, wie die alten Män­ner – dem Meer ent­lang spa­zie­rend – einen Rosen­kranz in Hän­den hiel­ten. Kugel um Kugel daran lies­sen sie durch die Fin­ger glei­ten. Für mich als Zür­cher Refor­mier­ter war dies unbe­kannt und ein­drück­lich, wie diese Leute sich im All­tag mit dem Ewi­gen, mit Gott, beschäftigen.

Dieser Beitrag von Willi Honegger erschien zuerst auf nebelspalter.ch

Dieses Mal in den Ferien sah ich jedoch überall Spaziergänger mit einem Mundschutz in Händen – jederzeit bereit ihn anzuziehen. Vielleicht waren sie der Meinung, sie führten damit die Tradition ihrer Väter und Grossväter weiter – anstelle der Beschäftigung mit dem ewigen Heil nun ihre praktische Vorsorge für das zeitliche Heil. Eine auffällige Veränderung hat sich auf unserem Kontinent vollzogen. Ein grosser Tausch von der ewigen zur zeitlichen Nahrung. Von der Hingabe ans Grosse, ans Göttliche, zur Hingabe ans Kleine, ans Zeitliche.

Vom Gott zum Staat
Die Postmoderne hat mit dem religiösen Zeitalter abgeschlossen und beansprucht dessen Erbe für sich. Aber sie befindet sich in einem massiven Erbstreit mit der grossen Tradition des christlichen Abendlandes. Ihrer Ansicht nach ist das Christentum an Schwäche verstorben. Und sie macht sich daran, die ihm beigelegten Grabschätze zu plündern. Darum weisen die Dogmen der Postmoderne derart religiöse Züge auf, die mit missionarischem Eifer propagiert werden.

Der radikale Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) sah es so: Die Säkularisierung der Neuzeit sei nur ein oberflächlicher Transfer von traditionellen theologischen Konzepten in moderne politische Postulate. Was als provokative These formuliert war, wickelt sich nun vor unseren Augen ab. Das Sehnen nach einer ganzen Gerechtigkeit ist dem Menschen der Gegenwart geblieben, anstatt Gott ist nun der Staat dafür verantwortlich. Das Wissen um Sünde und Schuld ist nach wie vor da, doch nicht mehr Handlugen gegen Gottes Gebote, sondern Worte und Taten gegen die Mehrheitsmeinung gelten als Sünden. Das Ringen um Vergebung der Schuld und um Sühne ist keineswegs verschwunden. Es ist Wiedergutmachung der Untaten früherer Generationen gefragt. Dem dient die Willkommenskultur, die die zunehmenden Völkerwanderungen bejubelt. Jederzeit beruhigend sind CO2-Zertifikate, die das Leben im Wohlstand mit einem guten Gewissen ermöglichen.

Die Rettung der Welt
Geblieben ist die Suche nach der unteilbaren und objektiven Wahrheit. Dafür zuständig sind nun die Wissenschaft und das Empfinden der Mehrheit. Aber die Sehnsucht nach göttlicher Führung bleibt gefragt. Im alten Christenglauben bat man den Heiligen Geist darum, heute müssen die «innere Stimme» und die eigene Authentizität diese Lücke füllen. Die Rettung der Welt und der Menschheit ist mitnichten ein Relikt aus vergangenen religiösen Zeiten, nur fand auch hier ein Rollentausch statt. Die Menschheit ist nun der stolze Akteur dieser Weltrettung, denn ohne uns gingen Welt und Natur unter. Warum die Welt vor dem Auftreten des Menschen nicht unterging, ist dabei nicht relevant.

Das ist aber noch lange nicht alles. Der tief in der Bibel verankerte Zuspruch einer uns von Gott geschenkten Würde, prägte unser Menschenbild nachhaltig. Theologen bezeichnen sie als «dignitas aliena», was bedeutet: Auch entgegen all unserer sichtbaren Schwächen verfügen wir über eine davon unabhängige Würde als Menschen. Die postmoderne Identitätspolitik nimmt diese Wurzel des abendländischen Menschenbildes und stellt sie auf den Kopf. Der Geber dieser Würde ist das momentane Empfinden des Menschen, der Vollstrecker dieser Guttat ist die politische Korrektheit. Jetzt dürfen wir unsere subjektiv empfundene Identität als Wahrheit präsentieren, die die Mitmenschen zu würdigen haben.

Nur etwas steht noch aus: Die Hoffnung auf ein ewiges Leben, auf die Auferstehung der Toten am Ende der Zeit. Darauf hat die Postmoderne noch keinen Erbanspruch angemeldet. Oder etwa doch? Wie steht es mit der sich rasant entwickelnden Künstlichen Intelligenz? Wird sie diese letzte Lücke füllen müssen, vor der das moderne Leben bislang ratlos stand? Werden wir damit auch die Ewigkeit ins Korsett des Irdischen hineinzuzwängen versuchen? Der Enthusiasmus, mit dem diese Forschung betrieben wird, lässt vermuten, dass es um mehr geht als bloss um eine neue technologische Errungenschaft.

Die Postmoderne als schludrige Kopie
Dem skeptischen Betrachter dieses grossen Tausches stellt sich die Frage: Wird hier das grossartige Original durch eine zweitklassige Kopie ersetzt? Ist man daran, das Ewige durch eine schludrige Abschrift ins Zeitliche zu transferieren? Ich muss unweigerlich an das Märchen vom «Hans im Glück» denken: Zuerst nannte er einen Klumpen Gold sein Eigen. Durch ständigen Umtausch waren es am Schluss nur noch zwei Steine. Und die verlor er, als sie ihm versehentlich in den Brunnen fielen.

Der frühere deutsche Aussenminister Joschka Fischer soll während einer politischen Krise gesagt haben: «Nun müsste man vor-modern glauben können!» Es fühlte sich für ihn an, wie der wehmütige Blick auf das Abendrot, das davon zeugte, dass uns einst die leuchtende Sonne schien. Wird unsere hektische Zeit diese Sehnsucht nochmals zulassen? Wird sie nochmals innehalten und sich gewahr werden, was sie verloren hat, als sie den alten Christenglauben auf die Müllhalde der Geschichte legte? Diese Grabräuberei hat uns alle ärmer, kleiner und seelenloser gemacht. Der, den man im Grab wähnte, ist nicht tot. Und jenen, die beim Original bleiben, gehört die Zukunft.

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  • user
    Daniel Ric 03.05.2023 um 06:44
    Uns ist nicht bewusst, wie stark die Moderne vom Christentum zehrt und es verunstaltet. Der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt hat darauf hingewiesen, dass unsere politischen Begriffe säkularisierte Begriffe aus der Theologie sind. Beispielsweise ist die Vorstellung von einem Volkswillen, der durch die Demokratie zum Ausdruck kommt (oder kommen sollte), ein Produkt voluntaristischer Ideen aus der Theologie, die Gottes Willen nicht mehr an die Vernunft binden. Der deutsche Ökonom Alexander Rüstow zeigte hingegen auf, wie unsere ökonomischen Ideen ebenfalls säkularisierten theologischen Konzepten zugrunde liegen. Die klassischen Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts haben die Vorstellung einer göttlichen Ordnung auf die Marktwirtschaft übertragen, in der das Streben nach Eigennutz die Wohlfahrt aller Menschen fördert. Um unsere heutige Gesellschaft zu verstehen, ist es wichtig nachzuvollziehen, inwiefern wir Sklaven von pervertierten christlichen Idealen sind. Wie es Willi Honegger im Artikel richtig schreibt, geben wir uns mit einer billigen Kopie ab, die im Alltag nichts dient. Christus ist unser Weg und das ewige Leben unser Ziel. Die Kultur, die dadurch entsteht, ist eine blühende - auch im Diesseits. Die Abkehr davon schafft eine Gesellschaft, die Nietzsche als diejenige des "letzten Menschen" beschrieben hat. Eine kleinliche, ängstliche und jede Freude und jedes Leid scheuende Zivilisation, in welcher der Mensch mehr dahinvegetiert als wirklich zu leben.