Dieser Beitrag von Willi Honegger erschien zuerst auf nebelspalter.ch
Dieses Mal in den Ferien sah ich jedoch überall Spaziergänger mit einem Mundschutz in Händen – jederzeit bereit ihn anzuziehen. Vielleicht waren sie der Meinung, sie führten damit die Tradition ihrer Väter und Grossväter weiter – anstelle der Beschäftigung mit dem ewigen Heil nun ihre praktische Vorsorge für das zeitliche Heil. Eine auffällige Veränderung hat sich auf unserem Kontinent vollzogen. Ein grosser Tausch von der ewigen zur zeitlichen Nahrung. Von der Hingabe ans Grosse, ans Göttliche, zur Hingabe ans Kleine, ans Zeitliche.
Vom Gott zum Staat
Die Postmoderne hat mit dem religiösen Zeitalter abgeschlossen und beansprucht dessen Erbe für sich. Aber sie befindet sich in einem massiven Erbstreit mit der grossen Tradition des christlichen Abendlandes. Ihrer Ansicht nach ist das Christentum an Schwäche verstorben. Und sie macht sich daran, die ihm beigelegten Grabschätze zu plündern. Darum weisen die Dogmen der Postmoderne derart religiöse Züge auf, die mit missionarischem Eifer propagiert werden.
Der radikale Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) sah es so: Die Säkularisierung der Neuzeit sei nur ein oberflächlicher Transfer von traditionellen theologischen Konzepten in moderne politische Postulate. Was als provokative These formuliert war, wickelt sich nun vor unseren Augen ab. Das Sehnen nach einer ganzen Gerechtigkeit ist dem Menschen der Gegenwart geblieben, anstatt Gott ist nun der Staat dafür verantwortlich. Das Wissen um Sünde und Schuld ist nach wie vor da, doch nicht mehr Handlugen gegen Gottes Gebote, sondern Worte und Taten gegen die Mehrheitsmeinung gelten als Sünden. Das Ringen um Vergebung der Schuld und um Sühne ist keineswegs verschwunden. Es ist Wiedergutmachung der Untaten früherer Generationen gefragt. Dem dient die Willkommenskultur, die die zunehmenden Völkerwanderungen bejubelt. Jederzeit beruhigend sind CO2-Zertifikate, die das Leben im Wohlstand mit einem guten Gewissen ermöglichen.
Die Rettung der Welt
Geblieben ist die Suche nach der unteilbaren und objektiven Wahrheit. Dafür zuständig sind nun die Wissenschaft und das Empfinden der Mehrheit. Aber die Sehnsucht nach göttlicher Führung bleibt gefragt. Im alten Christenglauben bat man den Heiligen Geist darum, heute müssen die «innere Stimme» und die eigene Authentizität diese Lücke füllen. Die Rettung der Welt und der Menschheit ist mitnichten ein Relikt aus vergangenen religiösen Zeiten, nur fand auch hier ein Rollentausch statt. Die Menschheit ist nun der stolze Akteur dieser Weltrettung, denn ohne uns gingen Welt und Natur unter. Warum die Welt vor dem Auftreten des Menschen nicht unterging, ist dabei nicht relevant.
Das ist aber noch lange nicht alles. Der tief in der Bibel verankerte Zuspruch einer uns von Gott geschenkten Würde, prägte unser Menschenbild nachhaltig. Theologen bezeichnen sie als «dignitas aliena», was bedeutet: Auch entgegen all unserer sichtbaren Schwächen verfügen wir über eine davon unabhängige Würde als Menschen. Die postmoderne Identitätspolitik nimmt diese Wurzel des abendländischen Menschenbildes und stellt sie auf den Kopf. Der Geber dieser Würde ist das momentane Empfinden des Menschen, der Vollstrecker dieser Guttat ist die politische Korrektheit. Jetzt dürfen wir unsere subjektiv empfundene Identität als Wahrheit präsentieren, die die Mitmenschen zu würdigen haben.
Nur etwas steht noch aus: Die Hoffnung auf ein ewiges Leben, auf die Auferstehung der Toten am Ende der Zeit. Darauf hat die Postmoderne noch keinen Erbanspruch angemeldet. Oder etwa doch? Wie steht es mit der sich rasant entwickelnden Künstlichen Intelligenz? Wird sie diese letzte Lücke füllen müssen, vor der das moderne Leben bislang ratlos stand? Werden wir damit auch die Ewigkeit ins Korsett des Irdischen hineinzuzwängen versuchen? Der Enthusiasmus, mit dem diese Forschung betrieben wird, lässt vermuten, dass es um mehr geht als bloss um eine neue technologische Errungenschaft.
Die Postmoderne als schludrige Kopie
Dem skeptischen Betrachter dieses grossen Tausches stellt sich die Frage: Wird hier das grossartige Original durch eine zweitklassige Kopie ersetzt? Ist man daran, das Ewige durch eine schludrige Abschrift ins Zeitliche zu transferieren? Ich muss unweigerlich an das Märchen vom «Hans im Glück» denken: Zuerst nannte er einen Klumpen Gold sein Eigen. Durch ständigen Umtausch waren es am Schluss nur noch zwei Steine. Und die verlor er, als sie ihm versehentlich in den Brunnen fielen.
Der frühere deutsche Aussenminister Joschka Fischer soll während einer politischen Krise gesagt haben: «Nun müsste man vor-modern glauben können!» Es fühlte sich für ihn an, wie der wehmütige Blick auf das Abendrot, das davon zeugte, dass uns einst die leuchtende Sonne schien. Wird unsere hektische Zeit diese Sehnsucht nochmals zulassen? Wird sie nochmals innehalten und sich gewahr werden, was sie verloren hat, als sie den alten Christenglauben auf die Müllhalde der Geschichte legte? Diese Grabräuberei hat uns alle ärmer, kleiner und seelenloser gemacht. Der, den man im Grab wähnte, ist nicht tot. Und jenen, die beim Original bleiben, gehört die Zukunft.
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