Innerhalb weniger Tagen verliessen rund 150 000 Menschen ihre Heimat Berg-Karabach. (Bild: Mil.ru, CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Interview

«Die Rus­sen haben die Aggres­sion unterstützt»

Arme­nien sei von Mos­kau belo­gen und ver­ra­ten wor­den, sagt der armenisch-​apostolische Bischof Tiran Petro­syan im «Tagespost»-Interview. Die Kir­che sieht er als Hort der arme­ni­schen Identität.

Dieser Beitrag erschien zuerst in «Die Tagespost»

Mit Jahresbeginn wurde die Republik Arzach (Berg-Karabach) offiziell aufgelöst, nachdem sie zuvor erobert wurde und kapitulieren musste. Haben Sie eine Erklärung, warum die Weltöffentlichkeit die blutige Eroberung und Vertreibung der Armenier aus ihren traditionellen Siedlungsgebieten nahezu ohne Protest akzeptierte?
Für mich und für Millionen Armenier ist das wirklich die Frage der Fragen: warum die Welt so stumm war und ist. Es gab fast keine Reaktion der Weltgemeinschaft. In den vergangenen zwei Jahren sahen wir im Ukrainekonflikt, wie die Weltgemeinschaft einig war gegen den Aggressor Russland. Es ist schön, dass die Welt sich vereint hat, um die Werte der Demokratie zu verteidigen. Aber warum gilt dies nur in der Ukraine, nicht für die Armenier?

Vielleicht weil es hier keine geostrategischen Interessen gibt?
Wozu brauchen wir dann den UN-Sicherheitsrat und die OSZE? Es ist scheinheilig, im Namen der Weltgemeinschaft zu sprechen, aber nichts zu unternehmen und die Ermordung so vieler Menschen nicht zu verhindern.

Ist das, was im Vorjahr in Berg-Karabach geschah, ein weiterer Genozid des armenischen Volkes?
Natürlich ist das ein Genozid! Wenn Menschen gezwungen werden, ihr eigenes Land zu verlassen, wenn sie in ihrer Heimat nicht in Sicherheit leben können, dann ist das ein Genozid. Denn es geht nicht um ein paar Familien, sondern um die Gesamtbevölkerung. Niemand hat Arzach freiwillig verlassen. Das waren ethnische Säuberungen!

Zumal die Armenier in Berg-Karabach den Soldaten Aserbaidschans Widerstand leisteten. Aber sie hatten keine Chance und mussten kapitulieren.
Ja, es war eine Kapitulation. 2000 armenische Soldaten hatten keine Chance gegen die aserbaidschanische Armee, die von der Türkei und auch von Israel aufgerüstet worden war.

Arzach bekam keine Hilfe aus dem Westen, aber auch Russland, das lange als Schutzmacht der Armenier betrachtet wurde und Friedenstruppen in der Region hat, hat die Armenier jetzt im Stich gelassen.
Die Worte «Schutzmacht» und «Russland» passen für uns nicht mehr zusammen. Armenien war gezwungen, auf militärischer und politischer Ebene mit Russland zusammenzuarbeiten. 25 Jahre lang wurde uns gesagt, dass die Kooperation mit Russland auch Sicherheitsgarantien für Berg-Karabach bieten würde. Aber das war eine Lüge! Jetzt wurden die Menschen, die dort wohnten, mit Russlands Hilfe deportiert. Ich sprach mit Augenzeugen, die das gesehen und bestätigt haben. Die russischen Truppen haben sogar die Strassen gesperrt, damit keine Hilfe nach Berg-Karabach kommen konnte.

Nach dem Krieg von 2020 hatte Russland jedoch Truppen in Armenien und Berg-Karabach stationiert und den Waffenstillstand vermittelt.
Ja, die Russen haben Truppen in der Region, um den Schutz der Menschen zu gewährleisten. Aber sie haben niemanden geschützt, sondern die Aggression unterstützt. Moskau profitiert davon, dass es Armenien im Stich lässt. Russland ist heute international isoliert, hat aber viele Rohstoffe, die es auf den Markt bringen will. Dazu braucht es Partner: Aserbaidschan und die Türkei. Sie sind heute engste Partner und Verbündete.

Geht es dabei nur um den Export von russischem Gas und Öl über den Umweg Aserbaidschan und Türkei?
Es geht nicht nur um Gas und Erdöl, sondern auch um Waffen.

Der armenische Ministerpräsident hat vor wenigen Wochen erklärt, man möchte sich in Zukunft stärker an die USA und an Frankreich anlehnen. Kann das Armenien Schutz bringen?
Warum nicht? Die territoriale Entfernung ist heute kein Problem. Die Amerikaner garantieren auch die Sicherheit des Kosovo. Und es funktioniert.

Die russische Führung warf der armenischen Regierung vor, sie hätte Berg-Karabach für den Frieden mit Baku verkauft, also Land für Frieden getauscht. Ist da etwas dran oder ist das reine Propaganda?
Das ist eine weitere Lüge und Propaganda. Die Armenier waren in Berg-Karabach keine Touristen, sondern haben diese Region mehr als drei Jahrtausende besiedelt. Im 20. Jahrhundert wurde ihr Land von den Bolschewiken an Aserbaidschan verschenkt. Nach dem Ende des Kommunismus haben die Armenier diese Territorien befreit – und das hat viele Leben gekostet. Wie kann eine Regierung das verkaufen? Das ist reine Propaganda! Die Russen wollen ihre eigenen Fehler nicht sehen, darum sollen andere schuld sein. Aber sie sind die Hauptverantwortlichen.

Die Bedeutung dieser Region für die armenische Identität ist nicht allen bewusst. Auch im Westen waren viele Kommentare zu lesen, die meinten, völkerrechtlich gehöre Berg-Karabach ja zu Aserbaidschan.
Das Burgenland gehört völkerrechtlich zu Österreich. Aber dürfen die Österreicher dort einen Genozid an den Ungarn und Kroaten durchführen? Um solche Massaker zu verhindern, haben die Armenier sich entschlossen, dort eine eigene Republik auszurufen.

Woher rührt der Hass des Regimes in Baku auf die Armenier?
Die Armenier leben in der Region seit mindestens 3000 Jahren. Sie haben eine eigene Kultur, Geschichte und Sprache. Die Republik Aserbaidschan existiert erst seit 1918; davor gab es kein Land mit diesem Namen. Dieses Land haben die Kommunisten mit dem Ziel errichtet, es später mit dem Norden des Iran zu vereinen. Und jetzt wollen sie sich alles, was armenisch, georgisch oder kaukasisch ist, aneignen. 1915 nannte man die Sprache von Aserbaidschan noch Tatarisch. Diese kaukasischen Tataren sind mit der Hilfe der Kommunisten zu Aserbaidschanern geworden. Jetzt behaupten sie, dass Jerewan eine alte aserbaidschanische Stadt sei, aber Jerewan ist älter als Rom!

Das alte Königreich Armenien war ja viel grösser. Es grenzte an drei Meere, an das Kaspische Meer, das Schwarze Meer und das Mittelmeer.
Das stimmt. Darum finden sich in diesem Raum Zeugnisse armenischer Identität, etwa Klöster aus dem 4. Jahrhundert, viele Kirchen und alte Friedhöfe. Nun wird unser religiöses Kulturerbe in Berg-Karabach und die Erinnerung an diese Identität vernichtet. Aserbaidschan möchte die armenische Identität dort zerstören. Es geht nicht um Steine, es geht um die armenische Identität. Wie zuvor in der Exklave Nachitschewan: Auch sie war ein Geschenk der Kommunisten an Aserbaidschan. Auch hier wurden die Armenier vertrieben.

Hat dieser Krieg gegen die armenische Identität eine religiöse Komponente oder ist das rein ethnisch?
Das ist rein ethnisch. Zwar versuchte Aserbaidschan in 30 Jahren immer wieder, dem Konflikt religiöse Akzente zu geben und Mitglieder der Islamischen Liga zu überzeugen, dass es ein Konflikt zwischen Islam und Christentum sei, aber das ist falsch. Armenier leben auch in islamischen Ländern wie Iran, Syrien und Ägypten, wo sie keine Schwierigkeiten mit anderen Religionen haben. Was geschieht, hat mit Religion nichts zu tun. Das ist eine ethnische Säuberung, die Fortsetzung des armenischen Genozids im 20. Jahrhundert.

Müssen wir mit einem neuen Angriff Aserbaidschans auf Armenien rechnen?
Baku möchte ja einen souveränen Korridor quer durch Armenien nach Nachitschewan. Ich denke, die Situation ist jetzt anders, weil es Verhandlungen der EU mit Armenien und Aserbaidschan gab. Europa musste sehen, dass Aserbaidschan alle Beteiligten angelogen hat. Sie haben ignoriert, was sie versprochen und unterzeichnet haben. Jetzt gibt es Sanktionen. Wenn es die Sanktionen und Drohungen seitens EU und USA nicht gäbe, wäre der Korridor durch Armenien bereits verwirklicht. Für die Türkei ist Armenien das einzige Hindernis auf dem Weg, ein Imperium vom Mittelmeer bis zur Mongolei zu errichten. Nur wegen Armenien können die Turkvölker nicht uneingeschränkt kommunizieren. Armenien liegt mitten drin, aber dieser Korridor würde bedeuten, dass alle Turkvölker miteinander verbunden wären.

Hat die EU also Gewicht in der Region?
Sie hat ein Gewicht und Beobachter an der Grenze zu Aserbaidschan. Das ist keine Garantie, aber eine Möglichkeit, Sicherheit in der Region und besonders an der Grenze zu gewährleisten. Die EU sollte eigene Truppen schicken, neutrale Truppen zwischen Armenien und Aserbaidschan.

Käme es zu dem von Baku und Ankara gewünschten souveränen Korridor quer durch Armenien, dann würde Armenien in zwei Teile zerschnitten.
Zudem würde unsere Verbindung mit dem Iran abgeschnitten. Armeniens Grenzen zur Türkei und zu Aserbaidschan sind ja geschlossen. Wir haben nur zwei offene Grenzen: mit Georgien und mit dem Iran. Armenien droht dann die Isolation.

Wie ist die humanitäre Situation der rund 150 000 Armenier aus Berg-Karabach, die jetzt in Armenien leben?
Das ist eine grosse Herausforderung für einen Kleinstaat wie Armenien mit knapp drei Millionen Einwohnern. Aber keiner ist auf der Strasse geblieben, alle werden beherbergt. Die Kirche hat viele Projekte zur Integration, auch soziale und psychotherapeutische. Diese Vertriebenen brauchen auch eine geistliche Betreuung. Ich bin nicht sicher, dass diese 150 000 Menschen zurückkehren möchten, weil sie binnen 30 Jahren drei blutige Kriege erlebten. Ohne Sicherheitsgarantien wird niemand heimkehren. Solche Garantien müssten nicht von Baku gewährleistet werden, sondern international oder durch Grossmächte wie die USA und Frankreich. Emigration ist die schlimmste Variante. Das Ideal wäre, dass sie zurückkehren können zu ihren Häusern, Friedhöfen, Kirchen und Klöstern.

Die Kontinuität der armenischen Identität wurde historisch nicht durch Staatlichkeit, sondern nur in der Kirche gewährleistet. Ist die Kirche so etwas wie der Hort der armenischen Kultur und Identität?
Das Konzentrat des Armeniertums kann man in der Kirche finden, weil wir in unserer Geschichte viele Jahrhunderte hindurch keine Staatlichkeit hatten. Die Kirche hat als institutionelle Erbin das Armeniertum entwickelt und tradiert, hat die Traditionen gepflegt. Die nationale Tradition ist konzentriert in der Kirche, die ein Gedächtnis des Armenisch-Seins ist. Auch in der Diaspora bewahrt die Kirche die eigene Kultur. Das Christentum und die armenische Kirche gehören zur nationalen Identität der Armenier.

Originalbeitrag in «Die Tagespost»


Die Tagespost


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